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Titel: „Heute erntet die AfD, was die rot-grüne Koalition mit ihrer ‚Agenda‘-Politik und den Hartz-Gesetzen gesät hat“

Datum: 28. Oktober 2018 um 11:45 Uhr
Rubrik: AfD, Aktuelles, Interviews, Rechte Gefahr, Soziale Gerechtigkeit
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Seit einem Jahr ist die AfD nun im Bundestag vertreten. Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge stellt im Interview mit den NachDenkSeiten fest, dass viele Millionen Bürger in Deutschland eine Kursänderung der „enttäuschenden Regierungspolitik“ nur noch von rechts und nicht mehr von links erwarten. Die im Land existierende soziale Spaltung habe auch zu einer politischen Spaltung geführt. „Aber gerade CDU und CSU interessieren sich nicht für die soziale Gerechtigkeit, betreiben Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung und machen Lobbypolitik für kapitalkräftige Interessengruppen“, so Butterwegge. Ein Interview über die AfD, ihr Verhalten in den Parlamenten und die Frage, wie ein weiterer Rechtsruck verhindert werden kann. Von Marcus Klöckner.

Herr Butterwegge, nun ist die AfD auch in Bayern im Parlament. Was geht im Land vor, dass eine Partei wie die AfD immer präsenter wird?

Offenbar hat eine Rechtsentwicklung in ganz Deutschland – wohlgemerkt: kein Rechtsruck, dazu sind die Gegenkräfte momentan (noch?) zu stark – stattgefunden, verbunden mit einer Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas und einer Beschädigung der politischen Kultur. Mit der AfD wird – im europäischen Vergleich mit einer gewissen Zeitverzögerung, die sich auf den Wohlstand des Landes, die Fünfprozent-Hürde und die Hemmschwelle aufgrund der NS-Vergangenheit zurückführen lässt – eine ultrarechte Partei zum festen Bestandteil des politischen Systems. Seit knapp fünf Jahren eilt die AfD von einem Wahlerfolg zum nächsten, weil sie von einem Stimmungsumschwung in der Bevölkerung profitiert: Kursänderungen der Millionen Menschen enttäuschenden Regierungspolitik erhoffen diese nicht mehr von links, sondern offenbar eher von rechts, zumal der Parteiname „Alternative für Deutschland“ verheißungsvoll klingt und suggeriert, endlich komme es zu einem Politikwechsel, nachdem die von Neoliberalen jahrzehntelang als alternativlos dargestellten Reformen das Land nicht befriedet haben.

Wo liegen aus Ihrer Sicht die Hauptursachen für das Erstarken der Rechten in Deutschland?

An erster Stelle nenne ich die soziale Spaltung. Sie hat maßgeblich zur politischen Spaltung der Gesellschaft beigetragen und verhindert, dass alle Bevölkerungsschichten vom wachsenden Wohlstand profitieren. Da sich die Kluft zwischen Arm und Reich immer mehr vertieft, erhöht sich der Druck auf die Mittelschicht, deren Angehörige sich in wirtschaftlichen Krisen und gesellschaftlichen Umbruch-Situationen erfahrungsgemäß aus Angst, zwischen Oben und Unten zerrieben zu werden, häufig nach rechts wenden. Heute erntet die AfD, was die Kohl-Regierungen und die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder mit ihrer „Agenda“-Politik und den Hartz-Gesetzen gesät haben. Neoliberalismus und Rechtspopulismus sind Brüder im Geiste, wenn es darum geht, den „Wirtschaftsstandort Deutschland“ noch konkurrenzfähiger auf den Weltmärkten zu machen. Ich habe dafür vor über 20 Jahren den Begriff „Standortnationalismus“ geprägt. Aber auch Sozialdarwinismus und Wohlstandschauvinismus ist Rechtspopulisten und Neoliberalen gemeinsam. Dies gilt zwar nicht für den Rassismus und den völkischen Nationalismus, der mittlerweile tief in die AfD eingedrungen ist. Aber natürlich hat der Neoliberalismus dieser Rechtspartei den Boden bereitet. Dass die sogenannte Neue Rechte politisch-kulturell in die Offensive geriet, hat damit zu tun, dass ihr etablierte Kräfte den Boden bereiteten. Als geistiger Ziehvater der AfD agierte Thilo Sarrazin, dessen Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ alle Kernideologeme des Rechtsextremismus bis hin zum biologistischen Rassismus enthält.

