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Titel: Bolivien – Der Rohstoff-Kapitalismus des Evo Morales und der Aufstieg der Ausgestoßenen

Datum: 21. Oktober 2017 um 11:00 Uhr
Rubrik: Demokratie, Länderberichte, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Südamerika hängt wirtschaftlich im Schlepptau, doch Bolivien boomt. In den zwölf Jahren der Regierung Evo Morales wurde der Energiesektor in kluger und effizienter Weise nationalisiert, der Gewinnanteil des Staates an der Erdöl- und Gasförderung von 16,8 Prozent auf 50 bis 82 Prozent erhöht und die extreme Armut mit daraus finanzierten, sozialen Umverteilungsprogrammen von 38,2 Prozent auf 16,8 Prozent gesenkt. Von Frederico Füllgraf.

Mit nachhaltigem Wirtschaftswachstum, das die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) für 2017 mit 4,0 Prozent prognostiziert, gehört Bolivien mit kleineren Karibik-Staaten wie Panamá (5,6 Prozent) und der Dominikanischen Republik (5,3 Prozent) zu den Spitzenreitern des Bruttoinlandsprodukts („Cepal ratifica un crecimiento económico del 4% para Bolivia en 2017“ – Los Tiempos, 03.08.2017), was sich äußerst positiv auf die Beschäftigungslage auswirkte, denn mit 4,1 Prozent erzielte das Andenland auch die niedrigste Arbeitslosenquote Lateinamerikas.

Zusammengenommen nicht wenig für ein Land, in dem die soziale Ungleichheit zwischen den superreichen 10 Prozent und den „übrigen“ 90 Prozent der Bevölkerung seit dem Amtsantritt Morales´ vom 128-fachen auf das zwar nach wie vor ungerechte, doch erstaunliche 37-fache Mehreinkommen abgebaut wurde.

Verbalradikal wie Hugo Chávez, doch in der Ökonomie ein Pragmatiker wie der brasilianische Ex-Präsident Luis Inácio Lula da Silva, zelebriert Evo Morales Ayma, bolivianischer Staatschef seit Januar 2006, den Erfolg seines „extraktiven Kapitalismus“, wenngleich in riskanter Abhängigkeit von der Preisachterbahn der internationalen Rohstoffbörsen.

Ferner überraschte der ehemalige Gewerkschaftsführer der Coca-Bauern seine Landsleute mit einem nicht weniger relevanten Rekord: die politische Stabilität, ein Phänomen mit Seltenheitswert in Bolivien.

Von 1825 bis 2005 wurde das Land von 83 Präsidenten mit einer durchschnittlichen Amtszeit von maximal zwei Jahren regiert, von denen die meisten durch Staatsstreiche verjagt wurden. Morales und seine Partei „Bewegung für den Sozialismus“ (MAS) belebten jedoch auch die Demokratie mit 47 Volksabstimmungen in weniger als 12 Regierungsjahren; eine in der Geschichte der Anden-Republik nie zuvor erlebte, direkte politische Mitsprache und Mitwirkung ihrer Bürger.

Auf den Punkt gebracht: Während der Amtszeit Evo Morales´ findet eine Art Neugründung der Republik Bolivien statt, die sich seit der 2009 angenommenen, neuen Verfassung „Plurinationaler Staat Bolivien“ nennt.

Indigenes „empowerment“

Am 18. Dezember 2005 wurde der politische Aktivist und ehemalige Gewerkschaftsführer der Coca-Bauern Boliviens, Evo Morales Ayma, mit 53,7 Prozent gegen 28,6 Prozent der Stimmen seines Herausforderers Jorge Quiroga zum ersten Mal in der 200-jährigen Geschichte der Republik Boliviens als Vertreter der indigenen Mehrheit zum Staatspräsidenten gewählt. Am 21. Januar 2006 war er in der mythologischen Aymara-Hauptstadt Tiwanaku während einer Zeremonie führender Aymara-Priester mit dem Ehrentitel Jacha Mallku (Großer Condor) zur höchsten Führungspersönlichkeit der indigenen Völker vereidigt worden.

