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Titel: Gunnar Heinsohn und die „Aufartung“ des deutschen Volkes

Datum: 25. März 2010 um 8:52 Uhr
Rubrik: Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Sozialstaat, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Historische Parallelen sind stets fragwürdig. Besonders problematisch werden sie, wenn die deutsche NS-Vergangenheit bemüht wird, um in denunziatorischer Absicht aktuelle Gescheh­nisse zu kommentieren. Denn ein Regime, das unter neuzeitlichen Bedingungen und in kühler Rationalität den industriell durchgeführten Massenmord praktizierte, entzieht sich jedem Ver­gleich. Wenn der Autor dieser Zeilen gleichwohl den Aufsatz von Gunnar Heinsohn „Sozial­hilfe auf fünf Jahre begrenzen“ in der FAZ vom 17.03.10 zum Anlass nimmt, auf Affini­täten zur NS-Ideologie in diesem Text hinzuweisen, so ist er sich dieser Problematik bewusst. Von Friedhelm Grützner

Der Nationalsozialismus „fiel nicht vom Himmel“. Er beruhte nicht auf dem Einbruch des Ur-Bösen in eine grundgute Welt. Er ist auch nicht auf Auschwitz zu reduzieren. Seine geistigen Wurzeln sind äußerst heterogen und befinden sich weitverzweigt im Ideenhaushalt des 19. und frühen 20. Jahrhundert. Erst ihr Zusammenschießen in einer konkreten historischen Situ­ation und ihre daran anschließende „kumulative Radikalisierung“ führten zu jenen monströsen Verbrechen, die zu Recht als absolut singulär bezeichnet werden und die sich jeder Gegen­überstellung entziehen.

Bezogen auf den Aufsatz von Gunnar Heinsohn lasse ich all die atavistischen Traditionsele­mente des deutschen Nationalsozialismus (Blut-und-Boden-Romantik, Agrar- und Mittel­standsutopien etc.) beiseite. Hier geht es um jene Vorstellungsgehalte, die damals auch außer­halb seines Spektrums (übrigens partiell bis in sozialistische Kreise hinein) als ausgesprochen modern galten, und die er sich einzuverleiben verstand. Die Biologie als Leitwissenschaft voraussetzend waren dies der Sozialdarwinismus, die Eugenik als Sozialtechnologie und ein radikalisierter Utilitarismus. Hinzu trat der Elitismus der Konservativen Revolution – es sei an die Demokratiekritik von Edgar Julius Jung unter dem Titel „Die Herrschaft der Minderwerti­gen“ erinnert -, deren Vertreter zwar verächtlich auf den unterbürgerlichen braunen Pöbel der NSDAP hinabblickten, die aber gleichwohl dem Regime wichtige intellektuelle Handlanger­dienste leisteten und später in hohen Positionen bei der SS zu reüssieren wussten. In diesem Sinne darf man Gunnar Heinsohn auch nicht auf eine Stufe mit dem Stammtischdemagogen Thilo Sarrazin stellen. Letzterer wäre mit den „Radauantisemiten“ zu vergleichen, während ersterer den Oswald Spengler abgibt, der zwar nicht den „Untergang des Abendlandes“ be­schwört, aber dafür den von Deutschland.

Heinsohns Gedanken kreisen um den Fortbestand des deutschen Volkes und um die Qualität seines Genpools. Und hier hat er Anlass zur Sorge. „Von 100 Kindern, die Deutschland benö­tigt, um nicht weiter zu schrumpfen und zu vergreisen, werden 35 gar nicht geboren. … Von den 65 Kindern, die auf die Welt kommen, gelten später 15 als nicht ausbildungsreif. … Eine demographische Zukunft haben nur die Bildungsfernen. So besteht im Februar 2010 die Hartz-IV-Bevölkerung (sic!) von 6,53 Millionen Menschen zu 26 Prozent aus Kindern unter 15 Jahren (1,7 Millionen). Im leistenden Bevölkerungsteil (sic!) von 58 Millionen unter 65 Jahren dagegen gibt es nur 16 Prozent Kinder (6,5 Millionen).“ Fazit: Innerhalb der eh schon viel zu niedrigen Reproduktionsquote vermehrt sich „die vom Sozialstaat unterstützte Unter­schicht“ überproportional. Dies stelle „eine Bedrohung für die Wirtschaft, für den Sozialstaat, das Gemeinwesen insgesamt“ dar, so „dass es unter den Demographen kaum einen gibt, der dem Land noch Hoffnung macht“.

