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Titel: Brasiliens Militärs – Vom Revanchismus über Fake-News-Angriff zum Polizeistaat, genannt „neue Demokratie”

Datum: 20. November 2018 um 10:11 Uhr
Rubrik: Innere Sicherheit, Länderberichte, Rechte Gefahr
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Es war Ende August 2017, als mehr als ein simpler Satz, sondern die Beschwerde eines brasilianischen Generals für Wirbel in den Medien und den von ihm angegriffenen sozialen Netzwerken sorgte. „Die in unserer Gesellschaft tief verwurzelte, sogenannte Political correctness hat die Vormacht des Individuellen gegen das Gemeinschaftliche statuiert – kann das funktionieren?”, twitterte Heereskommandant Eduardo Villas Bôas und erntete hunderttausendfachen Applaus in Militär- und Polizeikasernen und von der rechtsradikalen Szene in Zivil. Von Frederico Füllgraf.

Der Kreuzzug für die „Moral”

Villas Bôas‘ Polemik zielte nicht nur auf demokratische Politiker, die seit Jahren im Parlament Gesetze gegen den unzulässigen Schießbefehl gegen unbewaffnete Kriminelle und der politischen Kriminalität Beschuldigte votierten. Nein, durch die Blume sprach der Heereskommandant „im Namen” von Millionen Brasilianern, denen die Freizügigkeit und der gesetzliche Schutz von sogenannten „Minderheiten” – von um ihr Urland kämpfenden Indianern, über Homosexuelle und Schwarze, bis zu körperlich Behinderten – ein Dorn im Auge sind und im Namen der gestärkten, jedoch systematisch verletzten Gemeinschafts- und Identitätsrechte die „Rettung” der angeblich bedrohten Familie, der „Tradition” und die „Wiederherstellung der Ordnung”, vor allem der alten, autoritären Ordnung, einforderten.

Dieses Publikum, das die Kernwählerschaft Jair Bolsonaros bildet, empfindet auch blanken Hass für den Feminismus, der sich seit Jahren als Sprachrohr gegen die Misshandlung von Frauen profilierte, von denen allein 2017 mehr als 4.400 Opfer von Männern regelrecht abgeschlachtet wurden; eine makabre Zahl, die eine 6,5-prozentige Zunahme des Feminizids gegenüber 2016 darstellte und signalisierte, dass alle zwei Stunden in Brasilien eine Frau ermordet wird. Als Reaktion auf die Gewalt- und Mordstatistik drückt sich allerdings die Doppelmoral dieses Publikums in der Regel mit der zynischen Schuldzuweisung an die Ofer selbst aus.

Doch Villas Bôas‘ Ermahnung war auch an den Obersten Gerichtshof (STF) adressiert, dem zwar der Schutz der Verfassung obliegt, dem jedoch wegen vorzeitiger Freilassung wiederholt lascher und unverantwortlicher Umgang mit Kriminellen vorgeworfen wurde. Wie bereits seit Beginn von “Unternehmen Waschanlage” üblich – das unter Richter Sérgio Moro die politisch motivierte und einseitige Korruptionsbekämpfung zu Lasten der Arbeiterpartei austrug – waren Villas Bôas‘ Vorwürfe ebenso auf dem rechten Auge blind, blieben doch sämtliche Angeklagte aus dem konservativen Lager sowie alle der Gewaltübergriffe im Lande angezeigten Polizisten unerwähnt.

Das explosive Gemisch mit dem militärischen Revanchismus

Im Februar 2018 meldete sich Villas Bôas erneut zu Wort. Diesmal über die Militärintervention in Rio de Janeiro zur Bekämpfung schwerer Kriminalität, deren Hintergründe in den Nachdenkseiten (Das Spiel hinter den Kulissen der Militär-Intervention in Rio de Janeiro) ausgiebig beschrieben wurden. Bei dieser Gelegenheit warnte der Heereskommandant vor einer „neuen Wahrheitskommission“, falls Militärs wegen Erschießung und fahrlässiger Tötung Unschuldiger vor Gericht gestellt werden sollten. Damit beschwor Villas Bôas dämonische Erinnerungen von diensthabenden und pensionierten Militärs, denen die von Präsidentin Dilma Rousseff gebildete Wahrheitskommission zur Ahndung der Menschrechtsverbrechen während der Militärdiktatur (1964-1985) seit jeher als „Vaterlandsverrat“ und „kommunistischer Umtrieb“ gilt, in ihren Vereinen, in den Kasernen und ihren Medien den Sturz der Präsidentin befeuerten und die Stunde einer konservativen Wende predigten.