Als er am Tag darauf in La Paz seine Antrittsansprache hält, ruft er zu einer Schweigeminute für die „Märtyrer der Befreiung” auf. Was als pathetische Überziehung missverstanden werden konnte, offenbarte sich rasch als Schlüsselbegriff seines Mandats: das Konzept der „Entkolonialisierung”.

„…Wir sind hier, um unsere Geschichte zu ändern, die indigene Bewegung ist kein Zugeständnis von irgendjemandem. Niemand hat sie uns geschenkt, sie ist das Bewusstsein unseres Volkes“, betont er bei dieser Gelegenheit.

Folgerichtig gelingt es der Parlamentsmehrheit, angeführt von Morales´ Partei „Bewegung für den Sozialismus“ (MAS), nach der massiven Zustimmung durch ein Referendum 2009 eine neue Verfassung zu verabschieden. Artikel 9 der neuen Charta greift den Entkolonialisierungsbegriff auf und fordert die Gründung einer Gesellschaft „ohne Diskriminierung oder Ausbeutung, mit vollkommener sozialer Gerechtigkeit und der Festigung plurinationaler Identitäten“.

Der Verfassungstext erhebt den Anspruch der indigenen Mehrheit, das Land als Staat der
sozialen Einheit und des pluralen Gemeinschaftsrechts „wiederzuentdecken“ und neu zu gründen. Morales und die neue Verfassung sprachen den 60 Prozent der Bolivianer indigener Identität aus dem Herzen und sie sicherten ihm massive Unterstützung. Im Jahr 2008 hatte er das Abberufungsreferendum gewonnen, dem 2009 und 2014 seine Wiederwahl zum Präsidenten mit annähernd 60 Prozent der Stimmen folgte.

El Alto – Sozialer Aufstieg und „Aymara-Bourgeoisie“

Hochburg der Morales-Anhängerschaft ist die über der administrativen Hauptstadt La Paz auf 4.000 Metern über dem Meeresspiegel ragende Trabantensiedlung El Alto, die hunderttausenden vom Anden-Hochland zugewanderten Aymaras als Schlafstadt diente.

Mit knapp einer Milllion Einwohnern ist El Alto seit Mai 2014 mit La Paz durch ein umweltfreundliches Seilbahn-System der österreichisch-schweizerischen Gruppe Doppelmayr verbunden, was als „Begegnung zweier Welten“ bezeichnet wird, nämlich zwischen den ehemaligen, indigenen Underdogs und den glitzernden Wohnbezirken der wohlhabenden, weißen Upperclass und ihren Einkaufszentren.

Nicht nur hatte die Seilbahn eine beachtliche Entlastung des nahezu kollabierenden Busverkehrs zur Folge, sie kann auch als Parabel des sozialen Wandels und als Emblem des neuen Aymara-Bewusstseins gedeutet werden. Zum Fahrpreis von umgerechnet 35 Cent für 75.000 Fahrgäste pro Linie und Tag befördern die fünf Seilbahnlinien seitdem 2,7 Millionen Fahrgäste im Jahr, von denen in El Alto 85 Prozent keinen eigenen PKW besitzen.

Bekannt für seinen Volksmarkt formierte sich in El Alto in den vergangenen Jahren eine sogenannte „neue Wirtschaftselite”. Nico Tassi, in Großbritannien ausgebildeter Sozialethnologe und Aymara-Experte, erklärt das Neureichen-Phänomen mit dem Auftritt „von Volksgruppen, die sich innerhalb des globalen kapitalistischen Kreislaufs unter persönlichem Einsatz an einer Ökonomie beteiligen, aus der sie historisch ausgeschlossen waren”.

