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Titel: Was will die Protestbewegung in Hongkong erreichen?

Datum: 8. Oktober 2019 um 9:13 Uhr
Rubrik: Innere Sicherheit, Länderberichte
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Um die Antwort gleich vorwegzunehmen: Ich weiß es nicht, aber, noch schlimmer: die Protestler, die täglich auf die Straße gehen, wissen es selber nicht. Im dem Übergabevertrag von 1997 wurde zwischen der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien und der Volksrepublik China unter der Formel „Ein Land, zwei Systeme“, vereinbart, dass China die Hoheit über Hongkong zwar zurückerhalten sollte, das kapitalistische System aber wie gehabt noch weitere 50 Jahre, bis 2047, bestehen bleibt. Beide Seiten hatten wohl ihre eigenen Vorstellungen davon, wie die Zeit bis 2047 genutzt werden sollte. Wir sind jetzt in der Halbzeit angelangt, die Seiten werden gewechselt, die Spieler neu aufgestellt. Wird es eine Verlängerung geben oder wird das Spiel 2047 entschieden sein? Von Marco Wenzel.

China glaubte wohl, bis dahin die Bevölkerung von Hongkong von den Vorteilen des wirtschaftlichen Sozialismus, wie er seit Deng Xiao Pings Zeiten in China Einzug gehalten hatte, soweit überzeugen zu können, dass die endgültige Übergabe 2047 reibungslos ablaufen würde. Und Großbritannien hatte mit Sicherheit die Hoffnung, dass sie ihrerseits die Hongkonger bis dahin soweit von ihrem neoliberalen System überzeugen könnten, dass sie sich der Übergabe an China entgegenstellen würden und sich so Möglichkeiten für Verhandlungen über neue Bedingungen eröffnen würden.
50 Jahre sind zwei Generationen. Viel Zeit, um die Menschen zu beeinflussen.

Der Beginn der Proteste

Die Gemüter erhitzten sich bekanntlich im Juni, fünf Jahre nach der Regenschirmrevolution von 2014, erneut, diesmal über die geplante Erweiterung des Auslieferungsabkommens für Straftäter aus Hongkong nach Festlandchina, Macau und Taiwan.

Lesen Sie dazu: “Massenproteste in Hong Kong – zwei Dokumente zur Debatte“.

Nun kann man sich die Frage stellen, ob die Regierung von Hongkong, deren Regierungschefin Carrie Lam direkt der chinesischen Führung unterstellt ist, den Fall der Ermordung der schwangeren Frau Pan Xiaoying durch ihre Freund Chen Anfang 2018 in Taiwan zum willkommenen Anlass nahm, das bestehende Auslieferungsgesetz auf China zu erweitern oder ob sie es unbedarft getan hatte, um Gerechtigkeit walten zu lassen. Die Folgen hatte sie jedoch nicht vorhergesehen.

Jede Menge Leute befürchteten nun plötzlich, auf Grund eines Auslieferungsgesuchs von China nach dorthin abgeschoben zu werden und in die Hände chinesischen Justiz zu fallen. Und das hätte nicht nur gewöhnliche Kriminelle und Mafiosi aus Hongkong, sondern auch Wirtschaftskriminelle, Steuerhinterzieher und andere Leute, die vor der Justiz aus China nach Hongkong geflohen waren, betroffen. Aber es gibt auch chinakritische Aktivisten in Hongkong, die sich vor einer Auslieferung aus rein politischen Gründen fürchteten.

Erste Demonstrationen gegen das geplante Gesetz formierten sich auf den Straßen Hongkongs und die Regierung versuchte, die Situation zu beruhigen. Angebote an die Protestierenden, die Auslieferung für Straftaten, auf denen mindestens drei Jahre Gefängnis stand, auf sieben Jahre zu erhöhen und danach, in einem zweiten Kompromiss, politische und religiöse Gründe für eine Auslieferung auszuschließen, wurden abgelehnt und so beschloss die Regierung von Hongkong nach Absprache mit Peking zuerst, das Projekt auf Eis zu legen und später, nach erneuten Protesten, es ganz zu annullieren. Damit wäre die Sache eigentlich erledigt gewesen, wenn nicht mittlerweile eine Protestbewegung entstanden wäre, die nun behauptete, jetzt sei es zu spät und neue Forderungen, darunter auch die Forderung nach Rücktritt von Carrie Lam, stellte.

Aus der Forderung „kein Auslieferungsabkommen mit China“ war plötzlich der Slogan „Liberate Hongkong, the revolution of our times“, also „Befreit Hongkong, die Revolution unserer Zeit“ geworden. Der Mörder Chen ist mittlerweile übrigens wieder auf freiem Fuß. Er verbüßte nur eine kurze Freiheitsstrafe in einem Hongkonger Gefängnis, weil er Rechnungen mit der Kreditkarte der Ermordeten bezahlt hatte. Wegen des Mordes selber kann er in Hongkong nicht belangt werden, da er die Tat in Taiwan verübt hatte.