Bereits 2014 hatten zwei Militärs – ein ehemaliger Heereshauptmann und Parlamentarier namens Jair Bolsonaro und der diensthabende General Sérgio Westphalen Etchegoyen – lautstark gegen die Wahrheitskommission Rousseffs gemeutert. Den Zeigefinger auf die ehemalige Guerilla-Kämpferin und brutal gefolterte, politische Gefangene, Rousseff, gerichtet, nannte Bolsonaro die Kommission eine Verschwörung „zum Schutz von Terroristen“ und Etchegoyen diskreditierte die Bemühung um Wahrheit mit schwerem Geschütz. „Wenn sie gegen einen bereits verstorbenen Bürger ohne jegliche Verteidigungsmöglichkeit anlegen, führen sie Feigheit als Norm und Perversität als anklagende Technik ein“, protestierte der General.

Familiärer Hintergrund hatte Etchegoyen in Rage versetzt. Des Generals Vater Leo und Onkel Cyro Guedes Etchegoyen hatten als hohe Offiziere eine aktive Rolle am Militärputsch von 1964 inne und bekleideten wichtige Positionen in der bis 1985 bestehenden Diktatur. Die Etchegoyens waren sodann in die übelsten Menschenrechtsverletzungen durch die Diktatur involviert.

In einer Zeugenaussage vor der Wahrheitskommission vom März 2014 wurde jedenfalls Cyro Etchegoyen als damaliger Abteilungsleiter für Spionageabwehr des Nachrichtendienstes der Armee (CIE) vom reumütigen Ex-CIE-Spion und Folterknecht Paulo Malhães denunziert – der u.a. nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 in Chile im Nationalstadion von Santiago brasilianische Gefangene verhörte und eventuell nach Brasilien abführte – auch als Kommandant des Folterzentrums, genannt “Casa da Morte“ (das Todeshaus), in Petrópolis bei Rio de Janeiro. Kaum einen Monat später wurde Manhães in seinem Haus in den Bergen Rio de Janeiros tot aufgefunden; angeblich als Opfer eines Herzversagens. Die stark angezweifelten Polizeiermittlungen konnten nie überprüft werden.

Auch der Vater des Generals, Leo, wird im Abschlussbericht der Wahrheitskommission neben weiteren 300 Militärangehörigen in gewisser Weise beschuldigt, „schwere Menschenrechtsverletzungen” begangen zu haben.

Den Ruf nach Revanche, dem sich in den vergangenen Jahren hunderte diensthabender hohe Offiziere angeschlossen hatten, überließen Letztere jedoch aus taktischem Kalkül ihren pensionierten Kollegen, im Volksmund „Generäle im Pyjama“ genannt, darunter dem Bolsonaro-Berater und künftigen Minister für Innere Sicherheit, General Augusto Heleno. Dieser hatte noch während der Wahlkampagne angemahnt, „die Geschichte des Militärregimes wurde nur von einer Seite erzählt, und so unglaublich es klingen mag, ausgerechnet von den Besiegten“.

„Normalerweise erzählen die Gewinner die Geschichte. Es gibt also eine andere Version, die zur Wiederherstellung des Gleichgewichts eines Tages erzählt werden wird”, drohte Heleno durch die Blume. Die Militärs fordern also ihr eigenes Narrativ, das bereits Wochen bevor Bolsonaro überhaupt am 1. Januar das Präsidentenamt antritt, eine seit dem Ende der Diktatur nicht mehr erlebte, landesweite Denunziation und Hetzjagd auf demokratische Schullehrer und Hochschul-Professoren zur Folge hat, denen „Geschichtsfälschung“ vorgeworfen wird.

Etchegoyen, die Geheimdienste und die US-Beziehungen

Als am vergangenen 18. Oktober die Vorsitzende des Obersten Wahlgerichts (STE), Rosa Weber, eine Pressekonferenz anlässlich der Ermittlungsaufnahme über den Fake-News-Skandal in Bolsonaros Wahlkampagne gab, saß zu ihrer Linken der Chef der Geheimdienste, General Etchegoyen. Wache Journalisten in brasilianischen Medien fragten sich, was machte der General in einer Pressekonferenz zur Aufklärung einer mutmaßlichen Wahlmanipulation zugunsten seines eigenen Kandidaten, des faschistischen Hauptmanns a.D. Jair Bolsonaro? Wollte Etchegoyen etwa signalisieren, dass die Militärs ein waches Auge auf das Geschehen richteten und keine Infragestellung der Wahlen zulassen, also eine seriöse Untersuchung über den Fake-News-Tsunami von vornherein abzuwürgen drohten?