Der persönliche Einsatz hängt jedoch sehr davon ab, wie die Akteure untereinander agieren. So werden beispielsweise Manager der größten Banken des Landes als Gäste zu einschlägigen Aymara-Feierlichkeiten eingeladen, womit „Bruderschaften“ oder kumpelhafte Bindungen hergestellt werden, die allerdings kaum etwas mit der traditionellen Beziehung zwischen Kunden und Lieferanten zu tun haben.

Erwiesen ist andererseits, dass der Massenimport von chinesischer Billigware wohl ein entscheidender Hebel für den Aufstieg der indigenen Wirtschaftselite war, die sich in El Alto mit dem neuen Aymara-Baustil des Stararchitekten Freddy Mamani ästhetische Eigendenkmäler setzt.

In La Paz ist die „Aymara-Bourgeoisie“ nicht nur an den als „Cholets” genannten, farbenfrohen Bauten mit einheimischen Motiven, sondern auch am boomenden PKW-Handelsmarkt, der rasanten Akquirierung von Luxuswohnungen in teuren Stadtvierteln und an der stetigen Erweiterung ihrer Handelsketten erkennbar, die für Schlagzeilen in internationalen Medien sorgte.

In seiner Studie mit dem Titel „Kohle ohne Kohle erzeugen” weist Tassi darauf hin, dass sich die Bankeinlagen der Aymara-Elite zwischen 2004 und 2012 von 2,5 Milliarden Dollar auf rund 10 Milliarden Dollar vervierfacht haben, während im gleichen Zeitraum ihr Kreditportfolio von 2,4 Milliarden Dollar auf 7,6 Milliarden Dollar anstieg (PDF).

Das Dilma-Rousseff-Syndrom oder wie lange hält das Klassenbündnis?

„Affe!”, „Möchtegern-Diktator!” und „Seine Exzellenz, der Mörder“”.
Mit rassistischen und diffamierenden Beschimpfungen wie diesen wurde Präsident Evo Morales noch vor einem Jahrzehnt in Santa Cruz, der landwirtschaftlichen Hochburg und Hauptstadt des Oriente genannten östlichen Landesteils, bezeichnet.

Bis vor wenigen Jahren vermieden auch Aymaras und Quechuas, die Kern-Ethnien Boliviens, die Plaza de Armas, den Hauptplatz von Santa Cruz, mit ihrer bunten Trachtenkleidung zu passieren. Es war nicht ungewöhnlich, dass weiße Krawallmacher sie festhielten und ihnen Gewalt antaten. Selbstverständlich waren sie die Gründungsvölker in diesen Breitengraden, jedoch galten sie 500 Jahre lang als die dunkelhäutigen, armen Underdogs.

Gleichwohl trat 2014, nach der zweiten Wiederwahl Morales´, die unvermeidliche Wende ein. In der gleichen Stadt, wo er bis 2005 nicht landen durfte – weil sofort nach Bekanntwerden, dass sich das Präsidentenflugzeug Santa Cruz näherte, militante Gruppen der extremen Rechten den Flughafen mit Androhung von Repressalien umstellten – wurde der indianische Präsident plötzlich von einer jubelnden Menschenmenge empfangen.

Unerwartetes Lob erntete Morales nun auch von Julio Roda, Vorsitzender der machtvollen Landwirtschaftskammer Ost-Boliviens (CAO), und vom Bolivianischen Institut für Außenhandel (IBCE). „Obwohl der General (sic!) ein großer, persönlicher Freund war, glaube ich, dass Präsident Evo … und auch Vizepräsident Alvaro Garcia Linera sich für die Landwirte stark eingesetzt haben“, erklärte Roda und würdigte die spektakulären Gewinne der Viehzüchter und Soja-Exporteure dank der Förderung durch die Regierung des indigenen Sozialisten Evo Morales. Immerhin, so Roda, habe der bolivianische Osten 2015 nicht weniger als zwei Millionen Tonnen Getreide für den Gegenwert von einer Milliarde Dollar exportiert und damit 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erwirtschaftet („Productores reconocen que Evo hizo mucho por Santa Cruz“ – El Mundo, 26.06.2016).

