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Titel: Inmitten des US-Wirtschaftskriegs gegen Venezuela – Sanktionen machen den Menschen das Leben schwer …

Datum: 16. Oktober 2019 um 8:15 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Länderberichte, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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… in Venezuela wie in Kuba, in Nicaragua, in Syrien, im Iran usw. Der US-Journalist Ben Norton ist soeben von einer zweimonatigen Recherchereise durch Venezuela zurückgekehrt. Im Interview mit der Internetplattform The Grayzone beschreibt er seine Eindrücke von dem Land und schildert, wie die US-Sanktionen einem Großteil der Bevölkerung das Leben schwer machen. Im Folgenden ein Transkript des Interviews. Danke vielmals an Susanne Hofmann für die Übersetzung.

AARON MATÉ: Ben, The Grayzone hat von Anfang an über den von den USA unterstützten Staatsstreich und den Versuch eines Wirtschaftskrieges gegen Venezuela berichtet. Du warst einige Monate in Venezuela und bist gerade zurückgekommen. Was sind denn deine Eindrücke?

BEN NORTON: Das war ja meine zweite Reise nach Venezuela dieses Jahr. Und in mancherlei Hinsicht hat sich nichts grundlegend verändert, was ein gutes Zeichen ist. Es herrscht Frieden; politische Stabilität; die Menschen haben genug zu essen; sie haben genug, um zu überleben; sie bekommen zumindest das Nötigste.

Gleichzeitig ist die wirtschaftliche Lage schwieriger geworden; was die Konzernmedien verbreiten – Venezuela sei eine „humanitäre Katastrophe”, es gibt da ja auch diese neue Jack-Ryan-Serie – das ist schlicht lächerliche Propaganda. Aber es trifft zu, dass Venezuela eine schwere Wirtschaftskrise durchläuft.

Und für viele durchschnittliche Venezolaner sind die Preise außer Kontrolle geraten; die Inflation ist wirklich heftig. Und natürlich ist eine der Hauptursachen – nicht die einzige, aber doch der größte Faktor hinter der Wirtschaftskrise – das Embargo.

Am 5. August verhängte die Trump-Administration ein vollständiges Wirtschaftsembargo gegen Venezuela, und davor hatte sie bereits sehr aggressive Sanktionen gegen das Land verhängt, die natürlich schon unter der Obama-Regierung ihren Anfang genommen hatten.

Und die Menschen spüren die Auswirkungen sehr deutlich.

Die Menschen, die am wenigsten von den Sanktionen betroffen sind, gehören interessanterweise der Opposition an, sind also natürlich diejenigen, die die Sanktionen befürworten. Und die Menschen, die die Regierung unterstützen, sind in der Regel überdurchschnittlich arm.

Und was immer, wenn ich in einem Arbeiterviertel unterwegs war, wenn ich durch Caracas spazierte, besonders hervorstach: Die armen Menschen und diejenigen aus der Arbeiterschicht gehören deutlich häufiger zu den Unterstützern der Regierung und sehr viel öfter zu den Unterstützern Maduros.

Und im Osten von Caracas, im reichen Stadtteil mit dem Namen Chacao, der einem anderen Bezirk mit einer anderen örtlichen Regierung angehört, die von der Opposition kontrolliert wird, herrscht eine entschiedene Opposition zur Regierung.

Doch ironischerweise ist das Lager, das die US-Regierung unterstützt und hinter dem Coup steckt, die Juan-Guaidó-Leute, tatsächlich ziemlich und zunehmend unbeliebt. Wir haben ja bei The Grayzone bereits über ihre Korruption berichtet.

Was aber wirklich krass ist – ich war auf einer Kundgebung der Opposition und dort waren vielleicht 50 Leute versammelt. Der Coup ist im Sande verlaufen und die Opposition wird von Figuren wie Juan Guaidó nicht zusammengehalten, viele von ihnen sind im Exil, sind Oppositionelle in Miami, in Kolumbien, die sich für aggressive Sanktionen starkmachen, die der breiten Masse schaden. Und das ist ziemlich offensichtlich, die Auswirkungen sind recht eindeutig.