5 Forderungen und keine weniger

So lautet inzwischen die Parole der Protestbewegung, die bei jedem Aufmarsch über Megafon skandiert wird. Bevor nicht alle fünf Forderungen erfüllt sind, wollen sie nicht aufhören zu protestieren, so haben sie es sich geschworen. Viele Sympathisanten der Bewegung zeigen die flache Hand mit den fünf Fingern, legen ihre Hand an die Fensterscheiben vorbeifahrender Busse und Metros zum Zeichen der Solidarität.

Die Protestbewegung hat also fünf Forderungen aufgestellt. Die Forderung nach bezahlbaren Wohnungen, das dringendste Problem in Hongkong, gehört nicht dazu. Wir wollen uns hier diese fünf Forderungen genauer ansehen. Die erste Forderung nach Rücknahme des Auslieferungsgesetzes ist erfüllt.

Die zweite Forderung lautet: Rücktritt von Regierungschefin Carrie Lam und freie Wahlen. Den Rücktritt haben die Menschen bis jetzt noch für jeden Regierungschef in den vergangenen 22 Jahren gefordert. Lam war jedoch bisher der einzige Chief Executive, der sich beim Volk von Hongkong offen entschuldigt hat. Was die Rücknahme des Gesetzes über die Auslieferung anbelangt, hat sie die Forderungen der Protestbewegung sogar erfüllt. Durch wen sollte man sie ersetzen? Keine Vorschläge der Gegenseite, nur die Forderung nach Rücktritt.

Was die Forderung nach freien Wahlen anbelangt, so ist die Frage zu stellen, wie diese Wahlen denn aussehen sollen und welche Parteien dabei antreten dürfen. So wie es zurzeit aussieht, gibt es jede Menge Bestrebungen von außen, Hongkong von China loszulösen. Hongkong aber gehört rechtlich gesehen zu China, auch wenn es ihnen für eine lange Zeit mit Gewalt weggenommen worden war. China wird keinesfalls zulassen, dass jetzt über „freie Wahlen“ Parteien, teils vom Ausland finanziert, die Regierungsgewalt in Hongkong übernehmen, die aktiv die Loslösung von China vorantreiben. Man kann beobachten, wie die USA über alle möglichen Organisationen überall auf der Welt Einfluss auf die Zusammensetzung von Regierungen nehmen, und über die Unterstützung und Finanzierung von Oppositionen in den verschiedenen Ländern Regierungen stürzen, die ihnen nicht gefallen und dafür Regierungen einsetzen, die ihnen zu Diensten sind. All dies stets unter dem Deckmantel von Freiheit und Demokratie. Man müsste schon sehr blauäugig sein, zu glauben, dass China das Spiel nicht durchschaut hat. China wird nicht zulassen, dass die nationale Souveränität in Frage gestellt wird. Wenn die Opposition es also ehrlich meint, dann muss sie auch ihre Karten auf den Tisch legen und in Verhandlungen mit Carrie Lam und ihrer Regierung treten, um über das Wie und Wann dieser Forderung zu beraten.

Die dritte Forderung besteht darin, dass die Unruhen nicht mehr als Aufstand (riot) bezeichnet werden dürfen. Gesetzlich gesehen stehen auf der Beteiligung an einem Aufstand höhere Strafen als bei der Teilnahme an Unruhen. Wenn Friedensbruch in Verbindung mit einer Straftat gemeinsam von mehreren Personen begangen wird, so ist das ein Aufstand. Diese Definition wurde nicht von der Regierung in Hongkong erfunden, sondern vom britischen Recht übernommen. Die Polizei und auch Frau Lam haben erklärt, dass die Bezeichnung nicht auf friedliche Demonstranten angewandt wird, sondern nur auf Personen, die bei den Demonstrationen Straftaten begehen. Diese Erklärung ist aus rechtlicher Sicht eindeutig richtig. Und, mal Hand aufs Herz: Wer, der die Bilder der Unruhen in Hongkong besonders seit dem 1. Oktober gesehen hat, wer würde das nicht als Aufstand bezeichnen wollen?
Die vierte Forderung verlangt eine unabhängige Untersuchung über die Vorgehensweise der Polizei, der die Protestbewegung unangemessene Gewaltanwendung vorwirft. Die Abteilung für Beschwerden bei der Polizei hat angekündigt, eine solche Untersuchung auch vornehmen zu wollen, allerdings ist es natürlich nicht das, was die Protestler wollen. Die Meinungen über das Vorgehen der Polizei gehen meilenweit auseinander, je nachdem, ob man die Regierungsseite oder die Protestler befragt. Je nachdem, wie der geforderte Untersuchungsrat zusammengesetzt sein wird, wird auch der Ausgang der Untersuchung ausfallen. Hier wäre ein Dialog über die Zusammensetzung der Untersuchungskommission dringend notwendig, nur: Es gibt alleine die Forderung, aber keine Ansprechpartner, mit denen man darüber reden könnte.