Um diese angebliche Bedrohung für unser Land abzuwehren und die Zunahme des sozial un­erwünschten Nachwuchs abzubremsen, plädiert Heinsohn dafür, hierzulande die repressive Sozialpolitik Bill Clintons zu kopieren und die Sozialunterstützung (also Hartz IV) nur noch für fünf Jahre zu zahlen. Ob die davon betroffenen Eltern und Kinder danach verhungern, obdachlos werden oder in die Armutskriminalität abrutschen, erörtert er nicht weiter. Hier auf den „Nachdenkseiten“ ist zur Bewertung des von ihm aufgeführten empirischen Materials bereits das Nötige gesagt worden. Rein polemisch kann ich noch hinzufügen, dass die USA im Vergleich zu Westeuropa es mit der Bewältigung von Armutsproblemen auch einfacher haben. Ihr Rechtssystem verfügt über die Todesstrafe. Und die Folgen, die sich aus Armuts­kriminalität und sozialer Deprivation ergeben, lassen sich dort notfalls durch das justizför­mige Totspritzen der Betroffenen erledigen. Auch so kann man den sozial unerwünschten Bevölkerungsteil zum Wohle des „Gesamtnutzen“ dezimieren.[1]

Ich lasse mal die empirisch höchst fragwürdige These von Heinsohn, dass die „Unterschicht“ bewusst und in zweckrationaler Absicht zur Unterhaltssicherung vermehrt Kinder in die Welt setzt, beiseite. Er folgt hier ganz offensichtlich dem ebenso fragwürdigen Axiom der neoklas­sischen Volkswirtschaftslehre, welche den Menschen nur als nutzenmaximierenden „Pawlow­schen Hund“ kennt, den es durch „Anreizsysteme“ zu konditionieren gilt.[2] Ebenso berück­sichtige ich nicht, dass es historisch gesehen stets die „Unterschichten“ waren, welche im Vergleich zum Adel und zum gehobenen Bürgertum über hohe Geburtenraten verfügten und für die demographischen Anstiege verantwortlich waren. Ich verweise hier nur auf die Bevöl­kerungsexplosion in den unterbäuerlichen Schichten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die ur­sächlich für die Pauperisierungskrise der 1830er Jahre war. Mir geht es hier ganz konkret um die tatsächlich lebenden Kinder (und ihren Eltern), denen nach den Vorstellungen von Hein­sohn nach fünf Jahren ALG II (oder einer ähnlichen Sozialleistung) die „Stütze“ gestrichen werden soll. Ich gehe nicht davon aus, dass der Autor diese Menschen als „sozial unwertes Leben“ schlicht verhungern lassen will. Auch nehme ich nicht an, dass er brasilianische Zu­stände für wünschenswert hält, wo Straßenkinder dem Mord und Totschlag preisgegeben sind Auch Zustände wie in den französischen Banlieus dürften für ihn nicht akzeptabel sein. Aber was dann? Konsequent zu Ende gedacht führt die Argumentation von Heinsohn zu einer staatlich reglementierten Geburtenkontrolle durch Zwangssterilisation und Zwangsabtreibung, um die Existenz „sozial unwerten Lebens“ und „nutzloser Esser“ zu verhindern. Und wenn wir dann noch das Mutterkreuz für Akademikerinnen einführen, damit diese endlich ihrer bevölkerungspolitischen Pflicht gegenüber dem „Volksganzen“ nachkommen, dann ist schon eine Menge getan, um im Sinne Heinsohns für eine „Aufartung des deutschen Volkes“ zu sorgen.[3]
Hier ist der Hinweis wichtig, dass Heinsohn nicht in einem völkischen Kontext argumentiert. Prinzipiell ist er bezogen auf die Zuwanderung – ganz anders als seine Vulgärausgabe Saraz­zin – kosmopolitisch, weltoffen und vorurteilsfrei. Wenn die „Aufartung des deutschen Vol­kes“ davon profitiert, dann sind ihm auch „qualifizierte“ Zuwanderer willkommen. In diesem Zusammenhang verweist der Autor ausdrücklich auf „aufgeklärte Iraner“, russische Juden und Vietnamesen, „deren Kinder bessere Abiturnoten als der Nachwuchs des deutschen Bildungs­bürgertums schaffen“. Leider sei nun aber festzustellen, dass die Zuwanderung ganz anders verlaufe und dem „Volkskörper“ eher Schaden zufüge.

„Deutschland rekrutiert seine Ein­wanderer vorrangig nicht aus Eliten, sondern aus den Niedrigleistern des Auslandes, weshalb man eben nur etwa 5 Prozent qualifizierte Einwanderer gewinnt. Und deren Nachwuchs schleppt die Bildungsschwäche weiter.“ Anstelle früher bedeutsamer „Rassemerkmale“ und Abstammungskriterien treten heute der Intelligenzquotient und PISA-Testergebnisse, um Menschen als sozial erwünscht oder als sozial belastend ein- und auszusortieren. Sozialdar­winistische und biologistische Sichtweisen kommen heute ohne jeden Rassismus aus. In einer globalisierten Welt wäre letzterer auch eher anachronistisch und für die Geschäfte hinderlich.

Der Beitrag von Gunnar Heinsohn beschränkt sich nicht auf eine deskriptive Problemanalyse, zu der man theoretisch und empirisch dies oder jenes kritisch anmerken kann, sondern er lie­fert auch politische Handlungsvorschläge, womit er die deskriptive Ebene verlässt und den Bereich der politischen Ethik betritt. Und hier wird deutlich, dass der Autor einen strikt utili­taristischen Ansatz vertritt, welcher den ökonomischen Gesamtnutzen für „Deutschland“ (was immer das auch sein mag) dem individuellen Recht der Menschen vorordnet. Mit einer Poli­tik, die als normative Prämisse von der „Gleichheit all derer“ ausgeht, „die Menschenanlitz tragen“[4], sind solche Auffassungen unvereinbar. Sie sind auch unvereinbar mit Vorstellungen von Menschen als moralischen Subjekten – wozu jeder Hartz-IV-Empfänger, jede alleinerzie­hende Mutter, jedes arme Kind sowie der ungebildeteste Migrant gehören -, die als solche alle den gleichen Anspruch auf Achtung und Respekt haben. Die moralische Subjekthaftigkeit eines jeden Einzelmenschen verbietet es der Politik, ihn ausschließlich unter Nützlichkeitsas­pekten zu betrachten und darauf bezogene Programme zu entwickeln. Heinsohns subjektver­achtender Utilitarismus negiert diese humanitären Errungenschaften der Aufklärung. Sein Beitrag ist ein Stück Gegenaufklärung – eine Gegenaufklärung allerdings, die sich nicht der verquollenen Sprache der Politischen Romantik bedient, sondern in einer technokratischen Diktion daherkommt, die für unsere „Modernisierer“ anschlussfähig ist.
Mit seinen Überlegungen steht Heinsohn auch im Widerspruch zur kürzlich erfolgten Ent­scheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Hartz-IV-Regelsatz. In diesem Urteil haben die Richter aus den Artikeln 1 GG (Menschenwürde) und 20 GG (Sozialstaatsgebot) ein poli­tisch unverfügbares Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum abgeleitet. Ir­gendwelche bevölkerungspolitische Überlegungen, die mit Rücksicht auf die Zusammenset­zung des deutschen Genpools dieses Grundrecht relativieren, sind im Urteil nicht aufzufinden. Auch das von interessierten Kreisen immer wieder beschworene „Lohnabstandsgebot“ taucht dort nicht auf. Das Bundesverfassungsgericht folgt hier den besten Traditionen des politischen Liberalismus, wonach Grundrechte unabhängig vom sozialen Status unmittelbar und voraus­setzungslos an der Person haften und sich jeder Unterordnung unter gesellschaftliche Utili­tätszwecke entziehen. Damit ist Heinsohns Vorschlag, Hartz-IV-Empfängern nach fünf Jahren die Stütze zu entziehen, um sie zu „Erziehungszwecken“ dem Hunger und der Obdachlosig­keit auszusetzen, verfassungswidrig und politisch nicht durchsetzbar.

Unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten ist auch die Sprache des Beitrages verräte­risch. Da wird die „Hartz-IV-Bevölkerung“ als parasitärer Teil der Gesellschaft („die vom Sozialstaat unterstützte Unterschicht“) dem „leistenden Bevölkerungsteil“ dichotomisch ge­genübergestellt. Nun bilden aber sowohl die „Hartz-IV-Bevölkerung“ als auch der angeblich „leistende Bevölkerungsteil“ gemeinsam das „souveräne Volk“, von dem alle Staatsgewalt ausgeht. Der ALG-II-Empfänger verfügt über die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und über das gleiche Wahlrecht wie die sogenannten „Leistungsträger“. Wenn wir nun Heinsohns Hor­rorszenario von der sich überproportional vermehrenden Unterschicht zugrundelegen, dann wächst auch überproportional der Anteil der Stimmbürger, die von Transferleistungen abhän­gig sind und die gegebenenfalls mit ihren Wahlentscheidungen eine den „Leistungsträgern“ genehme parlamentarische Mehrheit verhindern. Dies war ja bereits bei den Bundestagswah­len 2005 der Fall, als DIE LINKE einen parlamentarischen Sperrriegel legte, welcher die si­cher geglaubte – und zum „Durchregieren“ fest entschlossene – schwarz-gelbe Kombination unmöglich machte. Seitdem leben zumindest Angela Merkel und die CDU (wie es sich ge­hört) „in der Furcht des Herrn“.

Und hier stellt sich über den Text von Heinsohn hinausgehend eine ganz prinzipielle Frage: Wie viel materielle Ungleichheit kann sich eine Gesellschaft leisten, die in ihrer politischen Verfasstheit auf dem egalitären Staatsbürgerstatus und auf dem egalitären Wahlrecht beruht? Denn seit das egalitäre Wahlrecht (suffrage universel) existiert, war in ihm stets die Drohung angelegt, dass die have nots die haves ganz demokratisch majorisieren. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde diese Drohung im Bürgertum als sehr real empfunden und beherrschte beispielsweise die Einreden gegen eine Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts. In historischer Perspektive laufen die sukzessive Ausweitung des Wahlrechts, der Ausbau des Sozialstaats und der tendenzielle Abbau gesellschaftlicher Ungleichheiten parallel. Seit ca. 30 Jahren beobachten wir nun, dass sich soziale Räume wieder schließen und die gesellschaftli­che Ungleichheit zunimmt. Aus marktradikaler Sicht könnte dies zu einer Delegitimierung des egalitären Wahlrechtes führen. Denn warum sollen von staatlichen Leistungen abhängige Transferempfänger mit ihren Wahlvoten an der Zusammensetzung von Parlamenten mitwir­ken, die über diese Transfers entscheiden? Und warum sollen von Transferempfängern in staatsbürgerlicher Gleichheit mitbestimmte Parlamente über Steuereinnahmen und Steuerver­wendungen befinden, obwohl ein zur Mehrheitsbildung eventuell relevanter Teil der Wähler an deren Zustandekommen nicht beteiligt ist, aber von ihnen leben will? Bisher sind diese Fragen nur in obskurantistischen Kreisen der Jungen Union oder von Betriebswirtschaftspro­fessoren aus der dritten und vierten Reihe erörtert worden. Sie drängen sich aber mit zwin­gender Logik auf, wenn wir die Prämissen des Beitrages von Gunnar Heinsohn zugrundele­gen.

