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Titel: Wie sieht es in Brasilien wirklich aus? Analyse eines Interviews von KenFM mit Gaby Weber

Datum: 15. November 2018 um 12:19 Uhr
Rubrik: Länderberichte, Medienkritik, Wahlen
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Am 7. November 2018 haben die NachDenkSeiten hier auf ein Video mit einem Interview von KenFM mit Gaby Weber über die Wahl des neuen Präsidenten Jair Bolsonaro in Brasilien hingewiesen. Wir haben dabei dieses Interview nicht kommentiert. Wir sind von Lesern darauf aufmerksam gemacht worden, dass dies wohl nötig sei. In der Tat. Wir haben deshalb den NDS-Korrespondenten Frederico Füllgraf gebeten, das Interview vor allem auf sachliche Schwächen und Ungereimtheiten zu überprüfen. Das hat er getan. Das Ergebnis finden Sie unten. Zuvor noch eine Vorbemerkung: Ich finde es ganz und gar nicht lustig, Produkte von Medien zu kritisieren, denen wir uns eigentlich verbunden fühlen. Im konkreten Fall widerspricht das Interview jedoch dem Anspruch aufzuklären. Wir hatten das Interview verlinkt, leider ohne Kommentar, also müssen wir das hiermit nachholen. Albrecht Müller.

Zum Interview von KenFM mit Gaby Weber zur Wahl Jair Bolsonaros in Brasilien
Von Frederico Füllgraf

  1. Jebsens Vorstellung von Bolsonaro ab Minute 0:22 ist sehr eigenwillig und wird den Fakten nicht gerecht: „Gilt als skurriler Hinterbänkler…”.
    Kein Wort über Bolsonaros Hasstiraden (siehe: Jair Bolsonaro – Der Präsidentschaftskandidat der „Märkte” und des faschistischen Brasilien), sein Hohelied auf Folterer und Mörder der Militärdiktatur, geschweige denn über seine Androhung, 30.000 Oppositionelle müssten gekillt werden – eine völlig unzureichende Einführung von Jebsen, weder professionell noch akzeptabel.
  2. Zu Webers Auftritt als Sprecherin des “Wir”

    Gaby Weber bedient sich mit ihrer Redewendung „Wir” eines höchst bedenklichen, journalistischen „Vertretungsanspruchs” bzw. „Kollektiv-Auftritts”. So ab Minute 1:10 im Interview: „wir haben 14 Jahre lang eine Regierung der PT, also der Arbeiterpartei gehabt”, usw.

    Wer ist “Wir”? In wessen “Namen” fühlt Gaby Weber sich berufen; als wessen “Vertreterin” maßt sich die Autorin an, aufzutreten; wer hat ihr eine “Vollmacht” zum Vortragen des Volksempfindens ausgestellt? Immer wieder wurde in Vergangenheit wie Gegenwart das vereinnahmende “Wir” von Politikern, aber auch Medien ge-, vor allem aber missbraucht, um bestimmte Stimmungen zu erzeugen. Nicht nur aus journalistischer Sicht verbietet sich deshalb dieses “Wir”.

  3. Webers Unterschlagung der Tatsachen über die Regierungen Lula und Dilma Rousseff, Minute 1:27: „Ich zweifle nicht dran, dass Lula und die PT die Lebensbedingungen der Armen…wirklich verbessern wollten. Nur, die Tatsache, dass genau dieser Bolsonaro jetzt mit einer eindeutigen Mehrheit gewählt worden ist…”.

    Kaum ein Wort, außer einer kurzen Nebenbemerkung ab 3:25 min, über die Sozialpolitik der PT, die zig Millionen Menschen aus Hunger und extremer Armut befreite (WFP: Brazil – A Champion In The Fight Against Hunger), die größte industrielle und infrastrukturelle Entwicklung aller Zeiten erzielte und mit ihrer unabhängigen Außenpolitik weltweite Anerkennung als Global Player fand.

    Wenig Recherche über seit eineinhalb Jahrzehnten bekannte Fakten; damit auch eine inkorrekte Zeichnung der Arbeit und der Verdienste der PT.

  4. Absurde “Opfer”-These Webers, Minute 1:57: „… da wird jetzt ein Opfer aufgebaut, und sie identifizieren sich auch über das Opfer-Dasein, sozusagen, die haben nichts unterm Strich vorzuweisen, aber jetzt ist man wieder ´n Opfer”.

    Mit diesen starken Worten zieht Weber über die Niederlage Fernando Haddads her und beschönigt Bolsonaros Wahlsieg. Kein Wort über die erwiesene Manipulation der Wahl, die Wahlschwindel-Vorwürfe, nicht einmal die Ermittlungen des Obersten Wahlgerichts (STE) wurden erwähnt. Nachtrag vom 14.11.2018: Das STE hat am 12. November 2018 allein in der Wahlfinanzierungs-Erklärung Bolsonaros 17 Unregelmäßigkeiten festgestellt und ermahnte den Gewählten zur umgehenden Erklärung dieser Missstände (Técnicos do TSE apontam 17 indícios de irregularidade – Folha de S. Paulo, 12.November 2018).

