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Titel: Die größte Lüge: Jeder ist seines Glückes Schmied

Datum: 7. September 2018 um 9:00 Uhr
Rubrik: Leserbriefe, Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
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Ein Leser aus einer Nachbargemeinde hat mir eine Mail geschickt, die ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, gesondert zur Kenntnis gebe, weil er interessante Details über den Umgang miteinander aufgeschrieben hat. Das ist ein Thema, das uns alle sehr interessieren muss. Denn wie wir leben, was wir vom Leben haben, hängt ganz wesentlich vom Umgang miteinander ab. Natürlich auch von unserer beruflichen, gesundheitlichen und familiären Situation. Hier ist die Mail von Andre Lösing. Albrecht Müller.

A.L.:
Die NachDenkSeiten haben mir klar gemacht, dass die Verwahrlosung auf manigfaltige Art, die der Neoliberalismus verursacht, nicht bloße Spinnerei ist, sondern fürwahr tagtäglich geschieht: in unseren Schulen, auf unserer Straße, in unserer Gesellschaft… – Mittlerweile finde ich, dass wir in post-neoliberalen Zeiten leben.
Dieses menschenfeindliche System wird immer schlimmer.

Die größte post-neoliberale Lüge ist die, die ich während meiner Schulzeit beigebracht bekam.

„Jeder ist seines Glückes Schmied.“

Heute frage ich mich, wie ich diesem Irrglauben anheimfallen konnte, denn: ist es nicht das größte Bedürfnis jedes Menschen anderen Menschen zu helfen? Mit anderen Menschen etwas zu schaffen?
Oder eben menschlich zu sein?

Der Post-Neoliberalismus hat die Menschen in Deutschland in ein sozial erfrorenes Kastensystem hineingedrängt. Heutzutage geht es im Kennenlerngespräch nicht mehr darum, was die Hobbies des anderen sind oder wo seine Interessen liegen, sondern es wird der „Wert“ eines Menschen daran festgemacht, womit er beruflich seine Existenz sichert. Und in solchen Gesprächen fällt mir in sehr schmerzlicher Art auf, wie sehr dieses System in andere schon verankert ist.

Ich bin selbst Teil der Dienstleistungskaste und das seit 8 Jahren.
Um es genauer zu fassen: ich arbeite in der Sicherheitsdienstbranche. Würde man ausblenden, dass ich fast täglich weit mehr als 11 Stunden arbeite, könnte man oberflächlich behaupten, dass es mir finanziell gut geht. Den Preis, den ich allerdings zahle, ist ein massiver Schwund von Lebensqualität und ,-zeit. Dazu möchte ich noch anmerken, dass ich nur Nachtdienste verrichte. Ich tue dies nicht, weil ich es so möchte. Vielmehr habe ich in all den Jahren keinen Notausgang heraus aus dieser brenzligen Lage gefunden. Trost finde ich in der Kunst und in der Philosophie.
Ja, ich liebäugle selber mit dem Gedanken mich als Liedermacher zu tätigen. Ganz im Geiste von Konstantin Wecker und Reinhard Mey.

Diese prekäre Situation hat mich aber gleichsam aufmerksam gemacht für das soziale Gefüge in Deutschland. Wenn ich beispielsweise bei Subway an der Kasse stehe und beobachte, auf welche Art und Weise die Menschen mit den Verkäufern reden, erkenne ich die gelebte Abfälligkeit.
Nicht nur, dass es heute scheinbar normal ist, dass man weder „Bitte“ noch „Danke“ sagt; es wird sich heute auch nicht mehr in die Augen geschaut, geschweigedenn ist es möglich sich ein Lächeln abzuringen, um damit dem Gegenüber wenigstens etwas würdige Wertschätzung entgegenzubringen. Dazu kommt, dass ich beobachte, wie die Augen während des Bestellens immer mehr Richtung Smartphone gerichtet sind. Man kann das also im wahrsten Sinne des Wortes schon gar nicht mehr ein Gespräch „auf Augenhöhe“ bezeichnen.
Dafür gebe ich den Menschen aber nicht  die Schuld, sondern eher dem Pflegen des Post-Neoliberalismus.
Ich versuche jeden Tag selbst meine Menschlichkeit zu wahren, aber das wird immer schwerer.