Seit Edmund Burke gehört es durch alle Metamorphosen hindurch zu den unhintergehbaren Voraussetzungen des politischen Konservativismus, dass gesellschaftliche Macht- und Un­gleichheitsverhältnisse ein vorgefundenes „natürliches“ oder „gottgewolltes“ Sein darstellen. Versuche, dieses „Sein“ zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verändern, gilt als anmaßender Frevel. Allenfalls sind „organische“ Korrekturen erlaubt, welche aber an der Grundsubstanz des „Seins“ nichts verändern dürfen. Ganz ähnlich verfährt Gunnar Heinsohn. An keiner Stelle fragt er in seinem Aufsatz danach, wie es zu den von ihm beklagten Zuständen kommen konnte. Im Golden Age des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg schien sich das Unter­schichtenphänomen als drängendes Problem aufzulösen. Das Proletariat „verbürgerlichte“ zum Kummer so mancher sozialistischer Prinzipienreiter und nahm im Rahmen des „instituti­onalisierten Klassenkompromisses“ am allgemeinen Wohlstand teil. In den 70er Jahren ver­breiterte sich die Bildungsbeteiligung. Ehemals proletarische und unterbürgerliche Schichten besuchten in einem bis dahin nicht bekannten Ausmaß das Gymnasium und bevölkerten die Universitäten. Eine Diskussion über angeblich parasitäre „Unterschichten“, die in ihrem Ver­mehrungsdrang nur „kleine Kopftuchmädchen produzieren“ (Thilo Sarazzin) oder mit ander­weitigen „nutzlosen Essern“ den deutschen Genpool verunzieren, gab es schon deshalb nicht, weil sie keinen Anhalt in der Realität gehabt hätten. Auch ist mir aus dieser Zeit nicht be­kannt, dass Arbeitslose besonderer „aktivierender“ Maßnahmen bedurften. Die Arbeitslosen­quote lag damals ohne Hartz IV und dem damit verbundenen Repressions- und Beaufsichti­gungsapparat irgendwo unter 1 Prozent. Was hat sich da bloß geändert?

Im historischen Rückblick stellen wir fest, dass die Zivilisiertheit oder Unzivilisiertheit eines Volkes abhängig ist von der möglichen oder verweigerten materiellen Bedürfnisbefriedigung der „Massen“ sowie ihrer Beteiligung oder ihres Ausschlusses von Bildung. „Unterschichten“ und ihre soziale Deprivation sind das Produkt materieller Not. Wenn Heinsohn wirklich wis­sen will, dass „Unterschichten“ tatsächlich sind, dann sei ihm die Lektüre der einschlägigen Werke von Charles Dickens und von Eugene Sue empfohlen. Materielle Not und Bildungs­ausschluss führten in den Unterschichten vergangener Zeiten stets zu einer Brutalisierung der Sozialverhältnisse. Im England der frühen Neuzeit und zu Beginn des Frühkapitalismus wurde beispielsweise jedes banale Eigentumsdelikt mit dem Galgen bestraft, was als zusätzli­cher Brutalisierungseffekt auf die davon betroffenen Unterschichten zurückwirkte.[5]

Nun beobachten wir seit den 80er Jahren entgegen dem vorhergehenden Trend des Golden Age die erneute Zunahme gesellschaftlicher Ungleichheit. Während Löhne und Gehälter stag­nieren oder gar real zurückgingen, explodierten die Einkommen aus Kapital und Vermögen. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse, ein ausgebauter Niedriglohnsektor und das sich ausbrei­tende Subproletariat aus „überflüssigen“ Langzeitarbeitslosen produzierten jene „Unter­schicht“, die Autoren wie Heinsohn heute als zunehmende gesellschaftliche Bedrohung emp­finden. In böswilliger Weise unterschlägt dabei der Autor, dass die Existenz dieser „Unter­schicht“ auf politischen Entscheidungen und politökonomischen Prozessen beruht, die diese Menschen nicht zu vertreten haben. Hier wird von ihm einfach Ursache und Wirkung ver­tauscht. Heinsohn wird doch wohl einem einigermaßen gebildeten Mitteleuropäer (wovon ich allerdings besonders bornierte neoliberale FAZ-Leser ausschließe) nicht weismachen können, dass die Arbeitslosen von heute so viel fauler sind als die der 70er Jahre, und dass sie deshalb besonderer „Aktivierungsmaßnahmen“ bedürfen. Denn es fehlen schlicht die adäquaten Ar­beits­plätze, die es den Leuten ermöglicht, durch ein existenzsicherndes Einkommen ein men­schenwürdiges Dasein zu führen, um so sozialer Deprivationen zu entgehen. Die Menschen sind immer dieselben. Ändern tun sich lediglich die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie leben. Gesellschaften, welche große Teile der Bevölkerung in materielle Armut stürzen und durch ein rigide gehandhabten dreigliedriges Schulsystem, Studiengebühren usw. von der Bildung ausschließen, müssen sich nicht wundern, wenn sie mit genau jenen Deprivations- und Brutalisierungserscheinungen konfrontiert werden, die wir aus früheren von Ungleichheit geprägten Zeiten kennen.

