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Titel: Lula da Silvas Verhaftung und das schwarze Loch des Tagesschau-Journalismus

Datum: 6. April 2018 um 14:30 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Länderberichte, Medienkritik, Wahlen
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Es ist 10 Uhr abends an diesem verdammten 5. April. Vor dem Sitz und innerhalb der Metallarbeitergewerkschaft São Bernardo do Campos – Standort am Industriegürtel São Paulos der Montageanlagen hunderter deutscher Betriebe wie Volkswagen und Daimler-Benz – versammeln sich tausende Anhänger des Altpräsidenten Luís Inácio Lula da Silva zu einer unbefristeten Mahnwache. Sie folgten dem Aufruf des Gewerkschaftsvorstandes, nachdem mitten am Nachmittag, kaum 12 Stunden nach der, mit einer Stimme, knappen Ablehnung des Habeas-Corpus-Antrags von Lulas Verteidigern durch den Obersten Gerichtshof (STF), Richter Sérgio Moro im 400 Kilometer davon entfernten, südbrasilianischen Curitiba einen Haftbefehl gegen Lula erließ. Um eine erzwungene Abführung in Handschellen zu vermeiden, solle sich der favorisierte Präsidentschaftskandidat freiwillig bis spätestens 17 Uhr des heutigen 6. April der Bundespolizei in Curitiba stellen, wo bereits eine Zelle mit Sonderstatus auf ihn warte. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.

Seit Bekanntgabe der Urteilsbestätigung durch den STF waren tausende Menschen vor die Privatwohnung Lulas geströmt, um ihn vor einer Verhaftung zu schützen, folgten dem Verurteilen jedoch Stunden später zum Sitz der Metallarbeitergewerkschaft. Mehrere Einzelpersonen und Komitees riefen zum Widerstand auf. Lula solle den Haftbefehl ignorieren.

„Ich bin der Meinung, Lula soll sich nicht ergeben. Sich stellen bedeutet, seine Schuld zuzugeben, was hier nicht der Fall sein kann“, argumentierte Senator Lindbergh Farias von der Arbeiterpartei (PT) Rio de Janeiros und provozierte: „Die sollen mal Lula mitten in diesem Meer von Menschen verhaften! Mit Gewalt und internationalen Auswirkungen! Lula hat sich noch nicht entschieden, er wird es morgen tun“.

Ein erheblicher Teil der PT und der mit ihr verbundenen sozialen Bewegungen ist des „wohlerzogenen Republikanismus‘ “ – der nicht enden wollenden christlichen Haltung, die andere Wange zum Schlag hinzuhalten – überdrüssig. Die Partei habe zu lange vielfache Demütigungen untätig hingenommen und im rechtsextremistischen Lager den Eindruck der Feigheit erweckt. Das erkläre die terroristische Offensive gegen Lula und die PT. Die müsse jetzt mit unerschrockener Gegenwehr beantwortet werden.

In einem Video rief der Wirtschaftswissenschaftler und Sprecher der Bewegung der Landlosen (MST), João Pedro Stédile, auch zu Mahnwachen vor den Niederlassungen der Mediengruppe O Globo – „der Mutter des Putsches“ – auf. Das Problem dieser nicht nur verständlichen, sondern legitimen Sicht der Dinge ist, dass im Fall einer Auslieferungsverweigerung Lula und die Linke es mit der schwerbewaffneten Polícia Federal zu tun haben werden.

Sérgio Moros zweite Provokation

„Das 6:5-Ergebnis der Abstimmung (des Obersten Gerichtshofs/STF) gegen Lula wird das Land nicht befrieden, es wird den STF nicht einigen, es wird weder mehr Rechtssicherheit bringen, noch bedeutet es eine Garantie gegen Straflosigkeit“, warnte die angesehene politische Kolumnistin des Jornal do Brasil, Tereza Cruvinel (STF menor, crise maior – Jornal do Brasil, 05. April 2018). Die Rechtsprechung werde sich ändern, doch nur dann, wenn unmittelbar bevorstehende Verhaftungen auch die Mächtigsten bedrohen. Ein Anderer wird den Stuhl der STF-Vorsitzenden Cármen Lúcia besetzen und die deklaratorischen Verfassungsänderungsanträge (ADCs) auf die Tagesordnung setzen. „Doch jetzt war es vorrangigstes Ziel, Lula aus dem Wahlkampf zu entfernen; alles mit dem Vorwand der rechtmäßigen Strafverfolgung; wie bei der Amtsenthebung Dilma Rousseffs“, protestierte Cruvinel.

