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Titel: Syrien, Medien, Völkerrecht: Wieder nur die halbe Wahrheit

Datum: 29. Oktober 2019 um 11:59 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Medienkritik, Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache
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Die Empörung über die türkische Militäraktion ist berechtigt – inakzeptabel ist aber, dass nun urplötzlich jene Medien und Politiker auf das Völkerrecht pochen, die es im Zusammenhang mit Syrien seit Jahren mutmaßlich brechen. Von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der Einmarsch der Türkei in Nordsyrien widerspricht dem Völkerrecht. Auf diese offensichtliche und zutreffende Tatsache können sich aktuell fast alle westlichen Kommentatoren in Politik sowie in großen und kleinen Medien einigen.

Die Verzerrung und die Heuchelei beginnen da, wo dieser klare Bruch des Völkerrechts durch die türkische Armee skandalisiert wird, aber nicht erklärt wird, welche Politik eine Situation geschaffen hat, die diesen Bruch erst möglich gemacht hat: Es war der auch durch NATO-Staaten und Verbündete seit 2011 betriebene Umsturzversuch gegen die Regierung Syriens aus geopolitischen Motiven. Ohne die vorherige Zerrüttung des syrischen Staatsgebiets und des damit einhergehenden permanenten Bruchs des Völkerrechts wäre die aktuelle türkische Invasion kaum vorstellbar. Durch das Verschweigen der eigenen destruktiven Rolle im Zusammenhang mit dem „Bürgerkrieg“ gegen die Regierung in Syrien liefern zahlreiche Journalisten und Politiker aktuell und einmal mehr nur die halbe Wahrheit zum Syrienkonflikt.

Westlicher Bruch des Völkerrechts: „Haltet den Dieb!“

Angesichts des jahrelangen mutmaßlichen Bruchs des Völkerrechts in Syrien durch westliche Staaten oder deren Verbündete erscheint die urplötzliche Empörung über den aktuellen Bruch des Völkerrechts durch die Türkei also heuchlerisch: So bietet zwar die Vertreibung der Kurden isoliert betrachtet gut begründeten Anlass für Empörung. Dass diese Empörung aber gerade von jenen Akteuren artikuliert wird, die mutmaßlich zentralen Anteil an einer Entwicklung haben, die die türkische Invasion überhaupt erst möglich gemacht hat, das ist aufreizend. Es ist ein klassischer Fall des Vorgehens: „Haltet den Dieb!“

Doch es gibt kaum Stimmen, die diese Distanzierung von den eigenen Taten (nämlich der jahrelangen politisch-medialen Absicherung eines „Bürgerkriegs“ gegen die syrische Regierung) feststellen oder anprangern. Einmal mehr sind die Bürger Ziel eines politisch-medialen Gemeinschaftswerks: Das aktuell gegebene Schauspiel mit dem Namen „Besorgnis um das Völkerrecht“ wäre nicht durchzuhalten, wenn es etwa ein großes Medium gäbe, das aus der Linie ausscheren würde und dieser Tage auf den mutmaßlichen Bruch des Völkerrechts durch den Westen in Syrien hinweisen würde, der dem türkischen Einmarsch vorangegangen ist.

„Despoten wie Putin ignorieren das Völkerrecht“

Doch das Gegenteil ist der Fall – liest man dieser Tage große deutsche Medien und hört deutsche Regierungspolitiker, so hat man den Eindruck, dass das Völkerrecht nicht etwa durch den westlichen Umgang mit Syrien seit 2011 gebrochen wurde, sondern erst mit dem türkischen Einmarsch. So sieht der „Spiegel“ zum Thema „Völkerrecht im Syrienkrieg“ plötzlich und erst jetzt „Das Recht des Stärkeren“ am Werk und fährt fort:

„Die Uno-Charta soll sicherstellen, dass selbst im Krieg Regeln gelten. Doch Despoten wie Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdogan setzen sich darüber hinweg. Das Völkerrecht spielt in Syrien keine Rolle mehr.“

Auch die „Zeit“ stellt nun fest:

„Die Türkei hat das Völkerrecht nicht auf ihrer Seite.“

Und die „Welt“ konstatiert: “Der Westen hat kapituliert“. In einem Absatz praktiziert die Zeitung vieles von dem, was an der Syrienberichterstattung zu kritisieren ist, etwa die falsche Darstellung vom „untätigen Westen“:

„Viele Jahre lang sah der Westen zu, wie die Kriegsallianz Moskau–Teheran–Damaskus einen Vernichtungskrieg gegen die eigene Bevölkerung führte, der auch den Einsatz von Giftgas einschloss. Die strikte Beschränkung des westlichen Engagements in Syrien auf die Bekämpfung der Terrormiliz IS bedeutete faktisch, Assad und seinen Schutzherren freie Hand für die Auslöschung der syrischen Opposition und die systematische Entwertung des humanitären Völkerrechts zu geben.“

Verzerrungen zu Syrien: Koalition aus Medien und Politik

Stimmen aus der Politik stehen dieser Praxis der Verkürzung nicht nach, indem sie nun ebenfalls isoliert und selektiv einzig den unbestreitbaren Völkerrechtsbruch durch die Türkei skandalisieren. So zitiert die „Süddeutsche Zeitung“ den Außenminister:

„Maas wirft Türkei Bruch des Völkerrechts vor. Die türkische Militäroffensive gegen die Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien steht nach Auffassung von Bundesaußenminister Heiko Maas ‚nicht im Einklang mit dem Völkerrecht’.”