Seit dem illegalen Amtsenthebungsverfahren vom Mai 2016 gegen Dilma Rousseff und der Machtübernahme durch die Temer-Regierung leitet Etchegoyen als Vertrauter General Eduardo Villas Bôas‘ das Amt für sogenannte Institutionelle Sicherheit, dem die Geheimdienste unterstehen, und weihte mit seinem Posten auch als erster den Wiedereinstieg der Militärs in die offizielle Politik ein, die selbstverständlich mit der inoffiziellen in den Kasernen eng verzahnt ist. Etchegoyens Befugnisse und Einflussnahme erstrecken sich von der inneren Sicherheit bis zum Grenzschutz und signalisieren die Überwachung des gesamten Polizeidienstes durch das Militär, wozu nebenbei 2017 die Nominierung von Rogério Galloro zum neuen Direktor der Policia Federal (PF) – ein schwacher Abklatsch des US-amerikanischen FBI – gehörte.

Offiziell als Berater Michel Temers gehandelt, gilt der General in Wahrheit als Gehirn des post-Rousseff-Regimes, das zum ersten Mal seit 1988 neben Etchegoyen einen zweiten General, nämlich Joaquim Silva e Luna, zum Verteidigungsminister berief. Der General, der in der Vergangenheit als Militärattaché in Washington diente, pflegt enge Beziehungen zur US-amerikanischen Polizei-, Militär- und Geheimdienst-Szene.

Vier Jahre, nachdem die Welt erfuhr, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel, Präsidentin Dilma Rousseff sowie einzelne ihrer Minister und Petrobras-Direktoren von der NSA ausspioniert wurden, traf Sérgio Etchegoyen im Juni 2017 in Washington mit Leitungsbeamten des CIA und FBI zusammen. Das Treffen gipfelte in der Unterzeichnung einer seit langer Zeit von den USA angepeilten Rahmenvereinbarung, genannt „Master Information Exchange Agreement“, womit ein offizieller Austausch sogenannter „sensibler Informationen“, auch über Rüstungsgüter, in Kraft trat.

Bisher beschränkte sich die militärische Zusammenarbeit beider Staaten, inklusive des nachrichtendienstlichen Austauschs, auf den Kauf und Verkauf von Waffen. Mit der 2017-er Vereinbarung wurden strengere Sicherheitsstandards zur Vermeidung von Daten- und Informationsleaks eingeführt, hieß es in brasilianischen Medienberichten. Zur offiziellen Begründung der USA für solche Vereinbarungen gehört auch in Ländern wie Kolumbien immer wieder die angebliche Bekämpfung des Drogenhandels. Im Fall Brasiliens deshalb, weil das Land als zentraler „Korridor“ insbesondere des Kokainschmuggels nach Europa gilt.

Als damit gekoppeltem Junktim fordern die USA auch die Einbindung der Partnerregierungen in den War on Terror ein, mit der Vorschaltung der Drogenbekämpfungsbehörde DEA und dem FBI, jedoch mit der politischen Durchsetzung und Kontrolle des CIA und Pentagon. In Brasilien gibt es keine Terroranschläge, um diese Koordinierung zu rechtfertigen. In Südamerika gibt es keinen Krieg. Welcher wäre also der Grund der über das Agreement spekulierenden brasilianischen Medien, denen dazu nur eines einleuchtete: die Einkreisung Venezuelas.

Folha de S. Paulo hatte bereits im September 2013 berichtet, dass CIA-Agenten in Brasilien ungehinderten Zugang zu Einsätzen der brasilianischen PF hatten, deren Dateien anzapften sowie bei der Informationsbeschaffung und Bestechung von Mitarbeitern staatlicher und privater Unternehmen mit der PF gemeinsam operierten.

Wie der Journalist Bob Fernandes in einer Reihe von 1999 bis 2004 in der Zeitschrift Carta Capital veröffentlichter Berichte ermittelte, zahlte die DEA Einsätze der PF, einschließlich von Kommissaren, die ebenfalls Geld von der US-Botschaft erhalten hatten. Fernandes gelang die Beweisführung, dass die PF seit den 1980-er Jahren von DEA und dem CIA insgeheim befehligt wurde und sich an der an Hochverrat grenzenden Spionage gegen landeseigene Unternehmen und brasilianische Behörden beteiligte. Als Kronzeuge diente der ehemalige FBI-Chef in Brasilien, Carlos Costa, der gegenüber Fernandes im März 2004 geprahlt hatte, „Eure Bundespolizei gehört seit Jahren uns … Sie wurde für ein paar Millionen Dollar eingekauft“.

Bolsonaro und die Planungen für ein evangelikal-faschistisches Militärregime

Uneingeschränkte Verteidigung der Militärdiktatur, Rechtfertigung der Folter, Werbung für den Waffenbesitz sowie Androhung einer „harten Hand“ gegen organisiertes Verbrechen, so lauten die Einführungsworte eines führenden, jedoch in der Anonymität redenden brasilianischen Militärs, der dem Korrespondenten einer Finanzzeitung Einblick hinter die Kulissen der Wahl Jair Bolsonaros gewährte. Doch warum der argentinischen Ámbito Financiero? Mit dieser Frage beginnt das Puzzlespiel über geheimdienstliche Umwege und die abschreckenden militärischen Intentionen hinter dem künftigen Bolsonaro-Regime. Ist Jair Bolsonaro also nicht sein eigener Chefideologe?