  5. „Dilma Rousseff war kein Opfer eines parlamentarischen Putschs”, Minute 2:47: „in der deutschen Presse wird es als Putsch dargestellt, das ist juristisch so nicht richtig…”. Im Nebensatz gibt Weber jedoch zu, „aber es war wahrscheinlich so was wie ´ne Verschwörung…”.

    Es ist erstaunlich, dass die Autorin sich offenbar nicht mit den neuzeitlichen Theorien und Interpretationen der politischen Destabilisierung, insbesondere der hybriden Subversion beschäftigt hat, die sehr wohl – selbst von der N.Y.Times – nahezu einstimmig Rousseffs Amtsenthebung als erwiesene illegale Machenschaft bezeichnen.

    Doch, wie Rousseff ja selbst wiederholt erklärte, war ihre Amtsenthebung lediglich der erste Vorstoß einer Eskalierung, die die Demontage des fragilen Sozialstaats durch das korrupte Temer-Regime, sodann die Verhaftung von Altpräsident Lula und schließlich die Wahl eines rechtsextremen Vertreters der Streitkräfte, der neoliberalen Think Tanks und des internationalen Finanzkapitals zum Ziel hatte und somit einen “Putsch in Etappen” zur Vollendung führte.

  6. „Die PT hat zum Schluss nichts mehr gemacht…” – Minute 3:22 bis 4:09.

    Hier kritisiert Weber die Arbeiterpartei wegen der angeblich schlechten Ergebnisse ihrer Verwaltungen in mehrerlei Hinsicht. Was die Autorin anführt, ist ein Sammelsurium von Plattitüden, Unterlassungen und Halbwahrheiten, so z.B. ihr Vorwurf, die PT hätte es in 14 Jahren nicht geschafft, ein neues Mediengesetz durchzusetzen. Die Feststellung stimmt, doch nicht Webers “Kritik”.

    Die Regierung Lula (2003-2011) hatte sehr wohl in ihrer zweiten Amtsperiode auf Initiative des Ministers Franklin Martins ein Mediengesetz zur breitestmöglichen Debatte – im Parlament, aber auch in der Zivilgesellschaft – eingereicht, welches jedoch bis zum Ende der Amtszeit Lulas nicht mehr zur Abstimmung kam, hatten doch die Zeitungsverleger und gleichzeitigen Eigentümer der größten elektronischen Medienunternehmen im Lande – allen voran TV Globo – zusammen mit dem in den USA ansässigen Interamerikanischen Verlegerverband (SIP) einen brachialen und verlogenen Kreuzzug gegen sämtliche Gesetze dieser Art mit der Unterstellung vom Zaun gebrochen, die Mediengesetze wollten die „Pressezensur” einführen und die Medien „knebeln”.

    Von Anbeginn ihrer zweiten Amtszeit politisch geschwächt und unter vielseitigem politischen Dauerbeschuss traute sich Präsidentin Rousseff nicht mehr, über den ihr überreichten Gesetzesentwurf zur Reglementierung des Medienmarktes abstimmen zu lassen, womit die Initiative Lulas und Martins’ ad acta gelegt wurde.

    Fazit: Gesetze, u.a. ein brisantes Mediengesetz, kann man nur in Kraft setzen, wenn man dafür auch die parlamentarische Mehrheit besitzt, die Rousseff nicht mehr hatte.

    Doch Weber begeht einen gravierenden Fehler mit der Behauptung, die PT beschuldige die Medien für ihre Wahlniederlage. Richtig ist, dass die Medien seit Jahren für die Heraufbeschwörung der konservativen Offensive verantwortlich gemacht werden und sie es de facto auch sind. Doch die hauptverantwortliche Instanz für Bolsonaros Wahlsieg ist erwiesenermaßen die rechtsextremistisch unterwanderte Justiz, allen voran Richter Sérgio Moro, der den Wahlfavoriten Lula im April 2018 verhaften ließ und Anfang November 2018 zu Bolsonaros künftigem Justizminister nominiert wurde – darüber kein Sterbenswort in dem KenFM-Interview.

  7. Ken Jebsens Suggestiv-Frage, die „PT (hat) den einfachen Mann ebenso verraten wie die SPD” – ab Minute 4:10 bis 5:43. Mit der unrichtigen Antwort Webers, die PT-Regierungen hätten „keine Agrarreform” durchgesetzt.

    Dieser Punkt kann so nicht unwidersprochen stehenbleiben. Obwohl die Regierung Rousseff in der Landreform die schlechtesten Indikatoren nachzuweisen hatte, reicht bereits ein oberflächlicher Einblick in agrarreform-feindliche Medien der Globo-Gruppe, um festzustellen, dass allein die Regierung Lula im Zeitraum 2003-2011 insgesamt 48,3 Millionen Hektar Land enteignet und 614.088 Landarbeiter-Familien sesshaft gemacht hat; Zahlen, die kein Pappenstiel sind. Auch dass die Ländereien der weltweit renommierten Bewegung der Landlosen (MST) Handlungsorte erstaunlicher sozialer und ökonomischer Errungenschaften sind – wie z.B. dass die MST 2017 zum größten Produzenten von organisch erzeugtem Reis aufstieg – findet bei Weber keinerlei Erwähnung.