Anstatt zu verlangen, dass die Regierung eine unabhängige Kommission einberuft, könnten die Hongkonger aber auch eine unabhängige Kommission ganz allein einrichten – ohne die lokale Regierung. Eine Gruppe von Juristen könnte die Untersuchung führen, eventuell sogar ausländische Experten hinzuziehen. Finanzieren könnte man die Untersuchung über Crowdfunding.

Die fünfte Forderung ist die nach sofortiger Freilassung aller Verhafteten im Zuge der Proteste. Nun mal ganz ehrlich, das geht nicht. Die meisten der Betroffenen wurden wegen Straftaten wie Brandstiftung, Sachbeschädigung, Körperverletzung usw. verhaftet. Sie einfach so ohne Bestrafung wieder auf freien Fuß zu setzen, verstößt zudem gegen die Verfassung. Alle Menschen sind nach der Verfassung gleich vor dem Gesetz und die Strafverfolgung muss frei von jeglicher Beeinflussung der Behörden von außen sein.

Es sieht danach aus, als ob die Forderungen bewusst so gewählt worden sind, dass sie nicht umgesetzt werden können. Und die Anführer der Bewegung treten nicht hervor, sie verkünden bloß, sie würden so lange weiter protestieren, bis die Forderungen erfüllt sind: Schaut, wie ihr damit klarkommt.

Längst hat sich die Protestbewegung aber auch zum Teil verselbstständigt. Die Randalierer haben Spaß an den täglichen Randalen, an den Schlägereien. Sie fühlen sich unangreifbar, als die Herren der Stadt. Die Polizei erwischt nur wenige von ihnen. Die Masse der Bevölkerung, das muss hier auch einmal gesagt werden, steht ihnen eher wohlwollend gegenüber und wird sie im Zweifelsfall vor jedem Zugriff schützen. Wer kann sie jetzt wieder stoppen? „Befreit Hongkong“ und „Hongkong leistet Widerstand“ hört sich gut an, aber es heißt nichts Konkretes.

Auch wenn die Bewegung keine Anführer hat, die offen in Erscheinung treten, so gibt es doch genügend Anzeichen dafür, dass sie gesteuert wird. Sie soll, so heißt es, basisdemokratisch sein und sich über Internet-Apps wie Telegram abstimmen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Es gibt auch Netzwerker im Netzwerk und die stimmen sich schon untereinander ab. Nach offizieller Lesart entstand die Bewegung aus dem Nichts. Die Situation aber eskalierte schnell und war gut organisiert. Das deutet darauf hin, dass es Vordenker gab, die das minutiös geplant und organisiert hatten. Von einem Tag auf den anderen waren plötzlich hunderttausende Menschen auf der Straße, um gegen ein Gesetz zu protestieren, von dem die allermeisten kaum selber jemals betroffen sein würden. Schließlich muss nur eine kleine Minderheit von Menschen in Hongkong ihre Verhaftung und Auslieferung nach China befürchten, zumal wenn dafür auf die zur Last gelegten Straftaten mehr als 7 Jahre Gefängnis stehen müssen.

Zeitliche Verbindung zum Handelskonflikt mit den USA

Am 9. Juni 2019 begannen die Proteste gegen das Auslieferungsgesetz, das am 12. Juni verabschiedet werden sollte. Am 10. Mai 2019 setzten die USA die Erhöhung der Zölle auf chinesische Güter im Wert von 200 Milliarden Dollar von 10 auf 25 Prozent in Kraft. China kündigte wiederum „notwendige Gegenmaßnahmen“ an. Als Gegenreaktion erhöht die Volksrepublik China zum 1. Juni 2019 die Zölle auf US-amerikanische Güter im Wert von 60 Milliarden Dollar. Je nach Produkt gelten dann Zölle von 10, 20 oder 25 Prozent.

Sollte es purer Zufall sein, dass beide Ereignisse sich praktisch überschnitten haben? Kaum. Ein größerer Teil des chinesischen Imports und Exports läuft über Hongkong, seinen Hafen und sein Finanzzentrum, Chinas Tor zur „kapitalistischen Welt“. Da trifft es sich doch wunderbar, wenn diese Kreise ein wenig gestört werden.

Titelbild: Jimmy Siu/shutterstock.com


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