Ins selbe Horn stößt der CDU-Politiker Jürgen Hardt (CDU) im „Deutschlandfunk“, wenn er im Zusammenhang mit der Farce um Annegret Kramp-Karrenbauers „Schutzzone“ Russland einen Bruch des Völkerrechts vorwirft – mutmaßlich wissend, dass Russland die einzige Nation ist, die sich dem Völkerrecht konform in Syrien aufhält. Doch das ficht Hardt nicht an, der die mutmaßliche Verantwortung auch des Westens für die Zerstörung Syriens auf „Russlands Schultern“ laden will:

“Ich könnte mir vorstellen, dass man gemeinsam, die Verteidigungsministerin und natürlich der Außenminister zunächst einmal klären, dass vielleicht die fünf EU-Mitglieder, die Mitglied des UN-Sicherheitsrates sind, einen geschlossenen Vorschlag machen, dass man die Amerikaner für die politische Unterstützung gewinnt, und dann muss Russland Farbe bekennen, ob es bereit ist, das ein Stück weit mitzutragen, oder ob sie klar Nein sagen, aber damit auch die Verantwortung dafür auf ihre Schultern laden, dass der Zustand, wie er jetzt ist, völkerrechtswidrig bleibt.“

Zur Berichterstattung allgemein ist anzumerken, dass Ausnahmen auch in diesem Fall die Regel bestätigen – doch diese weniger verzerrenden Ausnahmen oder auch die Erwähnung westlichen Völkerrechtsbruchs in einem Nebensatz am Ende eines Artikels können das ansonsten intensiv verbreitete Bild nicht ins Wanken bringen.

Weiteres Beispiel für ins Rutschen geratene Kategorien mancher Journalisten ist die fehlende Skandalisierung der aktuell angekündigten Besatzung syrischer Ölquellen durch die US-Armee. Der Vorgang wird zum Teil demonstrativ trocken und klein vermeldet. Anstatt eigene Kritik an dem Skandal zu üben, wird zudem meist auf Kritik aus Russland verwiesen. Man kann sich das im Vergleich dazu emotionale Feuerwerk an Artikeln vorstellen, wenn Russland die Okkupation fremder Ölquellen angekündigt hätte.

Die Ausflucht „Hinterher ist man immer klüger“ gilt bei Syrien nicht

Die Ausflucht „hinterher ist man immer klüger“ gilt im Fall Syrien übrigens nicht – man hätte die Möglichkeit gehabt, schon vorher „klüger“ zu sein. Unter vielen anderen Beispielen der Mahnung zeigt etwa ein wegweisender Artikel von Reinhard Merkel in der FAZ, dass eine realistische Beurteilung des „Bürgerkriegs“ in Syrien und der Schuld des Westens daran schon 2013(!) möglich war. Unter dem Titel „Der Westen ist schuldig“ führt der Rechtswissenschaftler Merkel aus:

„In Syrien sind Europa und die Vereinigten Staaten die Brandstifter einer Katastrophe. Es gibt keine Rechtfertigung für diesen Bürgerkrieg.“

Durch diese Schuld hat der Westen auch die Verantwortung für die indirekten Folgen des inszenierten „Bürgerkriegs“ in Syrien auf sich geladen – darunter fällt auch die Verantwortung für das nun besonders von den indirekten Verursachern beklagte Schicksal der Kurden.

Propagandatechnik: Eine Geschichte verkürzt erzählen

Der Verweis auf den alten Artikel in der FAZ verdeutlicht, wie lange der illegale Charakter der westlichen Syrienpolitik schon offensichtlich ist und auch festgestellt wurde. Trotzdem gelingt es nun einer politisch-medialen Koalition, bei weniger informierten Bürgern den Eindruck zu erwecken, dass der Syrienkonflikt gerade erst mit dem türkischen Einmarsch begonnen hat. Durch diese Finte möchten sich Teile der wirklich Verantwortlichen anscheinend selber freisprechen.

Das ist ein treffendes Beispiel für die Propagandatechnik der Verkürzung – bei dieser Technik wird mit der Schilderung eines Ereignisses an dem (späten) Punkt angesetzt, der für die eigenen Interessen und zur Vernebelung eigener Delikte günstig ist. Dieses Vorgehen ist auch beim Thema Ukraine zu beobachten: In dem Fall wird oft erst mit der russischen „Annexion“ der Krim eingesetzt und die wichtige Vorgeschichte des Maidan-Umsturzes verschwiegen. