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Titel: Studie: Zuwanderung erfolgt stark in arme Stadtviertel

Datum: 6. Juli 2019 um 11:45 Uhr
Rubrik: Innen- und Gesellschaftspolitik, Interviews, Medienkritik, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Das Untersuchungsergebnis ist eindeutig: Zwischen 2014 und 2017 ist Zuwanderung in Deutschland zum großen Teil in jene Stadtviertel erfolgt, wo arme Menschen leben. Das hat Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung herausgefunden. Und dieses Ergebnis – auch wenn vorhersehbar – hat Sprengkraft, denn: Die in manchen Vierteln ohnehin bereits vorhandene soziale Spaltung nimmt noch weiter zu. „In einigen Städten“, sagt der Soziologe, „sehen wir sogar Armutsquoten bei Kindern von über 70 Prozent.“ Und Helbig weiter: „Insgesamt sind die Entwicklungsbedingungen in Gebieten, wo sich viele Arme ballen, schlechter.“ Obwohl hier ein brandgefährlicher sozialer Konflikt droht, haben Medien die Studie, wie Helbig berichtet, bisher nahezu komplett ignoriert. Von Marcus Klöckner.

Herr Helbig, Sie haben in einer aktuellen Studie aufgezeigt, dass Zuwanderung vor allem in arme Stadtviertel erfolgt. War das Untersuchungsergebnis für Sie überraschend?

Dass Untersuchungsergebnis war insgesamt wenig überraschend, da die Zuwanderung in die armen Stadtviertel grundlegenden Marktmechanismen folgt. Da, wo die Armen wohnen, ist Wohnraum günstig und für Zuwanderer leistbar. Immerhin sind die Zuwanderer im Allgemeinen auch nur „Arme“ ohne deutschen Pass. Was überraschte ist, dass wir den Zusammenhang von Zuwanderung in arme Stadtviertel nicht überall finden.

Kurz: Wie sind Sie denn für Ihre Untersuchung vorgegangen? Wie viele Städte haben Sie untersucht?

Wir haben Daten zu 3700 Stadtteilen in 86 deutschen Städten dahingehend ausgewertet, wie die soziale Lage des Stadtteils (gemessen an den SGB-II-Quoten) im Jahr 2014 mit der Zuwanderung der Jahre 2014 bis 2017 zusammenhängen.

Worauf haben Sie noch geachtet?

Wir haben darüber hinaus geschaut, warum wir in vielen Städten einen starken Zusammenhang zwischen Zuwanderung und sozialer Lage der Stadtteile sehen, in anderen Städten aber keinen Zusammenhang nachweisen können. Die ausschlaggebenden Stadtcharakteristika waren Leerstand und Steuereinnahmen. In den Städten mit hohem Leerstand lief die Zuwanderung stark sozial selektiv ab, in Städten mit niedrigem Leerstand nicht. Dies deutet darauf hin, dass die Zuwanderung in Städten mit hohem Leerstand schlichtweg dorthin erfolgte, wo viel Platz war. Denn gerade in den sozial benachteiligten Gebieten ist hoher Leerstand zu erwarten. In den wirtschaftlich starken Städten und den Metropolen geschah die Zuwanderung kaum nach sozialen Grenzen. Zum einen gibt es hier insgesamt weniger Leerstand, zum anderen hatten diese Städte eher die Möglichkeit, wohnungsbaupolitisch einzugreifen.

Gibt es Unterschiede zwischen Städten in Ost- und Westdeutschland?

Im Osten sehen wir fast überall eine starke Zuwanderung in die benachteiligten Gebiete. Dies unterscheidet die ostdeutschen Städte aber nicht von den Städten des Ruhrgebiets und vielen Städten in Norddeutschland. Auch hier gibt es teilweise hohe Leerstände in den sozial benachteiligten Gebieten, in die viele Ausländer zuwanderten. Insgesamt sehen wir bei der wohnräumlichen Integration von Zuwanderern nicht nur Ost-West-Unterschiede, sondern immer mehr Nord-Süd-Unterschiede. Gerade die Städte, in denen sich Armut in einigen Stadtvierteln bereits stark verfestigt hatte, kommt die Aufnahme von vielen Zuwanderern hinzu. Dies führt auch dazu, dass gerade die finanziell wenig handlungsfähigen Kommunen die größten Integrationsaufgaben an den sozialen Rändern der Städte zu tragen haben.

Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe dafür, dass Zuwanderung so stark in arme Stadtviertel erfolgt?

Als erstes sind eindeutig die Marktmechanismen des Wohnungsmarktes zu nennen. Auch wenn viele Städte gerne die Zuwanderungslast „fairer“ über die Stadt verteilt hätten, haben es die meisten nicht geschafft. Für die Transferleistungsbezieher bleiben in vielen Städten nur Wohnungen in den sozial benachteiligten Gebieten. Denn nur hier entsprechen die Mietkosten den Kosten der Unterkunft (KdU), die der Staat bereit ist, für Transferleistungsbezieher zu zahlen. Dieser Mechanismus hat allerdings vor der Zuwanderung von 2014-2017 dazu geführt, dass sich immer mehr Transferleistungsbezieher in bestimmten Gebieten geballt haben. Wenn für die Zuwanderer nun andere Regeln auf dem Wohnungsmarkt gelten würden, dann wäre dies für den sozialen Frieden nicht förderlich gewesen. Das Kernproblem, das durch die verstärkte Zuwanderung noch einmal offensichtlich geworden ist, ist die zunehmende soziale Spaltung der deutschen Städte.

Wie äußert sich diese konkret?

Wir beobachten in vielen deutschen Städten, vor allem aber im Osten, dass die ungleiche Verteilung von Armen in den Quartieren zunimmt. In der Quintessenz kommt es zu einer starken Ballung von Armen in einem Teil der Stadtviertel, während in anderen Vierteln fast keine armen Personen mehr leben. Die positive wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland ist in den sozial benachteiligten Vierteln nicht angekommen. Die SGB-II-Quoten sind hier trotz brummender Wirtschaft und Arbeitsmarkt auf dem gleichen Niveau wie 2006. Die Zusammensetzung der SGB-II-Empfänger sollte seitdem aber eher ungünstiger geworden sein. Während 2006 auch noch viele Facharbeiter auf den Transferleistungsbezug angewiesen waren, sind diese heute weniger in der Gruppe zu finden. Besonders dramatisch äußert sich die Ballung von Armut bei der Gruppe von Kindern. Es gibt mittlerweile in einer Vielzahl von Städten Viertel, in denen mehr als 50 Prozent aller Kinder in Familien mit SGB-II-Bezug leben. In einigen Städten sehen wir sogar Armutsquoten bei Kindern von über 70 Prozent.

Was bedeuten Ihre Untersuchungsergebnisse für die soziale Spaltung in den Städten?

Gemessen an den sogenannten sozialen Segregationsindizes, mit denen man die soziale Spaltung in Städten misst, lässt sich für viele ostdeutsche Städte ein sehr starker Anstieg zwischen 2014 und 2017 beobachten. Aber auch in einigen westdeutschen Städten sind die Segregationsindizes dort angestiegen, wo die Zuwanderung sozial selektiv erfolgte. In einigen süddeutschen Städten kam es allerdings auch zu einem Rückgang sozialer Segregation, weil eine ausgewogenere Verteilung von Zuwanderung gelang.

Was sind die Folgen dieser Ballung von Armen und Zuwanderern?

Insgesamt sind die Entwicklungsbedingungen in Gebieten, wo sich viele Arme ballen, schlechter. Dies äußert sich z.B. daran, dass die soziale Zusammensetzung der Schulen in diesen Vierteln deutlich ungünstiger ist. Schule und Lehrer kämpfen hier mit deutlich größeren Problemen. Mit der Integration von vielen Kindern mit Migrationshintergrund werden diese Probleme aufgrund von anfänglichen Sprachbarrieren nicht kleiner. Viele Kinder aus Migrantenfamilien haben eine hohe Bildungsmotivation und einen Aufstiegswillen. Dieser wäre allerdings in weniger sozial benachteiligten Gebieten einfacher umsetzbar.

