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Titel: Abweichende Meinung des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts zum Hartz IV-Urteil

Datum: 2. März 2010 um 9:27 Uhr
Rubrik: Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgerichtshof, Erosion der Demokratie, Hartz-Gesetze/Bürgergeld
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Es ist schon ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang, dass der Präsident des Bundesverfassungsgerichts und gleichzeitig der Vorsitzende des das Hartz-IV-Urteil fällende Ersten Senats, nachträglich in einem Interview mit der konservativen Welt seinen eigenen Richterspruch interpretiert. Die Meinung die Hans-Jürgen Papier in der Welt vertritt, stellt eine sehr einseitige Auslegung dieses Urteils dar, man könnte geradezu von einem nachträglichen abweichenden Minderheitsvotum sprechen. Christian Girschner hat für uns die einschlägigen Passagen des Interviews analysiert.

Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts über die Hartz IV-Regelsätze hatte ich den Eindruck gewonnen, dass sich die Bundesverfassungsrichter zwar formal-juristisch hinter das grundgesetzliche Sozialstaatsgebot gestellt haben, um es dann hinsichtlich des Umfangs dieses Gebots wieder auszuhöhlen. Letztendlich lautet meine Quintessenz des Urteils zugespitzt folgendermaßen: Der Gesetzgeber kann hinsichtlich der Hartz IV-Regelsätze weitgehend machen, was ihm beliebt, solange er deren Umfang nur transparent ermittelt und nachvollziehbar begründet. Diese pessimistische Bewertung des Urteils wurde nun durch die jüngsten Äußerungen des Verfassungsrichters Papier mehr als nur bestätigt. Denn er redet dem neuen „Autoritarismus“ (Dahrendorf) das Wort, wo der Sozialstaat in eine modernisierte Gestalt des überwachenden, kontrollierenden und bestrafenden Armenfürsorgestaates verwandelt wird.

In einem solchen Staat sind die Erwerbslosen, die nun in Bedürftige transformiert wurden, keine Bürgerinnen und Bürger mehr, die einen Teil des demokratischen Souveräns bilden, sondern nur noch sanktionsbedrohte Objekte bzw. untertänige Hörige des Staates. Der Staat wacht nun, ob sie auch die richtige Gesinnung und das richtige Verhalten an den Tag legen, die er für richtig hält. Damit wird zugleich eine Art Sanktions- oder Strafrecht für ungebührliches, eigenwilliges Verhalten der Erwerbslosen in das soziale Sicherungssystem eingeführt: Denn wer auf Berufsfreiheit, Vertragsfreiheit, Freizügigkeit, Menschenwürde, Verbot der Zwangsarbeit etc. pocht, hat sich schon des marktwidrigen Verhaltens schuldig gemacht und muss deshalb sanktioniert werden, in dem man diesen Delinquenten die finanziellen Existenzmittel streicht bzw. kürzt. Schon der frühere deutsche Obrigkeitsstaat züchtete vor allem über die Einrichtung des Arbeitshauses so seine ihm gemäßen und erwünschten Untertanen heran. Diese wussten dann auch in politischen Fragen schon im Voraus, was von ihnen erwartet wurde. Dieser vom Obrigkeitsstaat erzeugte vorauseilende und politische Gehorsam bei seinen Untertanen ist jedoch mit einer liberal-demokratischen Verfassung und Gesellschaft nicht vereinbar. Hier ist nicht der Staat der Souverän, sondern seine Bürgerinnen und Bürger. Sie sind es, die im politischen Meinungsstreit und in Wahlen die Politik des Staates bestimmen und nicht umgekehrt. Letzteres schließt daher die strafende und disziplinierende Armenfürsorge grundsätzlich aus, die die erwerbslosen Bedürftigen unmittelbar und die Beschäftigten insgesamt zu Objekten des staatlichen Handelns degradiert. Oder mit den Worten von R. Dahrendorf gesprochen: „Das Recht auf Arbeit ist ein Missbrauch der Sprache, da es nicht erzwingbar ist; das Recht, nicht zu arbeiten, ist hingegen ein liberales Prinzip.“ Kurzum, dies ist der Preis für den Anspruch einer Gesellschaft, die nach dem Prinzip demokratischer wie individueller Selbstbestimmung leben will. Diese prinzipielle und liberal-demokratische Erkenntnis scheint nicht nur bei den Verfechtern des Hartz IV-Gesetzes, sondern inzwischen wohl auch bei einzelnen Bundesverfassungsrichtern abhanden gekommen zu sein. Denn wie anders lassen sich solche Äußerungen wie die nachstehenden noch erklären:

Welt am Sonntag: Wenig hilfreich findet der ehemalige Wirtschaftsminister die Betonung des „Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ gleich im ersten Leitsatz des Urteils. Ist das in einem Land, das ein Drittel seiner Wertschöpfung in Soziales investiert, nicht eine leicht falsch zu verstehende Botschaft, im Sinne von: „Der Staat tut nicht genug“?

Papier: Wir haben ausdrücklich keinen Anspruch auf eine bestimmte Höhe von staatlichen Leistungen formuliert. Das angesprochene Grundrecht bringt zunächst nur zum Ausdruck, dass es eine Verpflichtung des Staates gibt, in Not geratenen Menschen zu helfen, die ihre Existenz aus eigener Kraft nicht sichern können. Das ist nichts Neues, sondern durchzieht unsere Rechsprechung seit Jahrzehnten. In der Hartz-IV-Entscheidung ist dieses Grundrecht nun mit konkreten Schlussfolgerungen präzisiert worden: Der Gesetzgeber muss dafür Sorge tragen, dass die Berechnung des Existenzminimums realitätsgerecht in einem transparenten Verfahren erfolgt. Aber noch mal: Ein bezifferbarer Anspruch ist dem Grundgesetz nicht zu entnehmen.“

Bedeutsam ist es schon, dass hier nur noch von einem Existenzminimum, aber nicht mehr von einem sozial-kulturellen Existenzminimum gesprochen wird, obwohl dies ein entscheidender wie gewichtiger Unterschied ist. Zudem wird, wie im Urteil des Bundesverfassungsgerichts schon zu lesen war, von Papier behauptet, man könne aus dem Grundgesetz keinen genauen „bezifferbaren Anspruch“ für das sozial-kulturelle Existenzminimum entnehmen. Dagegen erlaubt sich das Bundesverfassungsgericht den Widerspruch, dann plötzlich doch genau zu wissen, dass die bisherige Höhe des Arbeitslosengeldes II nicht „evident unzureichend“ sei. Woher kommt aber für diese Feststellung der Bewertungsmaßstab, wenn dieser angeblich nicht aus dem Grundgesetz ableitbar ist?

Da die Verfassungsrichter es in ihrem Urteil völlig unterlassen haben, und dies war gewiss kein Zufall, genau zu bestimmen, was das sozial-kulturelle Existenzminimum alles umfasst, so kann ihr Urteil über die behauptete Angemessenheit der Höhe der bestehenden Regelsätze nur auf einer rein subjektiv-willkürlichen und damit politischen Entscheidung beruhen. Entsprechend überlassen sie dann auch die Bestimmung und Berechnung des sozial-kulturellen Existenzminimums der Willkür und der Definitionsmacht des Gesetzgebers. Es gibt nur eine Vorgabe, es müsse „realitätsgerecht in einem transparenten Verfahren“ ermittelt werden. Was das sein soll, liegt dann allein „in der Gestaltungskompetenz des Gesetzgebers“ und in der „Politischen Arena“, wie Papier betont:

Welt am Sonntag: Dennoch erwarten viele Hartz-IV-Empfänger jetzt höhere Regelsätze.

