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Titel: Feindbild Islam: „Institutioneller Rassismus als gesellschaftspolitisches Fundament“

Datum: 9. April 2019 um 11:00 Uhr
Rubrik: Anti-Islamismus, Erosion der Demokratie, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Interviews
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„Diskriminierende Vorurteile“, sagt der Menschenrechtsanwalt Eberhard Schultz, „werden auch bei uns häufig durch persönlichen Kontakt und Kennenlernen gegenüber diesen Menschen fallengelassen, der institutionelle Rassismus als gesellschaftspolitisches Fundament kann aber nur überwunden werden, wenn er richtig erkannt und systematisch bekämpft wird.“ Im Interview mit den NachDenkSeiten zeigt Schultz, wie das „Feindbild Islam“ in Deutschland aufgebaut wird und erklärt, was es mit einem „institutionellen Rassismus“ auf sich hat. Schultz warnt außerdem vor der Einschränkung von Bürger- und Freiheitsrechten: „Wir sind längst auf dem Marsch in einen autoritären Hochsicherheitsstaat.“ Von Marcus Klöckner.

Herr Schultz, ist der Islam zu einem Feindbild in unserer Gesellschaft geworden?

Ja, es ist an die Stelle des Feindbildes Kommunismus getreten, das die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts beherrscht hat. Seitdem George W. Bush den unbegrenzten »Krieg gegen den internationalen islamischen Terrorismus« in der ganzen westlichen Welt ausgerufen hat, ist das der Fall. Bei uns ist das Feindbild Islam spätestens seit Sarrazins Machwerk »Deutschland schafft sich ab« vorherrschend geworden.

Wie äußert sich das?

In den täglichen Horrormeldungen über islamistische Anschläge in der ganzen Welt, den zumindest maßlos aufgebauschten Verbrechen vor unserer Haustür, dem anschwellenden Gesang über die bevorstehende „Islamisierung Deutschlands“, den immer mehr ausufernden Integrationsforderungen und vor allem immer neuen staatlichen Maßnahmen, Gesetzen und Verordnungen gegen die angeblich zunehmende Kriminalität und Gefährdung durch Islamisten.

Sie haben gesagt, in Deutschland gibt es einen „institutionellen Rassismus“. Was meinen Sie damit?

Dazu müssen wir zunächst klären, was heute unter Rassismus zu verstehen ist.

Gerne.

Ich begegne immer wieder auch gerade in Verfahren vor Gericht der Ansicht, unter Rassist müsste immer noch und vor allem der Glatzkopf mit Springerstiefeln verstanden werden. Diese Neonazis gibt es sicher auch noch. Aber unter Rassismus wird in der internationalen Wissenschaft und im Völkerrecht in den einschlägigen Normen ein sehr viel weiterer Begriff verstanden.

Nämlich?

Die Zuschreibung von ethnischen, religiösen oder anderen äußeren Merkmalen, die abwertend verwandt werden. Deshalb ist auch die Bezeichnung einer Person als Rassist entgegen einer auch in der Justiz weitverbreiteten Ansicht keine Beleidigung, sondern zunächst eine objektive Feststellung, wie die, jemand sei Ökonomist oder gehöre einer bestimmten Schicht an. Mit dem Begriff des „institutionellen Rassismus“ übernehme ich einen Begriff, der vom Untersuchungsausschuss des britischen Parlaments in einem Mordfall an einem Migranten im letzten Jahrhundert entwickelt wurde; darin wurde ein völliges Versagen aller damit befassten Behörden aus rassistischen Gründen analysiert.

Manche sagen gerne, dass Rassismus in vielen Ländern existiert. Was halten Sie dem entgegen?

Zum einen unterscheide ich zwischen diskriminierenden Vorurteilen und Rassismus. Sicher sind diskriminierende Vorurteile gegen »Fremde« die als anders, minderwertig, angesehen werden – weit verbreitet. Aber gerade von Besuchern aus der Türkei und dem Nahen Osten höre ich immer wieder erstaunliche Reiseberichte auch aus ländlichen Gegenden, wie offen, respektvoll und gastfreundlich sie von wildfremden »Einheimischen« empfangen worden seien. Zum anderen müssen wir unterscheiden zwischen Diskriminierungen aufgrund von Zuschreibungen, Vorurteilen einerseits und dem Rassismus anderseits. Dieser geht einher mit Ausgrenzungen und der Entrechtung einer Minderheit, also einem hegemonialen Aspekt, der in der modernen kritischen Wissenschaft zum Begriff dazu gehört.

Dazu noch eine interessante Erfahrung, die ich auch als Rechtsanwalt immer wieder gemacht habe: Diskriminierende Vorurteile werden auch bei uns häufig durch persönlichen Kontakt und Kennenlernen gegenüber diesen Menschen fallengelassen, der institutionelle Rassismus als gesellschaftspolitisches Fundament kann aber nur überwunden werden, wenn er richtig erkannt und systematisch bekämpft wird. Sonst werden Ausgegrenzte, Benachteiligte und Angehörige von Minderheiten gegeneinander ausgespielt, ja es besteht sogar die Gefahr, dass sie sich sogar für den Rassismus einspannen lassen (Wie schon Hannah Arendt für die Juden zur Zeit des Faschismus analysiert hat).

Der Vorwurf institutioneller Rassismus wiegt schwer. Wie begründen Sie ihn?

Mit einer kritischen Dokumentation von mehreren Dutzend Fällen aus meiner Praxis, die aber sicher nur die Spitze des Eisberges sind, mit Gesetzen, Maßnahmen, Urteilen und Berichten von Verfassungsschutz und anderen Geheimdiensten. Dazu passend Maßnahmen und Stellungnahmen von Regierung und anderen Institutionen.

Würden Sie bitte ein konkretes Beispiel anführen?

Nehmen wir die Debatte um das Kopftuchverbot und die Folgen als Beispiel: In Dresden wurde die hochschwangere Ägypterin Marwa El Sherbini, eine Apothekerin, die in ihrer Wohnsiedlung von einem weißen Nachbarn wegen ihres Kopftuches schwer beleidigt worden war und die diesen deshalb angezeigt hatte, vor fast zehn Jahren von diesem weißen Rassisten im Gerichtssaal des Landgerichts vor den Augen der Richter mit einem langen Küchenmesser erstochen, das er unbehelligt in den Gerichtssaal hatte mitbringen können – nicht einmal ein Gerichtsdiener war im Saal anwesend.

Der Fall wurde bundesweit bekannt.

Ja. Ihr Ehemann, der in Dresden an seiner Doktorarbeit arbeitete, versuchte vergeblich, sich dem Täter, der auf die Frau einstach, entgegenzustellen, wurde dabei selber schwer verletzt und musste in der Intensivstation eines Krankenhauses um sein Leben kämpfen.

Wie passt der Fall nun zu einem institutionellen Rassismus?

Lassen Sie mich bitte schildern, wie der Fall weiterging.

Ein zufällig im Gericht anwesender Bundespolizist, der auf den Hilferuf aus dem Gerichtssaal angelaufen kam und einen Weißen mit dem blutüberströmten Dunkelhäutigen kämpfen sah, schoss mit seiner Dienstpistole einen Warnschuss ab – auf wen wohl?

Auf den Mann der Frau?

So war es. Verwandte wurden von der Ermordung und dem Krankenhausaufenthalt des Ehemannes ebenso wenig unterrichtet wie die ägyptische Botschaft. Erst als es in Ägypten zu öffentlichen Protesten und Demonstrationen kam, bequemte sich die Bundeskanzlerin nach zwei Wochen, öffentlich Beileid auszusprechen. Was ich aber erst später aus der Akten-Einsicht für die Familie entnehmen konnte, war genauso erschreckend: Der rassistische Täter hatte nicht nur zur Wahl der NPD aufgerufen, sondern in einem Brief an das Landgericht ausdrücklich bekräftigt, dass die Muslimin “kein Lebensrecht” habe – trotzdem wurde er vor Betreten des Gerichts weder kontrolliert noch wurden Marwa und ihr Mann von der unverhüllten Drohung unterrichtet. Auf meine Strafanzeige gegen die Richter wegen unterlassener Hilfeleistung wurde nicht einmal ein Ermittlungsverfahren eröffnet.