Wie war denn das Interesse der Medien bisher für Ihre Studie?

Bisher wurde über die Studie so gut wie gar nicht berichtet. Bis auf die “Thüringer Presse“, die prominent berichtete, gab es keine Resonanz.

Wie erklären Sie sich die geringe Resonanz?

Das ist relativ schwer zu erklären. Wir haben vor gut einem Jahr eine Studie vorgelegt, in der wir erstmals die soziale Segregation in einer Vielzahl deutscher Städte untersuchten. Damals hatten wir allein in den ersten zwei Tagen knapp 100 Pressemeldungen. Die öffentliche Relevanz von wissenschaftlichen Studien müssen andere bewerten als die Autoren. Aber in der aktuellen Studie kommen die großen Themen der vergangenen Jahre zusammen. Auf der einen Seite Zuwanderung, vor allem von Asylbewerbern, und auf der anderen Seite die Entwicklung des Wohnungsmarktes. Dass dann nicht berichtet wird, verwundert schon sehr. Die Pressearbeit des WZB ist im Vergleich der wissenschaftlichen Institute als herausragend zu bezeichnen und sie können davon ausgehen, dass alle relevanten Redaktionen in Deutschland über die Studie informiert waren. Was denken Sie, warum dann doch nicht berichtet wurde?

Wir können die Interviewsituation für einen Moment umdrehen und ich beantworte Ihre Frage. Wenn Medien über die Studie tatsächlich gut informiert wurden, dann ist das fehlende Medieninteresse gar nicht so schwer zu erklären. Bei bestimmten Themen sind die journalistischen Kriterien der Selektion und der Gewichtung von Nachrichten und Informationen, nach denen Medien normalerweise operieren, – und das ist das Interessante – kollektiv außer Kraft gesetzt. Denkbar ist das Folgende: Aufgrund der Sorge, dass Ihre Studienergebnisse von Rechten missbraucht werden könnten, legen Journalisten lieber den Mantel des Schweigens darüber. Wenn dem so ist, wäre das schlimm, denn: Die realen Probleme der sozialen Spaltung, an denen die Schutzsuchenden gewiss keine Schuld tragen, werden sich durch eine ignorante Medienlandschaft nicht einfach auflösen. Im Gegenteil: Spannungen, die sich durch Armut ergeben, spielen wahrscheinlich rechten Demagogen erst recht in die Hände. Anders gesagt: Medien erreichen genau das Gegenteil von dem, was sie wollen. Wir sehen hier ein Beispiel dafür, wie dysfunktional unser Mediensystem mitunter ist.
Können Sie den Ausführungen zustimmen?

Für mich hören sich diese Ausführungen durchaus nachvollziehbar an.

Welche Möglichkeiten gibt es, um der sozialen Spaltung entgegenzuwirken?

Das ist nicht einfach zu beantworten. Im Allgemeinen müssen die Marktmechanismen beschränkt werden. Dies kann durch Sozialwohnungen und Belegungsrechte in „besseren“ Wohngegenden erreicht werden. Auf der anderen Seite würde dadurch Wohnraum in diesen Vierteln entzogen werden. Die Folge wären steigende Mieten für frei handelbaren Wohnraum. Dies würde wiederum die Mittelschicht spüren. Die zweite Möglichkeit wäre es, mehr Mittelschichtsfamilien in sozial benachteiligte Gebiete zu bekommen. Bei über 50, oder gar, wie angeführt, 70 Prozent Kinderarmut in einigen Stadtvierteln werden sich dies viele Familien aber dreimal überlegen. Um kurzfristig etwas zu tun, muss es zu einer verstärkten Förderung dieser Stadtteile kommen. Dies kann über herausragende Schulausstattung in den benachteiligten Gebieten, über Quartiersmanagement, über Sozialarbeiter geschehen. Da gerade die ärmeren Kommunen stark von dem Problem betroffen sind, lässt mich allerdings daran zweifeln, dass diese Maßnahmen gerade dort ausreichend finanziert werden können. Wir dürfen beim Problem sogenannter Brennpunktviertel die Kommunen nicht alleinlassen.

Titelbild: hanohiki / Shutterstock


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