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Titel: Vom Sichvertragen zur Konfrontation und Kriegsvorbereitung. Ein schreckliches Zeugnis der Konfrontation bei Zeit online.

Datum: 3. Mai 2019 um 15:24 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Aufrüstung, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache
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Im 70. Jahr der Existenz der Bundesrepublik Deutschland zeigt ein Blick in die Geschichte, dass gravierende Veränderungen eingetreten sind – genauer gesagt betrieben worden sind. Wir hatten Phasen wirklichen Fortschritts und müssen jetzt gravierende und gefährliche Rückschritte diagnostizieren. Am 30. April erschien bei Zeit online ein herausragendes Dokument für den Rückschritt in der Außen- und Sicherheitspolitik. “Nato: Deutschland muss mehr in die Verteidigung stecken” – so war der Gastbeitrag von Elbridge Colby, Washington D.C. überschrieben. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

“Die Nato braucht eine starke Bundeswehr, und Deutschland muss mehr für die europäische Verteidigung leisten. Nicht trotz seiner Vergangenheit, sondern gerade deswegen.” So wurde der Beitrag des Direktors des Verteidigungsprogramms am Center for a New American Security in Washington eingeleitet. Der Autor ist nicht irgendwer, er war von 2017 bis 2018 stellvertretender Untersekretär für Strategie- und Streitkräfteentwicklung im US-Verteidigungsministerium. Was er schreibt, zeigt mit hoher Wahrscheinlichkeit ziemlich genau, was man in diesen Kreisen denkt. Von gemeinsamer Sicherheit zwischen dem Westen und Russland hält man dort offensichtlich nichts. Stattdessen wird der weiteren Rüstung massiv das Wort geredet. Da wird es als selbstverständlich betrachtet, dass Deutschland sich notfalls an einem Krieg gegen Russland beteiligt. Da wird der mögliche Anlass für einen solchen militärischen Konflikt ohne jede Differenzierung dargestellt: Im Baltikum könnte das “aggressive” Russland militärisch tätig werden, meint der Autor. Das wäre der Bündnisfall und Deutschland müsste, so die Vorstellung des Autors, leistungsfähige Divisionen ins Baltikum, an die russische Grenze oder darüber hinaus schicken.

In der Tat ist eine Krise in einem baltischen Staat einer der möglichen Gründe für einen neuen großen Krieg. Siehe dazu diesen Beitrag in den NachDenkSeiten, vor allem die Ziffern 7-10.

Der US-Militärplaner und Lobbyist verschweigt jedoch die möglichen Ursachen eines im Baltikum ausbrechenden Krieges: die ohnehin benachteiligten Russen, die dort leben, könnten von irgendwelchen nationalistischen rechten Gruppen provoziert oder gar massakriert werden. Russland sieht sich daraufhin unter Druck, zu Hilfe zu kommen. – Ein solcher Ablauf passt nicht ins Weltbild des US-amerikanischen Autors. Er betrachtet Russland quasi von Natur aus als Aggressor.

Das entscheidende Charakteristikum seines Textes ist die Eindeutigkeit, mit der darin das Verhältnis des Westens zu Russland, vor allem das Verhältnis Deutschlands zu Russland dargestellt wird. Es ist eine Welt der Konfrontation, gerade auch der militärischen Konfrontation. Er spannt den Bogen zurück zur Konfrontation im Kalten Krieg der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Und er verschweigt das wichtige Zwischenstück: Dazwischen lagen Phasen mit ganz anderen Konzepten einer auf Verständigung setzenden Sicherheitspolitik.

Zur Erinnerung: Auf den Kalten Krieg folgte nach dem Bau der Mauer im Jahr 1961 ein Versuch der Verständigung – die Ostpolitik, die Entspannungspolitik, die Vertragspolitik. In diesem Wort steckt das Wort “Sich vertragen”. So haben das die damals konzeptionell führenden deutschen Politiker begriffen und genannt. 1970 schloss die Regierung Willy Brandt mit Russland den Moskauer Vertrag ab. Dann folgte der Prager Vertrag und der Warschauer Vertrag. Zum Sichvertragen kam der Begriff Versöhnung. Das war von hoher emotionaler Bedeutung und wichtig für die Durchsetzung dieser Politik hier bei uns im Land. Sich in die Lage des Anderen zu versetzen, zum Beispiel die 27 Millionen Toten der ehemaligen Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg mit zu beachten, und sich vorzunehmen, Vertrauen zu schaffen. Das waren lauter wichtige Elemente der dann sehr erfolgreichen Politik.

Willy Brandt hatte zu Beginn der konkreten Vertragspolitik in seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler im Oktober 1969 die Linie unserer Sicherheitspolitik so beschrieben: “Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein”. Ein solcher Umgang mit anderen Völkern ist dem Typus Autor des Zeit online Artikels Colby vermutlich völlig fremd. Über die Leitlinie “Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein” haben die Konfrontationsstrategen aus Washington vermutlich laut lachen müssen.

Hierzulande wurde das Konzept des Sichvertragen und der Zusammenarbeit konsequent fortgeführt. Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE/1973) und die institutionalisierte Fassung der Zusammenarbeit in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sind weitere Schritte und Belege für das damalige Konzept der Außen- und Sicherheitspolitik.

Das ist alles verspielt. Die USA sind schon beginnend mit Präsident Clinton in den neunziger Jahren von der Vertragspolitik abgerückt und von der Kooperation zur Konfrontation, von der Gemeinsamen Sicherheit zur Abschreckung zurückgekehrt. Sichtbare Zeichen waren die NATO-Ausdehnung und dann der Jugoslawien-Krieg im Jahre 1999. Seitdem bewegen wir uns auf dem absteigenden Ast. Statt Kooperation und Abrüstung wird Konfrontation und Aufrüstung zur Selbstverständlichkeit erklärt. Und damit wird eine kriegerische Auseinandersetzung nicht unwahrscheinlicher, sondern wahrscheinlicher.

P. S.: Ich kann mir nicht verkneifen, angesichts der Äußerungen des Juso-Vorsitzenden Kühnert an dieser Stelle noch anzumerken, dass den heutigen Jusos der Friede in Europa offensichtlich keinen Pfifferling wert ist. Wenn der Juso-Vorsitzende sich sinnvoll profilieren möchte, dann müsste er sich und müssten sich die Jusos insgesamt mit einem Text wie jenem des Herrn Colby befassen, kritisch befassen. Übrigens: Das Interview des Juso-Vorsitzenden in der “Zeit” ist einen Tag nach dem Gastbeitrag von Colby erschienen – bei der gleichen Mediengruppe. Aber der konzeptionelle Niedergang der SPD von der Vertragspolitik eines Willy Brandt bis zur Militärpolitik der jetzigen Bundesregierung, an der die SPD maßgeblich beteiligt ist, juckt die Jusos offenbar überhaupt nicht. Da schwadroniert man lieber über die Kollektivierung von BMW.

Titelbild: Alizada Studios / Shutterstock


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