Umgekehrt war die Dresdner Justiz weniger rücksichtsvoll: Eine Medienwissenschaftlerin, die das Vorgehen des BKA-Beamten als rassistisch bezeichnet hatte, wurde wegen Beleidigung nicht nur angeklagt, sondern vom Amtsgericht sogar verurteilt: Erst das Landgericht hat dieses skandalöse Urteil aufgrund wachsender Proteste aufgehoben. Und passend dazu hat es Dresden bis heute nicht einmal geschafft, eine Straße oder einen Platz nach Marwa El Sherbiny zu benennen, obwohl dies von zahlreichen Initiativen und Politiker gefordert worden ist. Wer nun meint, das sei für Dresden oder vielleicht die neuen Bundesländer typisch, ist auf dem Holzweg. Er wird in meinem Buch zahlreiche Fälle aus dem Westen dokumentiert finden, die den institutionellen Rassismus als gesamtdeutsches Phänomen belegen – ganz zu schweigen von der schrillen Begleitmusik eines früheren Bundesbankers, Berliner Finanzsenators und – auch das muss zu ihrer Schande gesagt werden, immer noch – SPD-Mitglieds, namens Dr. Thilo Sarrazin mit seiner millionenfach von allen führenden Medien verbreiteten angeblich wissenschaftlich belegten Behauptung, die Türken seien nur in Deutschland, um hier »Kopftuch-Mädchen zu produzieren«!

In Ihrem Buch sprechen Sie von einem Krieg, der sowohl nach innen als auch nach außen geführt wird. Was meinen Sie damit?

Das ist die Zuspitzung meiner These: Unter dem Vorwand, die drohende islamistische Gefahr nur so wirksam bekämpfen zu können, ist Deutschland wieder weltweit an militärischen Interventionen und Kriegen beteiligt – dazu gehört auch die Unterstützung des Drohnenkriegs mit mehreren tausend zivilen Opfern, den die USA unter anderem von deutschem Boden aus gegen angebliche islamistische Terroristen führen, ohne eine kriegerische Auseinandersetzung und ohne jedes Gerichtsverfahren. Hier spielt der US-amerikanische Präsident gleichsam die Rolle als Polizist, Staatsanwalt und Richter und Henker in einer Person -richtiger Ansicht nach, ein schweres Kriegsverbrechen…!

Und im Inneren werden nicht nur Grund- und Menschenrechte eingeschränkt, teilweise abgeschafft und mit immer neuen Strafgesetzen gegen die islamistische Gefahr mobilisiert, die Polizei und die Sicherheitskräfte paramilitärisch aufgerüstet. Immer wieder wird von verantwortlichen Politikern für den vom Grundgesetz zurecht verbotenen Einsatz der Bundeswehr im Inneren getrommelt – wie zuletzt bei dem Münchner Anschlag vor ein paar Jahren, bei dem sich dann aber nicht verheimlichen ließ, dass er einen rechtsterroristischen Hintergrund hatte.

Wie ist es aus Ihrer Sicht überhaupt dazu gekommen?

Stichwortartig zusammengefasst: Zunächst gab es im Westen den »Gastarbeiter« aus der Türkei, der »ganz unten« die schwierigste und dreckigste Arbeit machen musste, dabei aber sehr schnell und ganz ohne Integrationsmaßnahmen mithilfe seiner Kolleginnen und Kollegen lernte, sich bei der Arbeit und im Alltag einigermaßen zurechtzufinden und an der Seite seiner deutschen Kollegen für seine Rechte zu kämpfen. Als sich dann aber herausstellte, dass er nicht „in seine Heimat« zurückkehren, sondern auch noch seine Familie nachholen wollte, begann das systematische Verbreiten von Vorurteilen, die rassistische Behandlung bei Länderbehörden bis hin zu den ersten Pogromen in Wuppertal, Rostock und anderswo, begleitet von regelmäßigen Medienkampagnen bis hin zu der Rechts-Außen-Parole »Kriminelle Ausländer raus!“

Nach der »Wende« kam dann die weitgehende Abschaffung des Asylrechts . Seit 9/11 kamen verschiedenste Maßnahmen wie zum Beispiel so genannte Rasterfahndungen, Verbote von islamischen Vereinen und Veranstaltungen, Kopftuchverbote, die Einführung immer neuer Straftatbestände bis hin zur Einführung des so genannten »Gefährders« – ein Konstrukt, das es den Sicherheitsbehörden erlaubt, ohne irgendeine konkrete Gefahr mutmaßliche Islamisten unter Beobachtung zu stellen: Damit werden sie – durch die Kündigung von Arbeitsverhältnissen, Wohnungen, Konten bei Kreditinstituten und so weiter – letztlich ihrer gesamten bürgerlichen Existenz beraubt. Ganz zu schweigen von vollkommen überzogenen Ermittlungs- und Strafverfahren, die wie ich an einigen Fällen zeige, als Realsatire Karriere machen können.

Was bedeutet diese Entwicklung denn für uns als Bürger?

Wenn unter dem Vorwand, den islamistischen Terrorismus bekämpfen zu wollen, immer mehr Bürger- und Freiheitsrechte eingeschränkt und abgebaut werden, ist höchste Alarmstufe angesagt. Nicht nur, weil viele Einschränkungen, die zuerst für Minderheiten eingeführt werden, auch auf andere Minderheiten und schließlich sogar auf die ganze Gesellschaft angewandt werden. Dies zeigt etwa die Entwicklung der beängstigenden Überwachungs– und Kontrollmaßnahmen, die die totale Überwachung á la George Orwells »1984« lange hinter sich gelassen haben. Wir sind längst auf dem Marsch in einen autoritären Hochsicherheitsstaat.

Wie der Theoretiker des Ausnahmezustands, der Philosoph und Soziologe Giorgio Agamben, am Beispiel des jahrelangen Ausnahmezustands in Frankreich analysiert hat, sind auch westliche Demokratien wieder auf dem Weg in eine neue Form der Diktatur. Man stelle sich nur einmal vor, Kräfte wie die AfD kämen an die Macht und würden mit weiteren Heimatschutzministern und entfesselten Sicherheitskräften regieren: So wird doch klar, wie schnell die noch vorhandenen demokratischen Rechte endgültig abgebaut und jede wirksame Opposition im Keim erstickt werden könnten.

Gibt es Möglichkeiten, die Situation zu überwinden?

Ja, die gibt es sicher. Ich habe im Schlusskapitel des Buches einen ganzen Katalog von wichtigen Schritten und Maßnahmen auf der Grundlage der existierenden Bewegungen und Kämpfe gegen die rassistische Gefahr entwickelt. Zum einen gilt es, über die neuen Formen des Rassismus und den international anerkannten wissenschaftlichen Rassismus-Begriff aufzuklären, mit den Betroffenen, insbesondere der »jungen Elite« unter den Menschen mit Migrationsgeschichte neue Formen des gemeinsamen Protestes und Widerstands zu entwickeln und ihn mit Bündnispartnern auf allen Ebenen auch in die Parlamente und die Politik zu tragen.

Daneben müssten die juristischen Möglichkeiten, vor allem auch auf internationaler Ebene, gemeinsam aktiviert und genutzt werden und schließlich müsste die zunehmende soziale Spaltung durch eine umfassende gesellschaftskritische Bewegung für soziale Gerechtigkeit in solidarischen Kämpfen überwunden werden. Ist diese soziale Spaltung doch die eigentliche Grundlage für den wachsenden Einfluss der verschiedenen Rassismus-Strömungen, insbesondere des antimuslimischen Rassismus und das Feindbild Islam.

Lesetipp: Schultz, Eberhard: Feindbild Islam und institutioneller Rassismus. Menschenrechtsarbeit in Zeiten von Migration und Anti-Terrorismus. VSA Verlag. 224 Seiten. 2018. 15,80 Euro

Titelbild: Jerome460 / Shutterstock


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