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Titel: Propaganda und moralische Paralleljustiz – Der fragwürdige Sacharow-Preis des EU-Parlaments

Datum: 26. Oktober 2018 um 12:29 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Europäische Union, Strategien der Meinungsmache
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Das EU-Parlament hat den inhaftierten russisch-ukrainischen Regisseur Oleh Senzow mit dem Sacharow-Preis ausgezeichnet. Medien und Politiker fordern in emotionalen Appellen seine „unmittelbare Freilassung“. Doch stützen die bekannten Fakten diese Forderung? Sind russische Gerichtsurteile grundsätzlich Ergebnisse von „Schauprozessen“? Und besteht der Sinn der Preisverleihung nicht vor allem in der Ablenkung von eigenen Defiziten? Von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Vorbemerkung: Dieser Text möchte keine Stellungnahme zu der Frage sein, ob der russisch-ukrainische Regisseur Oleh Senzow im Sinne der Anklage schuldig ist oder nicht. Der Text möchte aber kritisieren, dass sich nun westliche Medien und Politiker gegenüber „russischen Verhältnissen“ einmal mehr zu einer moralischen Eindeutigkeit hinreißen lassen, die durch verfügbare Fakten nicht gerechtfertigt ist. Zu beobachten ist eine aus weiter Ferne praktizierte emotionale Überheblichkeit, die in dieser Pauschalisierung des eigenen moralischen „Vorsprungs“ höchst gekünstelt wirkt. Aktuelles Beispiel für das Phänomen ist die Verleihung des Sacharow-Menschenrechtspreises des EU-Parlaments an den im russischen Straflager einsitzenden Senzow.

Senzow sei zum Symbol geworden für die Befreiung der politischen Häftlinge in Russland und weltweit, gab EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani laut Nachrichtenagentur dpa am Donnerstag in Straßburg bekannt. „Das Europäische Parlament möchte seine Solidarität mit ihm und seinem Anliegen bekunden. Wir fordern seine unmittelbare Freilassung.“ Oleh Senzow wird von der russischen Justiz die Planung von Terror-Anschlägen auf die Infrastruktur der Schwarzmeer-Insel Krim sowie die Zusammenarbeit mit dem „Rechten Sektor“ vorgeworfen.

Ist Russland ein Unrechtsstaat?

Laut zahlreicher Äußerungen westlicher Medien und Politiker, und auch laut EU-Parlamentspräsident Tajani, ist Russland also grundsätzlich und prinzipiell ein Unrechtsstaat. Denn mit welcher anderen Begründung könnte man sonst die „sofortige Freilassung“ eines von einem Gericht Verurteilten verlangen? Urteile russischer Gerichte haben nach dieser Lesart keinen Wert. Denn diese sind entweder „gefällig“, wenn es sich bei den Angeklagten um „enge Vertraute“ des russischen Präsidenten Wladimir Putin handelt. Oder die Urteile sind Ergebnisse „politischer Schauprozesse“, wenn russische „Dissidenten“ vor Gericht stehen. In jedem Fall aber ist die russische Justiz nach dieser dominanten Sichtweise in die eine oder andere Richtung „politisch motiviert“.

Um es noch einmal deutlich zu sagen: In diesem Text soll das Urteil über Oleh Senzow weder bekräftigt noch angezweifelt werden. Betrachtet werden soll statt dessen eine generelle „Missachtung des Gerichts“, wie sie aus der Auszeichnung durch die EU spricht: Mit dem Akt der Preisverleihung und der begleitenden emotionalen Pressekampagne wird eine Art moralische Paralleljustiz zelebriert – durch dieses Vorgehen können Gerichtsurteile in fernen Ländern als „verbrecherisch“ gebrandmarkt werden, ohne dass allzu konkret die Beweislage oder die Urteilsbegründung etc geprüft werden müssten. In Bezug auf Russland ist dieser Zustand bereits erreicht: Viele Medienkonsumenten sind mittlerweile so indoktriniert, dass sie sich mit moralischen Anklagen zufriedengeben und keine kalten Fakten mehr einfordern.

Einmischung über „Menschenrechte“ nur bei klarer Faktenlage

Es sollen hier auch nicht prinzipiell Interventionen gegen Skandalurteile in anderen Ländern diffamiert werden. Aber zum einen besteht der begründete Verdacht, dass durch die Überbetonung jener fernen Beispiele die teils viel dramatischeren Menschenrechtsverletzungen westlicher Länder kaschiert werden sollen. Zum anderen muss eine solche Einmischung, wenn sie schon vorgenommen wird, konkret, kühl und sachlich begründet werden. Im Fall Senzow ist die Beweislage aber weitgehend unbekannt, da große Teile der mutmaßlichen/angeblichen „Terror“-Ermittlungen als geheim eingestuft wurden, was man zu Recht scharf kritisieren kann. Auch die Anwälte Senzows haben laut Medienberichten eine Geheimhaltungs-Erklärung bezüglich der Ermittlungsergebnisse unterzeichnet. Aus dem Gerichtsprozess ging laut der oppositionellen Tageszeitung „Nowaja Gaseta“ aber zumindest hervor, dass bei Senzows Festnahme kein Sprengstoff gefunden wurde.

Aber reicht diese Information für den nun vollzogenen allumfassenden „Freispruch“ Senzows durch das EU-Parlament? Ohne eine Sichtweise zu präferieren: Ist es denn total abwegig, dass sich ein ukrainischer Nationalist zu militantem „Widerstand“ gegen Russland verführen ließe? Was machen die Medien und Politiker, wenn sich irgendwann tatsächlich die Schuld Senzows zweifelsfrei erweisen sollte? Gibt es nicht preiswürdige Kandidaten, deren Schicksal und moralische Unbeflecktheit eindeutiger belegt sind? Und: Gibt es eigentlich keine demokratischen Aktivisten, die Missstände im Westen aufdecken, und die die Solidarität des EU-Parlaments verdient hätten?

„Menschenrechts-Preis“ für militante Neoliberale

Diese Frage führt zu den bisherigen Sacharow-Preisträgern. So wurden in den letzten Jahren fast ausschließlich „Oppositionelle“ aus mit dem Westen konkurrierenden Ländern wie Russland, Kuba, Iran oder China ausgezeichnet. Diese Auswahl legt nahe: Der Sinn des Preises ist Ablenkung. Der Preis weist fast immer in weite Ferne und auch dort fast nie in westlich kontrollierte Gefilde. Der vorläufige Höhepunkt dieser Praxis war wohl die Sacharow-Preisverleihung im letzten Jahr: Da wurde die militante und neoliberale „demokratische Opposition“ in Venezuela mit dem Preis des EU-Parlaments bedacht. Das „Neue Deutschland“ schrieb damals: „Namentlich wurden von der EU die Politiker Julio Borges und Leopoldo López ausgezeichnet. Beide haben nicht nur Gewalt gegen die aktuelle linke Regierung gesät, sondern auch den Putsch von 2002 gefeiert. Tolle Demokraten! Andrei Sacharow würde sich im Grabe herumdrehen.“


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