Warum tun sich die großen Parteien so schwer damit, soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt ihrer Politik zu stellen?

Mittlerweile ist ja bloß noch die Union größer, wenn man nicht die Mitgliederzahlen, sondern die Zustimmung bei Meinungsumfragen als Maßstab nimmt. Aber gerade CDU und CSU interessieren sich nicht für die soziale Gerechtigkeit, betreiben Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung und machen Lobbypolitik für kapitalkräftige Interessengruppen. Man muss nur mal die Reform der Erbschaftbesteuerung für Firmenerben betrachten oder sich ansehen, wie der frühere CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder im Sinne der Tabakindustrie verhindert hat, dass Deutschland die EU-Richtlinie zum Verbot der Kino- und Außenwerbung für Zigaretten umsetzt. Dann weiß man, wie Kapitalinteressen über dunkle Kanäle das Regierungshandeln beeinflussen. Von sozialer Gerechtigkeit wird höchstens in Sonntagsreden gesprochen, in der Alltagspraxis wird die soziale Ungleichheit weiter verstärkt.

Wie geht denn die AfD vor, um politische Erfolge zu erzielen?

Um die Politik der etablierten Parteien zu beeinflussen, verfolgt die AfD eine Doppelstrategie: Auf der Straße demonstriert sie – wie in Chemnitz beim „Trauermarsch“ am 1. September geschehen – zusammen mit Rechtsextremen, militanten Hooligans und Neonazis, während sie im Bundestag als seriöse Kraft auftritt, auch wenn dieses Kalkül wegen der aggressiven, konfrontativen und provokativen Auftritte ihrer Abgeordneten nicht immer aufgeht. Dabei bedient die AfD sämtliche Diskurse, mit denen sich die Stimmung im Land gedreht hat: Seit ihrer Gründung war der Globalisierungsdiskurs dominant, dem sich die wirtschafts- und nationalliberalen Parteigründer um den Ökonomen Bernd Lucke verschrieben hatten: „Wir können unseren Wohlstand nur bewahren, wenn sich Deutschland in der Standortkonkurrenz behauptet und die Bundesregierung radikale Reformmaßnahmen durchführt.“ Frauke Petry, die Lucke im Parteivorsitz folgte und während ihrer kurzen Amtszeit das fünfte Kind bekam, stand für Glaubwürdigkeit im Demografiediskurs, der sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: „Wenn nicht mehr (deutsche) Kinder geboren werden, fehlen uns die Fachkräfte, können die Renten für eine immer älter werdende Bevölkerung kaum noch erwirtschaftet werden und sterben die Deutschen am Ende buchstäblich aus.“

Die endgültige Transformation der AfD zu einer rechtspopulistischen Parteiformation spiegelt die Metamorphose des Sozialstaatsdiskurses wider. Zuerst hieß es noch eher im neoliberalen Sinne, auf die Mittelschicht gemünzt: „Hartz-IV-Bezieher sind gar nicht wirklich arm, sondern nehmen die fleißigen Deutschen schamlos aus, weil der Sozialstaat viel zu großzügig ist.“ Je einflussreicher der ultra-rechte Flügel um Björn Höcke und André Poggenburg wurde, desto mehr verstand sich die AfD jedoch als „Partei der kleinen Leute“ (Partei- und Fraktionsvorsitzender Alexander Gauland). Sie verband die soziale und die nationale Frage miteinander, um auch einheimische Transferleistungsbezieher, Erwerbslose und Arbeiter anzusprechen: „Damit der Staat deutsche Familien unterstützen kann“, hieß es nunmehr, „darf er sich nicht als Sozialamt für die ganze Welt betätigen und Asylschmarotzer fördern.“ In dieselbe Richtung entwickelte sich der Migrations- und (Des-)Integrationsdiskurs: „Wenn uns Zuwanderer – seit 2015/16 hauptsächlich: Flüchtlinge muslimischen Glaubens – überschwemmen und sich nicht integrieren bzw. assimilieren (lassen), werden wir zu Fremden im eigenen Land.“

Welches Verhalten der AfD haben Sie in den Parlamenten beobachtet?

Im strategischen Konzept der AfD-Spitze fungieren die Parlamente nicht als politische Willensbildungs- und Entscheidungsorgane, in denen gegensätzliche Interessen und politische Überzeugungen aufeinanderprallen, sondern als Bühne, von der aus rechte Inhalte unter Nutzung der eigenen Social-Media-Kanäle medial nach außen vermittelt werden. Alle Themenfelder, handle es sich nun um die Familien-, die Sozial- oder die Energiepolitik, werden mit dem Lieblingsthema der AfD, der Migration bzw. den Flüchtlingen, verknüpft. Das erscheint manchmal weit hergeholt oder wirkt sogar lächerlich, ist aber sehr effektiv. Denn diese Methode der Problemreduktion auf das angebliche Kardinalproblem der Gesellschaft erlaubt es der AfD, ihre rassistische und nationalistische Kernbotschaft bei jeder Gelegenheit unters Volk zu bringen.

Wie sieht es denn mit den sozialpolitischen Vorstellungen der AfD aus?

Das ist die größte Leer- und Schwachstelle der AfD-Programmatik. Hier kann man die Partei stellen und ihren sozial benachteiligten Sympathisanten zeigen, dass Anspruch und politische Praxis der Rechtspopulisten meilenweit auseinanderklaffen. Armut wird von der AfD nicht als strukturelles, dem heutigen Finanzmarktkapitalismus innewohnendes Phänomen gesehen, sondern als Importprodukt, das Bulgaren, Rumänen und Flüchtlinge eingeschleppt haben. Für die wachsende soziale Ungleichheit, Not und Elend ist die AfD überhaupt nicht sensibel. Lieber vernebelt sie durch ihre Konstruktion eines zwischenstaatlichen Innen-außen-Gegensatzes den innergesellschaftlichen Oben-unten-Gegensatz und lenkt damit von den bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen ab. Sozialpolitik reduziert die AfD auf Familienpolitik und diese auf Bevölkerungspolitik. Während sie die sozialen Problemlagen von Menschen grundsätzlich ignoriert, konzentriert sich die Partei auf Maßnahmen zur Förderung der Geburten von deutschen Kindern.

Was müssten die anderen Parteien tun, um einen weiteren Rechtsruck zu verhindern?

In den Parlamenten müssen ihre Vertreterinnen und Vertreter notgedrungen auch mit AfD-Abgeordneten reden, aber sie dürfen nie wie die AfD-Abgeordneten reden. Unworte wie „Asyltourismus“ oder „Anti-Abschiebe-Industrie“ verbieten sich von selbst, weil sie Ressentiments schüren und der AfD somit das Geschäft erleichtern. Migration ist eben nicht „die Mutter aller politischen Probleme“, wie Bundesinnenminister Horst Seehofer meint. Armut ist vielmehr die Mutter aller Migrationsbewegungen. Wer national und global die Armut bekämpft, wirkt ihnen entgegen. Nicht, wer – wie Seehofer und die AfD es tun – die Flüchtlinge bekämpft. Man darf die Armen (deutsche Hartz-IV-Bezieher) nicht gegen die noch Ärmeren (Geflüchtete) ausspielen. Die demokratischen Fraktionen sollten sich auf ein gemeinsames Vorgehen gegen die Rechtspopulisten verständigen, ohne ihre inhaltlichen Differenzen zu relativieren, damit sich die AfD nicht als einzige Alternative zum Block der „Systemparteien“ profilieren und die von ihr bevorzugte Märtyrerrolle einnehmen kann. Vor allem müsste die demokratische Frage wieder stärker mit der sozialen Frage verbunden werden. Demokratie ist schließlich mehr, als einmal in vier oder fünf Jahren zur Wahlurne gehen zu können. Demokratie bedeutet, dass alle Bewohnerinnen und Bewohner eines Landes über dessen künftige Entwicklung gleichberechtigt mitentscheiden können, was nur möglich ist, wenn sie nicht fürchten müssen, dass ihnen der Strom abgestellt, ihr weniges Hab und Gut gepfändet oder ihre Wohnung zwangsgeräumt wird.


Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt. Kürzlich ist sein Buch „Rechtspopulisten im Parlament. Polemik, Agitation und Propaganda der AfD“ erschienen, das er zusammen mit Gudrun Hentges und Gerd Wiegel geschrieben hat.


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