AARON MATÉ: Apropos Sanktionen: Die USA verhängen andauernd Sanktionen, die verschiedene Bereiche des venezolanischen Staates treffen. Jüngst hat die Trump-Administration neue Sanktionen gegen CLAP, das venezolanische Lebensmittelprogramm, verhängt, das allmonatlich Lebensmittelpakete an Millionen von Venezolanern ausgibt. Erklärst du uns mal, was da geschieht?

BEN NORTON: Das CLAP-Lebensmittelprogramm ist extrem wichtig. Mehr als 80 Prozent der Menschen in Venezuela bekommen regelmäßig diese Lebensmittelkisten. Ich habe auf meiner Reise ein Verteilungszentrum besucht; darüber werden wir auf The Grayzone auch berichten und zeigen, wie die Regierung in manchen Kommunen alle zwei Wochen, in anderen alle vier Wochen unterstützend wirkt, indem sie diese riesigen Kisten oder Beutel mit Lebensmitteln, den Grundnahrungsmitteln, ausgibt: Weizen, Kondensmilch, Linsen, Öl, also Nahrungsmittel, auf die die Menschen angewiesen sind, um zu überleben.

Und nicht nur die Regierungsanhänger erhalten diese Pakete; es ist die große Mehrheit der Bevölkerung, mehr als sechs Millionen Familien.

Und so hat die Trump-Administration beschlossen, dieses Programm ins Visier zu nehmen als Möglichkeit, die Regierung anzugreifen, indem sie wirklich den Hunger als Waffe einsetzt. Das ist die Strategie. Es ist die gleiche Strategie, die die Trump-Administration gegen den Iran, gegen Nicaragua und andere Länder verfolgt.

Und Venezuela hängt noch stark von Nahrungsmittel-Importen ab. Wenngleich hier eine neuere Entwicklung interessant ist: Tatsächlich werden derzeit – also, wir waren ja im Februar und März in Venezuela und jetzt noch einmal während der Monate August und September – interessanterweise die Nahrungsmittelpakete im Rahmen des CLAP-Programms vergrößert; es gibt auch mehr davon; und sie werden auch häufiger verteilt.

Was außerdem interessant ist: Die Art und Weise der Organisation des Lebensmittelprogramms CLAP ist sehr effizient. Abertausende von Menschen, Freiwillige, die nicht dafür bezahlt werden, arbeiten zusammen, um es für ihre Gemeinden zu organisieren und sicherzustellen, dass niemand hungert.

Es ist also ein Beispiel dafür, wie die Kommunen sich hervortun und Hand in Hand mit der Regierung arbeiten; es ist also nicht nur die Regierung, die sozusagen von oben nach unten agiert, sondern es ist vielmehr eine Bewegung von unten.

Und es war wirklich beeindruckend zu sehen, wie im Zuge der Vertiefung der Krise die Gemeinde wirklich das Heft in die Hand genommen hat und zusammen mit der Regierung die Organisation übernommen hat.

AARON MATÉ: Du hast vorhin erwähnt, dass die Putschisten an Unterstützung verlieren, zu ihren Protesten kommen immer weniger Menschen. Unterdessen verhandeln die venezolanische Regierung und andere Oppositionsfraktionen.

Vor kurzem haben die Maduro-Regierung und vier oppositionelle Parteien Vereinbarungen getroffen, unter anderem wurde die Freilassung eines prominenten Mitglieds der Opposition beschlossen.

Guaidó und sein Lager missbilligten dies sehr. Glaubst du, sie können sich halten? Was meinst du, ist ihr nächster Zug, um ihren Coup am Laufen zu halten?

BEN NORTON: Die Trump-Administration hat klargemacht, dass sie keinerlei Verhandlungen mit der Regierung möchte. Das ist in den Worten von Mike Pompeo eine “Strategie des maximalen Drucks“.