Papier: Ich habe dafür ein gewisses Verständnis, weil das Verfahren ja mit diesem Ziel angestrengt worden ist. Aber die Festlegung ist nicht Sache des Gerichts, sondern liegt in der Gestaltungskompetenz des Gesetzgebers. Der streitet darüber jetzt in der politischen Arena. Das ist auch in Ordnung, das ist seine Aufgabe.“

Wolfgang Lieb hoffte auf den NachDenkSeiten insgeheim, dass mit dem Urteil des Verfassungsgerichts eventuell auch die „geltenden Sanktionsmaßnahmen gegen Hartz IV-Empfänger“ nicht mit dem vom Gericht postulierten „menschwürdigen Existenzminimum“ vereinbar wären: „Leider geht der Urteilsspruch mit keinem Wort darauf ein (…). Es lohnte sich vielleicht, wenigstens in diesem Punkt nochmals Karlsruhe anzurufen.“ (Lieb) Dazu gibt nun Papier eine klare Antwort. Leistungskürzungen als Sanktion seien mit dem Grundgesetz selbstverständlich vereinbar. Aber nicht nur das. Staatlich angeordnete Zwangsarbeit, die freilich nicht so genannt werden darf, wird von Papier als „Obliegenheit“ umdefiniert, damit ein Erwerbsloser die staatliche finanzielle Unterstützung erhält. Dies alles hat für Papier nichts mit Zwang und Unterwerfung zu schaffen, ist also ganz und gar mit der Menschenwürde und dem Grundgesetz vereinbar:

Welt am Sonntag: Wäre eine Arbeitspflicht für Hartz-IV-Empfänger verfassungsgemäß?

Papier: Juristisch handelt es sich genau genommen nicht um „Pflichten“, sondern um „Obliegenheiten“ zur Erlangung einer Leistung. Und die sind im geltenden Recht durchaus schon vorgesehen. Wer eine zumutbare Arbeit ohne triftige Gründe ablehnt, muss mit einer Leistungskürzung rechnen. Sozialleistungen des Staates sind prinzipiell subsidiärer Natur, sie sollen nur dann gezahlt werden, wenn jemand in einer Notlage ist, aus der er mit eigener Kraft nicht herauskommt.“

Außerdem bleibt für Papier die Gewährleistung eines sozial-kulturellen Existenzminimums für Erwerbslose einem Finanzierungsvorbehalt des Gesetzgebers unterworfen. Damit erfährt man nun doch noch das verheimlichte bzw. unerwähnte Kriterium der Verfassungsrichter, warum der geltende Regelsatz für Hartz IV-Empfänger nicht evident unzureichend sei:

Welt am Sonntag: Sehen Sie die Gefahr, dass die Leistungsfähigkeit der Steuer- und Abgabenzahler überstrapaziert wird?

Papier: Das hoffe ich nicht. Es ist Aufgabe der Politik, auf der einen Seite für Solidarität mit denjenigen zu sorgen, die sich nicht selbst helfen können – vor allem auch den betroffenen Kindern. Auf der anderen Seite muss bedacht werden, dass die Mittel dafür vom Steuerzahler aufgebracht werden. Der Schutz der Freiheitsrechte und der Eigenverantwortung der Bürger setzt der Abgabenbelastung zwangsläufig Schranken.“

Die vom Verfassungsgericht eingeführte Härtefallregel gilt nach Papier als eine vom Gesetzgeber zu bestimmende Pauschale, die tatsächlichen Mehrkosten, die bei einem Betroffenen anfallen, hat hier nicht zu interessieren, er hat damit auszukommen. Basta! Nebenbei glaubt der Herr Verfassungsrichter wirklich, man könne eine Waschmaschine tatsächlich aus dem Regelsatz finanzieren, schließlich (wie konnte ich dies vergessen!) ist ja die Höhe des Regelsatzes nicht evident unzureichend:

Welt am Sonntag: Das Urteil Ihres Senats fordert auch eine Härtefallregelung. Droht jetzt eine Prozessflut wegen jeder defekten Waschmaschine?

Papier: Überhaupt nicht. Eine Härtefallklausel wurde nur für solche Ausnahmefälle angemahnt, in denen ein atypischer, von der Regelleistung ersichtlich nicht erfasster Sonderbedarf besteht, und zwar nicht nur einmalig, sondern dauerhaft. Die kaputte Waschmaschine aber ist ein einmaliger Sonderbedarf, der von der Regelleistung abgedeckt wird – und kein Härtefall. Das Urteil stellt übrigens ausdrücklich fest, dass es im Regelfall nicht um eine Einzelfallprüfung gehen soll, der Gesetzgeber vielmehr Festbeträge bestimmen darf.“

