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Titel: Warum die Russen Putin respektieren: Weil beim Vorgänger Jelzin die Lebenserwartung von 70 auf 60 Jahre sank

Datum: 22. November 2017 um 13:11 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Demografische Entwicklung, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Länderberichte
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Die nachfolgende Analyse von Günter Baigger beschreibt den drastischen Rückgang der Lebenserwartung in Russland unter Putins neoliberal geprägtem Vorgänger Boris Jelzin nach dem Zusammenbruch der UdSSR. Jelzin wurde von einer ganzen Heerschar vor allem US-amerikanischer Wissenschaftler, Banker und Lobbyisten beraten. Naomi Klein hat diese Vorgänge in Kapitel 12 der „Schock-Strategie“ beschrieben und beleuchtet. Die daraus folgende humanitäre Katastrophe bleibt im Westen weitgehend unerwähnt. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Auch um exaktere Zahlen zu erhalten, ist es an der Zeit, dass sich westliche Institutionen und Medien mit dem Thema befassen. Dies könnte viel zur Erklärung der Stimmung im heutigen Russland beitragen und den Weg zu einem verständnisvolleren Umgang miteinander ebnen. Danke an Günter Baigger für diesen wichtigen Denkanstoß:

G. Baigger
Kriens, 21.11.2017

Bekanntlich wandte sich die Sowjetunion in den Neunziger Jahren vom Kommunismus ab. In dieser Zeit war es auch, dass sich die Sowjetrepubliken vom einstigen Mutterland abspalteten. Die meisten Sowjetrepubliken wurden unter dem Zaren Teil Russlands. In der Sowjetzeit wurden sie zu sogenannten autonomen Republiken erklärt. Nun hatten sie die Gelegenheit, sich von Russland ganz loszusagen.

In Kernland Russland fand in den Neunziger Jahren unter der Präsidentschaft Jelzins eine gewaltige wirtschaftliche Wende statt. Nach dem, was man aus den westlichen Medien über die Länder jenseits des Eisernen Vorhangs erfahren hatte, konnte man erwarten, dass diese Veränderung von einem Grossteil der Bevölkerung herbeigesehnt wurde, und dass diese Veränderung der großen Mehrheit Freiheit sowie große wirtschaftliche materielle Vorteile brachte.

Bereits damals wurde in den Zeitungen aber auch von Missständen berichtet. Überdies gab es den Hinweis, dass die Lebenserwartung nach der Wende in der ehemaligen Sowjetunion von 70 auf 60 Jahre zurückgegangen sei. Dieser Sachverhalt wurde in den allermeisten Darstellungen unkommentiert belassen. Ausnahme ist das amerikanische Heft Lancet, 2009.

Was bedeuten diese Zahlen. Nun zunächst muss man feststellen, dass Werte der Lebenserwartung sich normalerweise äußerst träge verhalten. Selbst Grippeepidemien haben nur geringfügige Auswirkungen auf die Lebenserwartung. In den westlichen Ländern sind die Lebenserwartungen in den letzten Jahren stabil geblieben, mit leicht steigender Tendenz. (Eine Ausnahme bilden die USA. Dort ist die Lebenserwartung gesunken, aber auch nur um relativ kleine Werte.)

Zur Illustration geben ich zwei Beispiele: In den Achtziger Jahren galt in der Lebensversicherungsbranche folgende Faustregel:

  • Die Heilung aller Krebspatienten würde die Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung um knapp ein Jahr anheben.
  • Die Heilung aller Herz- und Kreislauferkrankungen würde die Lebenserwartung der Gesamtbevölkerung um vier Jahre anheben.

Zehn Jahre Veränderung der Lebenserwartung sind demgegenüber eine andere Größenordnung. Einen Anstieg oder Abfall in einer solchen Höhe hat es seit dem Weltkrieg nie mehr gegeben. Es handelt sich um eine demographische Grundwelle, ja um eine humanitäre Katastrophe. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich unvorstellbares individuelles Leid. Denn Voraussetzung eines solchen Rückgangs der Lebenserwartung ist eine sehr große Zahl von zusätzlichen Todesfällen. 1991 betrug die Bevölkerungszahl in der Sowjetunion knapp 290 Millionen Menschen (Quelle Wikipedia). Ein Rückgang der Lebenserwartung um 10 Jahre war nur bei einer ungeheuren Zahl von zusätzlichen Todesfällen möglich. Sie bewegt sich im zweistelligen Millionenbereich. Ich komme darauf zurück. Die genaue Zahl der Todesfälle lässt sich allerdings schwer berechnen, da Todesfälle in unterschiedlichen Altern unterschiedliche Konsequenzen für die Lebenserwartung haben.

Immerhin hat man die Möglichkeit, Weltbank-Statistiken heranzuziehen, welche im Internet veröffentlicht sind.