Die Eile Moros und des zweitinstanzlichen Bundesgerichts TRF4, Lula zu verhaften, ruft jene von dem umstrittenen Richter verordnete Zwangsabführung des ehemaligen Präsidenten vom März 2016 in Erinnerung, samt der damals praktizierten illegalen Abhörung und Weitergabe eines Privatgesprächs der amtierenden Präsidentin Dilma Rousseff mit Lula an TV Globo. Die Handlung des in Abstimmung mit dem US-amerikanischen FBI und dem State Department agierenden, erstinstanzlichen Richters setzt sich auch diesmal über Beschlüsse des Obersten Gerichtshofs (STF) hinweg, der ihn offenbar mehr fürchtet als unter Kontrolle hat.

Moros Vorgehen ist nach geltendem brasilianischen Recht gesetzwidrig. „Richter Marco Aurélio vom STF hat es am Ende der Mittwochsitzung sehr deutlich gemacht und [die Vorsitzende] Carmen Lúcia hat zugestimmt, dass die Verfügung [über Lulas Freiheits-Garantie] bis zur Veröffentlichung des Urteils in Kraft ist, was noch nicht geschehen ist“, erklärte Eugênio Aragão, ehemaliger Vize-Generalstaatsanwalt und Justizminister im Kabinett Dilma Rousseff, zum Haftbefehl gegen Lula.

Noch müsste auf Feststellungsanträge, die von Lulas Verteidigung eingereicht werden können, gewartet werden. Nur danach könne ein Haftbefehl ausgestellt werden. Augenblicklich ist die Ablehnung des Habeas-Corpus-Status Lulas noch nicht rechtskräftig. „Sie haben sich überstürzt und das ist eine Beschwerde beim Obersten Gerichtshof wert”, warnte Aragão.

„Einige Äußerungen, die gestern zum Ausdruck gebracht wurden, vor allem Aussagen, die von unerhörten Mahnungen geprägt sind, die eindeutig das Prinzip der Gewaltenteilung verletzen, erfordern kurze Überlegungen zu dieser Tatsache, auch angesichts der sehr hochgestellten Quelle, der sie entsprangen”, warnte Richter Celso de Mello, ohne den Armeekommandanten Villas Boas namentlich zu erwähnen. Wenn die Zeichen der Trickserei hinter den Kulissen nicht täuschen, setzen Richter Moro, die Militärs und die ihnen wie abgerichtete Jagdhunde hinterherlechzende rechtsextreme Szene um Hauptmann a.D. Jair Bolsonaro auf Eskalierung, mit dem Endergebnis von Blutvergießen und Kriminalisierung der PT.

Wie reagiert die deutsche Tagesschau auf die Ereignisse?

Die Brasilien-Berichterstattung der Tagesschau ist ein exemplarischer Fall für die publizistische Forschung und ergäbe zweifellos quellenreiche Magisterarbeiten und Dissertationen. Mit ein paar wenigen, aktuellen Beispielen sei ihr Versagen angedeutet.

In zwei kurzen Auftritten, einer davon im Studio, versuchte vor wenigen Tagen Matthias Ebert, frisch eingesetzter Korrespondent vom ARD-Studio Rio de Janeiro, die Lage am Ort des Geschehens zu deuten, was ihm nicht ohne weiteres gelingen mochte. Als Tagesschau-Online-Analyst wurde Ebert von Ivo Marusczyk vom ARD-Studio Buenos Aires sekundiert.

Das von Ebert auffällig wiederholte Wort ist „soll“. Und zwar als Hilfsverb, seine Wahrscheinlichkeits-Spirale, letztlich als sein Rettungsring im grellen Lichtermeer der Studiolampen. Seine Angaben sind zu keinem Zeitpunkt verlässlich, etwa mit dem Gütesiegel „habe ich persönlich recherchiert, darin kenne ich mich aus”.