Außerdem steht der Umwandlung des bundesdeutschen Sozialstaates in einen Suppenküchenstaat nichts entgegen. Dies scheint ebenfalls mit der Würde des Menschen und des Grundgesetzes vereinbar. Denn nach Papier steht es dem Gesetzgeber frei, in welcher Art und Weise er das Existenzminimum sichert. Geldleistungen können also durch Sachleistungen ersetzt werden (bzw. eine Kombination von beiden). Damit hat der Verfassungsrichter kein Problem. Man fragt sich, woher dieser Jurist dies aus dem Grundgesetz ableitet. Als es um Konkretisierung der Höhe der Regelsätze ging, wurde ja beteuert, diese kann nicht im Einzelnen aus dem Grundgesetz entnommen werden. Aber wie kann man auf der Grundlage dieser Feststellung nun plötzlich behaupten, dass Geldleistungen selbstverständlich durch Sachleistungen ersetzt werden können: Wo leitet er diese Behauptung aus dem Grundgesetz ab? Und dies soll mit der Menschenwürde, dem Sozialstaatsprinzip und den Grundrechten vereinbar sein? Soweit könnte der Gesetzgeber einen Teil der finanziellen Mittel für die Ernährung der Erwerbslosen, die derzeit nur eine Mangelernährung zu lässt, jederzeit auch noch durch Sachleistungen in Gestalt von Suppenküchen ersetzen lassen (d. h., wenn es, wie Papier betont, der Politik „zweckmäßig“ erscheint!):

Welt am Sonntag: Das Gericht hat bemängelt, dass die notwendigen Aufwendungen für Kinder wie Schulbücher oder Taschenrechner von den Regelsätzen nicht berücksichtigt werden. Müssen die in Geld ausgezahlt werden oder täten es auch Sachleistungen?

Papier: Der Gesetzgeber hat nicht nur bezüglich der Höhe der Leistung einen Spielraum, sondern auch bezüglich der Art. Es ist ihm überlassen, seiner Verpflichtung zur Gewährleistung des existenzsichernden Minimums durch Geld, Sachleistungen oder einer Kombination nachzukommen. Was da zweckmäßig ist, muss die Politik entscheiden. Sie muss ihre Leistungen nur eben auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren begründen. Schätzungen ins Blaue hinein sind nicht realitätsgerecht.“

Dass der Verfassungsrichter mit diesen Sätzen die schon seit geraumer Zeit praktizierte mediale und neoliberale Stigmatisierung der Erwerbslosen und vor allem erwerbsloser Eltern stützt, ist offensichtlich. Damit hat er keine Probleme, obwohl er an anderer Stelle und in einem anderen Zusammenhang in diesem Interview hervorhebt:

„Sie sprechen damit eine Frage an, die im Augenblick Gegenstand der politischen Diskussion ist, an der ich mich nicht beteiligen möchte.“

In den zitierten Äußerungen von Herrn Papier kann man deutlich erkennen, wie weit sich das politische Kräfteverhältnis in diesem Land weg von solidarischen und im übrigens auch von liberalen Prinzipien hin zu libertärem Denken verschoben hat und damit der Verbindlichkeitsgrad der im Grundgesetz verankerten Würde des Menschen und vor allem des Sozialstaatsgebots gravierend geschwächt wurde. Man wird dabei an eine sehr alte Erkenntnis über den Stellenwert einer Verfassung in der bürgerlichen Gesellschaft erinnert:

„Was auf das Blatt Papier geschrieben wird, ist ganz gleichgültig, wenn es der realen Lage der Dinge, den tatsächlichen Machtverhältnissen widerspricht. (…) Verfassungsfragen sind ursprünglich nicht Rechtsfragen, sondern Machtfragen; die wirkliche Verfassung eines Landes existiert nur in den reellen tatsächlichen Machtverhältnissen, die in einem Lande bestehen; geschriebene Verfassungen sind nur dann von Wert und Dauer, wenn sie der genaue Ausdruck der wirklichen in der Gesellschaft bestehenden Machtverhältnisse sind“ (Ferdinand Lassalle: Über Verfassungswesen, Rede am 16. April 1862; Hervorhebungen im Original).


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