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Titel: „Kapitalistischer Sowjetismus“ – EU-Wettbewerbskommissarin Kroes greift in die Rundfunkfreiheit Deutschlands ein

Datum: 4. März 2005 um 17:44 Uhr
Rubrik: Europäische Union, Medien und Medienanalyse, Medienkonzentration, Vermachtung der Medien
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Der Staat darf in die grundgesetzlich garantierte Rundfunkfreiheit nicht eingreifen, die Brüsseler EU-Kommission soll das aber offenbar dürfen. Nach Meinung der Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes verzerrt der staatsfreie, öffentlich-rechtlich organisierte Rundfunk den Wettbewerb, weil er sich über Gebühren und nicht über den Markt finanziert. Deshalb stehe das Rundfunksystem in Deutschland und damit unser Grundgesetz nicht im Einklang mit dem EU-Recht. Im Namen der Wettbewerbsfreiheit soll nun die Rundfunkfreiheit in Deutschland einer Vielzahl von Auflagen und Einschränkungen vor allem im Hinblick auf seine zukünftigen Entwicklungschancen unterworfen werden. Zu Recht sprach der wdr-Intendant Fritz Pleitgen von der Gefahr eines „kapitalistischen Sowjetismus“.

Wer sich einmal durch das amerikanische Fernsehen oder kommerziell organisierte Rundfunkangebote anderer Länder gezappt hat, der weiß, was er am öffentlich-rechtlich organisierten, durch gesellschaftliche Gruppen kontrollierten Rundfunk in Deutschland hat immer noch hat, auch wenn man einschränkend hinzufügen muss, das sich bei uns inzwischen die „Öffentlich-Rechtlichen“ dem Konkurrenzdruck des „Kommerzfunkes“ ein Stück weit gebeugt haben.

Wenn jedoch Rundfunkprogramme vollends zu einem Anhängsel des Werbemarktes werden, dann dient das Programm eben vor allem dem Wettbewerb um Einschaltquoten von Konsumenten. Wir kennen das ja von unseren kommerziellen Sendern: Es geht um Massenattraktivität, um Programme auf dem möglichst niedrigsten gemeinsamen Nenner des Geschmacks, vor allem um das Ansprechen von Masseninstinkten, um Fiktion, um Crime, um Sex, um Gewalt, um Voyeurismus vom Kinderkanal bis zum Nachtprogramm – und um immer mehr vom Gleichen.
Unser Grundgesetz hat sich gegen diesen „Wettlauf nach unten“ entschieden: Es garantiert dem Rundfunk die Freiheit, als „Faktor und Medium“ der öffentlichen und demokratischen Meinungsbildung zu wirken und spricht ihm einen Informations-, Bildungs- und Kulturauftrag zu. Leitprinzipien für ein Rundfunkprogramm also, die eine völlig andere (demokratische) Steuerung und Finanzierung von Hörfunk und Fernsehen verlangen, als der Wettbewerb um möglichst hohe Werbeanteile, dem das Programm untergeordnet ist und sein muss, um sich zu refinanzieren.

Man mag am öffentlich-rechtlichen Rundfunk, an seinem Programm oder an seinen Kontrollorganen zu Recht viel Kritik üben, aber dass es nach wie vor für unsere Demokratie, für unsere Kultur, für unsere Informationsvielfalt und für die Qualität des Programms ein Glücksfall ist, dass es ihn (noch) gibt, sieht und hört jeder nahezu täglich, wenn er die entsprechenden Angebote der privaten „Konkurrenz“ vergleicht.
Jedenfalls müsste man zu diesem Urteil gelangen, wenn man vom Rundfunk mehr verlangt, als dass er ein Suchtangebot für Kinder, ein Ablenkungsmittel vor der Wirklichkeit und ein Fluchtweg in eine mediale Scheinwelt für seine Zuschauer darstellt.

Nun hat auch der europäische Grundrechtekonvent vor allem auf deutsches Drängen hin, einen Artikel in die EU-Charta aufgenommen, wonach „die Freiheit der Medien und ihre Pluralität geachtet“ werden müssen (Art. 11 Abs. 2), aber offenbar scheint die EU-Kommission der Auffassung zu sein, dass der Wettbewerb über allen anderen zu „achtenden“ Rechten, wie etwa der Kulturhoheit oder der Rundfunkfreiheit steht.

Der Wettbewerb als oberstes Gestaltungs- und Lenkungsprinzip, auch gegenüber der Rundfunkfreiheit, die ja nach unserer Verfassung demokratiekonstituierende Bedeutung hat, das bedeutet in der Tat kapitalistische „Räteherrschaft“ durch die Brüsseler Kommissare und einen Angriff auf einen Eckstein der Demokratie, so wie sie von unserem Grundgesetz vorgegeben ist. Wenn die Unterordnung des Rundfunks unter den Kommerz und das Zurückdrängen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in „Marktnischen“ die Zukunft der politischen Union in Europa sein soll, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn sich immer mehr Menschen vom Europagedanken abwenden und die europäische Verfassung immer härter kritisiert wird. Die Brüsseler Kommission hat mit ihren gestrigen 65-seitigen Beanstandungen gegenüber dem deutschen Rundfunksystem der demokratischen Entwicklung in Deutschland und Europa und dem europäischen Gedanken insgesamt einen schweren Schaden zugefügt.

Eine lesenswerte Entgegnung zu dem auf Betreiben des Verbandes Privater Rundfunk und Telekommunikation (VPRT) vorgetragenen Angriff der EU-Kommission auf das deutsche Rundfunksystem finden sie unter: www.mdr.de [PDF – 100 KB].


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