Nein, hinter seiner Wahl verberge sich die Strategie der Streitkräfte, einen eigenen Präsidenten aufzubauen, der zur Ausrufung einer „neuen Demokratie“ verpflichtet worden sei, erklärte der anonym gebliebene Offizier gegenüber der argentinischen Publikation am vergangenen 7. Oktober unter dem Titel „Bolsonaro, un líder construido en pos de un nuevo proyecto de poder“ (Bolsonaro, ein aufgebauter Führer für ein neues Machtprojekt). Das ausgehandelte ultra-konservative politische Programm und die ultraliberale Wirtschaftsdoktrin, so der Deep Throat in Uniform, betrachte die aktive Teilnahme des Militärs am politischen Leben als Mission, die sich dem vorrangigen Ziel „der Ausmerzung der Linken, die die Gesellschaft betrügt“, verschrieben habe.

Das künftige Bolsonaro-Regime müsse eine „neue Demokratie” fördern, in der die von der brasilianischen Demokratie bisher behinderten Offiziere eine führende Rolle spielen werden. Ihre Grundlagen sind politischer Konservatismus, wirtschaftlicher Liberalismus und das Versprechen, die „Linke auszurotten“. Inhalt und Betonung der neuen Militärdoktrin lesen sich wie Faschismus in Roh-Natur.

Über die Entstehung der Bewegung erklärte der Militär, als sich 2014 der Militärputsch von 1964, genannt „Revolution“, zum fünfzigsten Mal jährte, insbesondere nachdem Dilma Rousseff gestürzt wurde, hätte die Führung der Streitkräfte mit der Suche nach einem ideenkonformen Vertreter begonnen, der ihre Interessen im Parlament vertreten könne, und die Wahl sei natürlicherweise auf Bolsonaro gefallen.

Vor einem Jahr sei die Armee zum Schluss gekommen, dass eine politische Polarisierung stattfinden und dass Bolsonaro derjenige sein würde, der die PT herausfordere. Warum? Weil die Geschichte Brasiliens zeige, dass seine Elite sich nie für die Nation als Ganzes interessiere, sondern nur an sich selbst denke. „So war uns klar, dass sich die Zentrums-Parteien nicht einigen würden, um sich der Linken zu stellen. Es war also richtig, auf Bolsonaro zu setzen“, erklärt der Anonyme in Uniform – etwa der Heereskommandant in Person? General Villas Bôas jedenfalls ist als Zyniker bekannt, der in der Öffentlichkeit mal mit einem Militärputsch droht, falls der inhaftierte Altpräsident Lula auf freien Fuß gesetzt werde, mal auch „bedaure“, einer Politisierung der Kasernen nicht Herr werden zu können. Reine Mimikry.

Der Anonyme erzählt weiter, „die Streitkräfte sollen den Status als permanente staatliche Kraft erhalten“. Die Militärs befänden sich in einer neuen Lage, die sie dazu legitimiere, als vollwertige Bürger akzeptiert zu werden. „Nicht als Bürger zweiter Klasse. Deshalb sprechen wir von einer „neuen Demokratie“, sagte er, denn „Offiziere sind sehr qualifizierte Leute, wir kennen Sprachen, wir haben Doktoranden, wir müssen damit Schluss machen, dass wir keine Minister sein dürfen“. Die fundamentalistischen Militärs sehen sich als „Christen“, zumeist aus der evangelikalen Szene, und neu an ihrer Doktrin ist, dass sie zwar Hohelieder auf die Militärdiktatur singen, jedoch mit ihrem Entwicklungs-Nationalismus nichts mehr am Hut haben.

Einzelne Säulen der sogenannten „neuen Demokratie” seien die Bekämpfung von Korruption, die Sicherheitsfrage, eine Steueranpassung, Rentenreform, Verbesserungen im Verkehrswesen und sogar – warum nicht? – auch das „Thema Frauen”. „Wirtschaftsnationalismus ist nicht mehr unser Programm, das überlassen wir der Arbeiterpartei. Jetzt ist Zeit für den Liberalismus. Das ist, was wir Bolsonaro sagten. Wir wollen ein Land, das so frei wie möglich ist, was uns radikal abgrenzt von der PT”.

Am 1. Januar 2019 startet sie, die „neue Demokratie”. Und zwar mit verschärfter Gewalt und Schießbefehl.


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