  8. „Jaaa, die Militärs haben jahrelang in Brasilien regiert …, mit Folter und Mord …, aber sie haben hohe Wachstumsraten erreicht und das Land entwickelt,” was „nicht so negativ gewesen” ist … – Webers Verteidigung der Militärdiktatur (1964-1985) ab Minute 5:44 ist haarsträubend.

    Es ist schon eine gewagte und üble Portion Zynismus in diesen Sätzen, mit denen unter der Ausblendung von Moral und journalistischer Ethik die 25-jährige Ausschaltung der Demokratie, die blutige Herrschaft (mit zigtausenden Gefolterten und bisher über 450 Verschwundenen) der Militärs – die im übrigen finanziell und technisch die chilenische Pinochet-Diktatur aufgerichtet haben – als Preis für das erreichte Wirtschaftswachstum und die angebliche “Entwicklung” gerechtfertigt wird – denn, so Weber: „man soll nicht immer alles in einen großen Sack werfen” (sic!!).

    Doch auch in Sachfragen, so z.B. ob die brasilianischen Militärs “nationalistisch” oder “neoliberal” ausgerichtet sind, muss Weber Unkenntnis unterstellt werden, hat doch u.a. ein hochgestellter Offizier und Drahtzieher der Bolsonaro-Wahlkampagne sich mit deutlichen Worten von jeglicher nationalistischen Agenda distanziert – und zwar in einer argentinischen Finanzzeitung, die Weber am Kiosk an der Straßenecke hätte erwerben können.

    Dass die radikal-neoliberale und offen pro-US-amerikanische Fraktion in den Streitkräften längst die Oberhand gegen die traditionellen, staatsfördernden Nationalisten gewonnen hat, verdeutlicht der Fall des ehemals staatlichen Flugzeugbauers Embraer. Embraer (Marktwert: ca. 4,5 Milliarden Euro) wurde im Juli 2018 mit mehrheitlicher Genehmigung der Militärs von der Regierung Temer zu 80 Prozent dem US-amerikanischen Boeing-Konzern im Austausch für eine “Partnerschaft” angeboten – ein “Großeinkauf” des US-Konzerns, der in Brasilien als „kriminelles Geschäft” bezeichnet wird.

    Gaby Weber und Ken Jebsen sollten ferner wissen, dass im Vorfeld der Verhandlungen mit Boeing in Brasilien die argentinische Macri-Regierung im Dezember 2017 Teile des 2009 abgeschlossenen Geschäfts über die Lieferung von 20 Embraer-Maschinen für null und nichtig erklärte und den Entschluss bekanntgab, ihren Bedarf nun mit Boeing 737 zu decken.

    Mindestens 10 Interview-Minuten lang spekuliert Jebsen und doziert Weber sodann über die Weltlage und wer Bolsonaros Alliierte sind – sämtliche Prognosen sind falsch. Zum einen wird die offen pro-israelische Haltung des faschistischen Wahlsiegers nur rudimentär diskutiert, zum anderen China fälschlicherweise neokoloniale Rohstoff-Handelspolitik unterstellt, eine Gefahr, vor der umgekehrt China Lateinamerika längst gewarnt hat.

  9. Zum Abschluss, Jebsens Nötigung Webers zur positiven Deutung Bolsonaros mit der Frage, „könnte er mit irgendetwas überraschen…, er muss irgendetwas haben, das 55 Prozent der Brasilianer” bejahen… ab Minute 18:24.

    Nicht „55 Prozent der Brasilianer”, sondern 55 Millionen der brasilianischen Wähler votierten für Bolsonaro. 89 Millionen Wahlberechtigte wählten entweder Fernando Haddad oder enthielten sich der Stimme. Also können sich 60 Prozent der brasilianischen Wähler nicht durch Jair Bolsonaro vertreten fühlen – soweit zur inzwischen gängigen Interpretation von Wahlergebnissen, die sich hier auch Ken Jebsen zu eigen macht.

    Fazit: Es ist einerseits überraschend, aber auch für eine demokratische Gegenöffentlichkeit verheerend, wie ein sonst in der Regel kritisch auftretender, aufgeklärter und aufklärender alternativer Journalist in diesem Interview einen Befürworter der Folter, Huldiger der Pinochet-Diktatur, Vergewaltigungs-Prediger und Bedroher – der die Massenhinrichtung von 30.000 Oppositionellen fordert – so größtenteils kritiklos davonkommen lässt und ihn damit auch medial weißwäscht. Dabei ist das inhumane Menschenbild Bolsonaros doch unverkennbar, wie jeder einzelne Artikel zu Bolsonaro auf den NachDenkSeiten dokumentiert.


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