Und das ist eine Strategie, die Diplomatie als ein Zugeständnis ansieht. Sie wollen wirklich einen Krieg auf diplomatischer Ebene; sie wollen eine vollständige diplomatische Isolierung.

Insofern ist es wirklich sehr wichtig, dass einige Oppositionspolitiker eine Vereinbarung mit der Regierung geschlossen haben. Und es ist sehr vielsagend, dass die Trump-Administration – als Reaktion auf diese Vereinbarung, anstatt diesen neuen Vorstoß für Frieden und Diplomatie zu begrüßen – eine Erklärung veröffentlicht hat, dass man diese „illegale“ – so nennen sie es – Einigung nicht anerkenne.

Natürlich ist die Ironie der Sache, dass sie diese Regierung, die keinerlei Befugnisse hat, dagegen sehr wohl anerkennen. Juan Guaidó war nahezu unbekannt, ehe der Staatsstreich begann. Rund 86 Prozent der Venezolaner hatten noch nie von ihm gehört, ehe er sich zum „Interims-Präsidenten“ erklärte. Und er hat keinerlei Kontrolle.

Als ich nun im Land war, habe ich viele der unglaublichen Projekte gesehen, die immer noch von der Regierung betrieben werden. Die Regierung von Nicolás Maduro ist immer noch unverkennbar an der Macht.

Ich habe eine Kommune besucht, deren Mitglieder die Regierung unterstützen, aber selbständig, im Verbund mit der Regierung, ein kommunales Haus bauen, ein gigantisches Haus mit 80 Wohnungen, und die Baustoffe stellt die Regierung.

Ich werde bald einen Bericht dazu veröffentlichen, der zeigt, wie dieses riesige Bauvorhaben von weiblichen Chavistas, von Feministen geleitet wird; 80 Prozent der Bauarbeiter sind selbst Frauen, 20 Prozent sind Männer. Und ich habe viele derartige unglaubliche Projekte gesehen.

Ein großes Problem für Venezuela derzeit ist, dass dieses Land nicht ernährungssouverän ist. Es ist abhängig von Importen. Doch in den letzten sechs Monaten habe ich einen Wandel beobachtet. In den Supermärkten stammen fast alle Produkte aus venezolanischer Herstellung.

Sie wurden von vielen privaten Unternehmen hergestellt. Und die Produktion ist just in den privaten Händen dieser rechten Kapitalisten, die die Opposition unterstützen, die Wucherpreise verlangen, die Güter horten, die spekulieren.

Es gibt also eine Menge wirtschaftlicher Probleme und die Sanktionen machen den durchschnittlichen Venezolanern das Leben noch schwerer. Letzten Endes hat die US-Regierung aber deutlich gemacht, dass sie sich auf keine Art der Verhandlungen einlassen wird.

Die Frage ist also, wer in der internationalen Gemeinschaft den USA endlich sagen wird, dass man der Zivilbevölkerung Venezuelas nicht länger die Luft zum Leben abschnüren kann, dass man einen diplomatischen Prozess in Gang bringen muss, um alle an den Verhandlungstisch zu bringen.

Norwegen hat die jüngsten Friedensverhandlungen gesponsert, die aber komplett gescheitert sind, weil die USA das Embargo verhängt haben. Bis die US-Regierung, die ja diejenige ist, die die diplomatischen Bemühungen und Friedensverhandlungen sabotiert, nicht etwas Abstand gewinnt und neue Mechanismen zulässt, um die wirtschaftlichen Probleme im Land zu lösen, wird in Venezuela wohl alles beim Alten bleiben.

Und das heißt: sehr schwierig. Die Menschen halten noch durch; es herrscht keine humanitäre Katastrophe. Aber definitiv eine Wirtschaftskrise und sie schadet den durchschnittlichen Venezolanern mehr als alles andere.

Die Sanktionen sind ein Krieg gegen die gesamte zivile Bevölkerung.

Aaron Maté ist Journalist und Produzent. Er schreibt u.a. für das Magazin The Nation und ist ehemaliger Moderator und Produzent von The Real News and Democracy Now!


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