Diese abfällige Arroganz spiegelt sich nicht nur bei einem Großteil der Menschen wider.
Auch unserer „Volkspolitiker“ haben den realen Bezug zu ihrem Wähler verloren.
So macht mich momentan auch der Umgang mit dem folgenden Thema wütend.

Was in Chemnitz passiert ist, kann ich verstehen. Das bedeutet nicht, dass ich es gutheiße.
In all der hysterischen Berichtserstattung, die lediglich darauf zielt, möglichst viel Aufmerksamkeit zu erhaschen, um möglichst viel Umsatz zu machen, fällt mir zunehmend auf, dass im selben Atemzug der historische Werdegang der Stadt Chemnitz unter dem Teppich gekehrt wird.
Chemnitz war einst eine blühende und bedeutende Stadt. Diese Stadt ist nach und nach dabei auszusterben, und das ist Tatsache: viele junge Menschen sehen keine Bleibeperspektive mehr in dieser Stadt und ziehen weg. Meist in den Westen Deutschlands.

Außerdem wird nicht oft genug gesagt, dass Daniel H. (das Opfer) selbst Teil der „linken Szene“ war. Sein Vater ist kubanischer Abstammung. Somit wird, in meinen Augen, nicht deutlich gemacht, dass dieser ganze Aufmarsch eine reine Instrumentalisierung der rechten Szene ist.

Wenn ich mir ansehe, in welch arroganten Ton die Medien über die sozial mutierten Symptome in dieser Stadt sprechen, wird mir speiübel. Diesen Zustand hat nicht nur das Scheitern der Bundesregierung zu verantworten (denn sie könnte diese Stadt attraktiver machen, indem sie darin investiert), nein; es sind auch unsere Leitmedien, die einen sehr großen Teil der Mitschuld tragen.
Pauschalisierung ist der Favorit bei der Wahl der journalistischen Instrumente geworden – so scheint es mir.

Ich finde es gut, dass auf kultureller Seite aus ein Zeichen gesetzt wird mit dem Konzert #wirsindmehr. Nur helfen uns Konzerte nicht im Kampf gegen menschenfeindliche Konzerne.

Es wird Zeit, dass wir #aufstehen!

Durch meine Arbeit im Nachtdienst habe ich viele Menschen kennengelernt, welche die meiste Zeit ihres Lebens in kleinen Fahrerhäusern von 40-Tonnern verbringen. Ich bin ganz ehrlich: die meisten unter ihnen kommen aus Rumänien oder Russland, und das sind die herzlichsten Menschen, die ich kenne. Insofern hege ich allein deshalb schon eine russophile und auch europäische Sicht, da es mir persönlich in der Seele weh tut, wie noch heute über diese Menschen berichtet wird. Und ich sage bewußt über diese Menschen. Auf der einen Seite wird immerzu gesagt, dass die westliche Welt eine so eingeschweißte Gemeinschaft sei.
Auf der anderen Seite blendet man mit übergroßen Eifer aus, dass Moskau die größte Hauptstadt Europas ist, dass Osteuropäer weniger wert seien, als andere Europäer, und wenn ich dann noch einmal lese, wie man eigentlich mit Griechenland, dem eigentlichen Mythos Europas, umgeht, dann schäme ich mich zutiefst, was aus diesem vermeintlich so aufgeklärten und empathischen Europa eigentlich geworden ist. Ich will dann kein Europäer sein…

Daher möchte ich nochmals sagen: es wird Zeit, dass wir #aufstehen!

Die Sammelbewegung kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, und ich werde sie genauso unterstützen, wie ich ihre Seite unterstütze. Ich finde es gut, dass sie Werbung für dieses Projekt machen, denn es bietet das, was die Menschen suchen: Hoffnung!

Ich könnte nun noch weiter ins Detail gehen, was Ihre Arbeit jeden Tag positiv für mich bewirkt, aber dann würde ich das Wichtigste meiner E-Mail vergessen.

Ich danke Ihnen vielmals, dass Sie dieses Projekt damals ins Leben gerufen haben und noch heute aufrechterhalten.
Ich wünsche Ihnen viel Kraft und Mut!

Mit freundlichen Grüßen
Aus Göcklingen

Andre Lösing


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