Damit man sich ein Bild von der Vergangenheit der weißen Großgrundbesitzer-Oligarchie von Santa Cruz machen kann, der Evo Morales als Staatschef notgedrungen die Hand zum Gruß anbieten muss, sei erklärt, wen Roda mit „General“ und Freund meinte. Es war Diktator Hugo Banzer Suárez, dem aus Santa Cruz stammenden Enkel des Osnabrücker Einwanderers Georg Banzer, der sich als General 1971 an die Macht putschte, sein erstes Präsidentenmandat mit drakonischer Gewaltanwendung bis 1978 ausübte und seine zweite Amtszeit (1997-2001) durch reguläre Wahlen erlangte

Menschenrechts-Organisationen schätzten, dass während Banzers erster Amtsperiode 150 politische Gefangene entführt wurden und für ewig von der Bildfläche verschwanden; allem Anschein nach ermordet wurden. Jahre nach Banzers Tod (2002) wurden in La Paz Folterzellen und menschliche Skelette in den Kellern des späteren Innenministeriums gefunden (Hidden cells reveal Bolivia’s dark past – BBC, 05.03.2009).

Indes macht das Lob Rodas deutlich, dass mit Morales alle gewonnen haben, selbstverständlich auch die alteingesessenen Großgrundbesitzer und die Banken. Dass nun mindestens 60 Prozent der Bolivianer soziale Mobilität und materiellen Aufstieg erfahren und eine neue, sogenannte „Aymara-Bourgeoisie“ die politische, gesellschaftliche und kulturelle Bühne betreten hat, ist dieser mit allen vorangegangenen Militärdiktaturen verbündeten Oligarchie allerdings ein Dorn im Auge.

Am 26. Oktober 2019 ist die nächste Präsidentschaftswahl fällig. Am Tag darauf soll Evo Morales seinen Stuhl räumen und für ewig seinen Hut nehmen. So wünschen es Santa Cruz und die konservative weiße Minderheit im Lande und hecken bereits zwei Jahre davor aus, wie eine vierte Amtszeit des Mannes verhindert werden kann, der Bolivien ein neues Gesicht gab.

Anfang 2016 erlitt Evo Morales allerdings um Haaresbreite eine Niederlage im Referendum über die von ihm beanspruchte dritte Wiederaufstellung zur Präsidentschaftswahl. Da das Oberste Verfassungsgericht den Volksentscheid nachträglich außer Kraft setzte, sieht sich der Präsident auch mit erheblicher Gegnerschaft in den eigenen Reihen konfrontiert. Verbündete warnen davor, Morales könne vom sogenannten Dilma-Rousseff-Syndrom, nämlich der einseitigen Aufkündigung des bestehenden Klassenbündnisses, eingeholt werden.

Nach der politischen Quarantäne des Wirtschaftswachstums zwischen 2004 und 2010 und der Abfederung der sozialen Kämpfe verlor ein ähnlicher, von Präsident Luis Inácio Lula da Silva mit den herrschenden Klassen in Brasilien ausgehandelter und von seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff weitergeführter Pakt Ende 2014 seine Daseinsberechtigung und gipfelte Mitte August 2016 im parlamentarischen Putsch gegen die Staatschefin.

Sobald Engpässe den Win-Win-Effekt schmälern, reagieren die konservativen politischen Blöcke mit der Androhung von Repressalien und „befehlen“ progressiven Regierungen, keine Überschüsse mehr zu verteilen.

Auch wenn der seit 2015 anhaltende 22,8-prozentige Rückgang der bolivianischen Deviseneinahmen erwiesenermaßen vom generellen, weltweiten Preiseinbruch der Handelswaren bewirkt wurde, könnte die traditionelle, rechtsgerichtete Elite dies und Morales´ Anspruch auf eine vierte Amtsperiode zum Anlass für eine Destabilisierungskampagne nehmen, um sich vorzeitig vom ersten, erfolgreichen indigenen Präsidenten zu entledigen.


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