Selbstverständlich muss es Ziel politischen Handelns sein, die Existenz transferabhängiger „Unterschichten“ zu minimieren und ihre Angehörigen in ein existenzsicherndes Berufsleben einzugliedern. Dafür ist allerdings eine Politik nötig, die mit der vorherrschenden Dogmatik der Neoklassik und ihrer einseitigen Ausrichtung an den Interessen der Vermögens- und Ka­pitalbesitzer bricht, welche die Un­gleichgewichte bei den Einkommen beseitigt und für annä­hernde Vollbeschäftigung sorgt. In der Bildung brauchen wir eine Öffnung des Schulwesens (analog zu Skandinavien) und die Abschaffung von Studiengebühren, womit auch Kindern aus bisher bildungsfernen Schichten die Möglichkeit eröffnet wird, einen höheren Schulbe­such und ein Universitätsstudium zu erreichen. Ein solches Politikprogramm liest sich natür­lich ganz anders als die sozialrepres­sive und biologistisch ausgerichtete „Aufartung des deut­schen Volkes“ a la Heinsohn, welche die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse mit all ihrer Not und ihrem Elend als unhinter­gehbar hinnimmt und ihre Voraussetzungen nicht in Frage stellt. Ein solches Politikprogramm würde den Menschen in ihren Rechten und ihrer Würde gerecht und würde gleichzeitig den utilitaristisch verstandenen Gesamtnutzen fördern. Allerdings stehen ihm derzeit mächtige und finanzkräftige Interessen entgegen, welche sich einen Gunnar Heinsohn als Lohnschrei­ber halten können. Folglich werden wir uns als treue Töchter und Söhne der europäischen Aufklärung noch einige Zeit sozialdarwinistischer und biologistischer Gedankengänge zu erwehren haben.


[«1] Eine Anekdote am Rande: Als Hartz IV eingeführt wurde, sprach ich vom „Selbstmordförderungsprogramm für Langzeitarbeitslose“, eine Bezeichnung, die ich auf der Grundlage des Utilitarismus auch zu begründen wusste. Denn je mehr nicht vermittelbare Arbeitlose den suizidalen Ausweg wählen, umso stärker werden die Sozialkassen zum Wohle des Gesamtnutzens entlastet. Als ich in der Organisationsphase der Argen beim Ar­beitsamt anrief, um eine Frage zu klären, bat ich die Telefonistin, mich mit der Stelle zu verbinden, die für das Selbstmordförderungsprogramm für Langzeitarbeitslose zuständig sei. Die Antwort: „Einen Augenblick, ich verbinde!“

[«2] Die in diesen Tagen in den Gazetten diskutierte Problematik der ungewollten Schwangerschaften von ALG-II-Empfängerinnen, die sich in erhöhten Schwangerschaftsabbrüchen bei diesem Personenkreis widerspiegelt, und die daran anknüpfende Debatte über die kostenlose Abgabe von Verhütungsmitteln als Sonderleistung außerhalb des Regelsatzes widerspricht den ökonomischen Rationalitätskalkülen, die Heinsohn hier geltend macht. Diese Thematik taucht dann auch folgerichtig in seinem Beitrag nicht auf.

[«3] Bei dem Begriff „Aufartung“ handelt es sich um einen Fachterminus der SS. Ziel war die genetische „Säube­rung“ des „Volkskörpers“ durch Zwangssterilisation, Zwangsabtreibungen und Euthanasie, während er gleich­zeitig durch Menschenzüchtung und Verschleppung „rassisch wertvoller“ Bestandteile aus den besetzten Gebie­ten „veredelt“ werden sollte.

[«4] So lautet eine berühmte Formulierung in der von Thomas Jefferson verfassten Unabhängigkeitserklärung der USA.

[«5] In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Schreckensherrschaft während der Französischen Revo­lution 1793/94 von den Pariser Unterschichten aktiv getragen wurde, womit sie sich für all die vorangegangenen Demütigungen durch die Oberklassen rächten. Die Robespierristen waren hier mehr Getriebene als Treiber.


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