Eine Analyse dieser Statistiken ergibt für die Todesfälle der Nachwendezeit Folgendes. Vergleicht man die Zahl der eingetretenen Todesfälle mit der Zahl von Todesfällen, welche bei einer durchschnittlichen Sterblichkeit von 2,2% (ein eher vorsichtiger Wert) eingetreten wäre, kommt man für Russland allein auf 136 Millionen verlorene Lebensjahre. Geht man von dem eingangs genannten Wert von einer Senkung der Lebenserwartung um 10 Jahre aus, dann ergeben sich 13.6 Millionen Tote. In Russland lebten vor der Wende aber nur 160 Millionen Einwohner. Hochgerechnet auf die gesamte Sowjetunion ergibt sich daraus eine Todesfallzahl von zwischen zwanzig und dreißig Millionen zusätzlichen Todesfällen. Die Zahl der zusätzlichen Toten erreicht also ein ähnliches Ausmaß wie die Zahl der Toten des zweiten Weltkrieges.

Man darf davon ausgehen, dass damit in dieser Zeit auch eine unglaubliche ökonomische Verarmung weiter Teile der Bevölkerung einherging.

Unter Putin ist die Lebenserwartung wiederum erheblich gestiegen. Und wie auch der Augenschein bei einem Besuch von Russland zeigt, ist wieder ein gewisser Wohlstand eingekehrt. Allein dies ist ein (guter) Grund, dass die Bevölkerung Putin schätzt und hinter ihm steht. Die gängige Hypothese der westlichen Medien lautet: Die Russen lieben halt autokratische Herrscher. Vor dem geschilderten Hintergrund entpuppt sich diese Deutung als realitätsfern.

Die Russen wissen um die Katastrophe der Neunziger Jahre. Mir gegenüber haben sie von dieser Zeit als vom „großen Sterben“ geredet. Ein Mann hat mir erzählt, die Friedhöfe hätten sich in sehr kurzer Zeit gefüllt.

Die Sache hat aber noch einen anderen Aspekt. In den Zwanziger Jahren wurden in der damaligen Sowjetunion die Großbauern enteignet. Das Ganze endete mit einem Desaster. Es gab Millionen Hungertote. Sehen wir in dieser Diskussion davon ab, dass auch der erste Weltkrieg und der darauf folgende Bürgerkrieg diese Hungersnot mitverursacht haben könnte, dann müssen wird dennoch folgende Frage stellen: Waren es damals so viele Tote wie in den Neunziger Jahren? Und, es können zwei Schlussfolgerungen gezogen werden:

  • Für das „überlegene“ Wirtschaftssystem ist es alles andere als ein Ruhmesblatt, wenn der Systemwechsel mit einer derartigen Katastrophe einhergeht.
  • In der heutigen Berichterstattung über Russland und die Sowjetunion wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Enteignung der Kulaken, also die Idee intellektueller Spinner, Schuld war am Tod von Millionen von Menschen. Mit anderen Worten, die Kommunisten sind aufgrund ihrer Ideologie zu millionenfachen Mördern geworden. Wo liegt nun die Verantwortung der neoliberalen Ökonomen, welche Jelzin beraten haben? Das waren ja auch Anhänger einer weltfremden Ideologie. Ist einer von ihnen zur Rechenschaft gezogen worden? Und warum berichten die Medien nicht über die Toten der Wende, der Neunziger Jahre, so wie sie ja auch heute noch über die Toten der Zwanziger Jahre berichten? (Aus der Darstellung von Naomi Klein geht übrigens hervor, dass man nicht nur die Chicago-Boys, sondern auch einige politische Akteure der USA zur Rechenschaft ziehen müsste. Denn die USA haben damals gemäß Naomi Klein Russland eine finanzielle Unterstützung nach Art des Marshall-Plans bewusst verweigert. Wie wäre das strafrechtlich zu würdigen?)

Putin hat Medienberichten zufolge den Zusammenbruch der Sowjetunion als größte Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnet. Der Westen ist darüber entrüstet. Aber vor diesem Hintergrund, hat er nicht ein Stück weit recht?

Gorbatschow hat den CSU-Politiker Gauweiler bezüglich des Wirtschaftsboykotts von Russland gefragt: „Warum tut ihr uns das an“. Soll die Antwort lauten, dass der Westen will, dass Russland ein weiteres Mal von einer Katastrophe heimgesucht wird?

Das allerschlimmste ist: Die Medien ignorieren diese Ereignisse. Ich habe dies selbst beim Schweizer Fernsehen erfahren müssen. Einmal hat man mir gegenüber Zeitmangel angeführt: In einer dreiminütigen Nachrichtensendung kann man nie alle Aspekte unterbringen. Bei einer halbstündigen Reportage über Russland hat man mir auf meine kritische Frage gar nicht geantwortet.

Günter Baigger

PS: In Syrien ist die Lebenserwartung seit Beginn des Syrienkrieges von 70 auf 55 Jahre zurückgegangen. Auch darüber hat noch kein Medium berichtet.


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