Er antwortet gestresst und aufgeregt auf die Fragen seiner Studio-Kollegin nach der Anklage gegen Lula. Ebert greift den „Vorwurf“ Moros auf, Lula sei der Eigentümer eines geschenkten Apartments „im Austausch für politische Gegenleistung“. Falsch! Für wirtschaftliche Gegenleistung, behauptet die Anklage.

Kein Wort Eberts darüber, dass es sich um ein verpfändetes Phantom-Apartment ohne Besitzurkunde handelt, wie ausführliche Recherchen für die NachDenkSeiten nachgewiesen haben. Am 4. Dezember 2017 hatte nämlich Richterin Luciana Correa Torres vom 2. Vollstreckungs-Gericht in Brasília die Pfändung des Apartments als Vermögenswert des OAS-Baukonzerns angeordnet und damit ratifiziert, dass die Immobilie nicht Lula gehört.

Wie in der zitierten Ausgabe der NachDenkSeiten zu lesen war: „Damit nicht genug: Moro selbst hatte zuvor in einem Feststellungsantrag bereits erklärt, dass dieser Vorwurf gegen Lula nichts mit der Entwendung von Petrobras-Ressourcen zu tun habe, womit die Anklage „Null“ wert war und die Sache sofort hätte eingestellt werden müssen.“ Dieser Umstand bestärke, was die Verteidigung unaufhörlich in diesem Verfahren behauptete: nämlich, dass der ehemalige Präsident weder jemals Eigentümer der Immobilie war noch irgendwelche Eigenschaften als Inhaber ausgeübt hat.

Wo bleibt umgekehrt die Recherche der Tagesschau über die Straffreiheit erwiesen korrupter Politiker der konservativen Opposition? „Im Dezember 2016, als (Senatsvorsitzender) Renan Calheiros die Entscheidung von Richter Marco Aurélio Mello nicht akzeptierte, seinen Posten zu räumen, beteiligte sich die Vorsitzende Cármen Lúcia an Gesprächen mit den Parteien PMDB und PSDB mit dem Ziel, Calheiros weiter im Amt zu halten”, gibt der brasilianische Fernsehkommentator Kennedy Alencar zu bedenken (Cármen Lúcia beneficiou Renan e Aécio, mas prejudicou Lula – Blog do Kennedy, 05.04.2018).

Zudem hätten laut Alencar im vergangenen Oktober hohe Richter am STF erneut im Off erwähnt, dass Cármen Lúcia politisch gehandelt habe. So habe sie auch die entscheidende Stimme in einem Prozess abgegeben, der es dem schwer belasteten Aécio Neves erlaubte, weiterhin im Amt des Senators zu verbleiben. Über die politischen Missbräuche, haarsträubenden Privilegien und Delikte des dekadenten brasilianischen Justizapparates kein Wort und Bild in der deutschen Tagesschau.

Besonders auffällig in nahezu allen Berichten aus Brasilien, seit den Aufmärschen von 2014/2015 gegen Dilma Rousseff, ist das Ausbleiben von Eigenrecherche und – noch gravierender im Sinne der Ausgewogenheit – dass die Betroffenen der Vorwürfe, wenn überhaupt, äußerst selten zu Worte kommen. In der Berichterstattung über den Prozess gegen Lula wurden niemals dessen Anwälte befragt, die immerhin von der spanischen El País über die New York Times bis zur Londoner BBC wiederholt zitiert wurden.

Im begleitenden Online-Text zu Eberts on-camera-Ausführungen kommentiert schließlich ein exaltierter Ivo Marusczyk, „Brasiliens Ex-Präsident Lula da Silva hält daran fest, im Oktober bei der Präsidentschaftswahl anzutreten, obwohl er wegen Korruption zu zwölf Jahren Haft verurteilt ist“. Die kursive Hervorhebung im Satz ist von mir, sie soll andeuten, dass Marusczyk das Adjektiv mutmaßlich unterschlagen hat und somit die Version Sérgio Moros übernimmt.

Nahezu sarkastisch, anstatt angebrachter Nachdenklichkeit, klingt auch sein Beitragstitel: „Er will zurück an die Staatsspitze, womöglich muss er jedoch stattdessen ins Gefängnis“. Das zur Bebilderung benutzte Foto eines Transparents von Lulas Gegnern mit der Aufschrift „Lula na cadeia – Lula in den Knast“, scheint als politischer Wegweiser des Beitrags platziert.


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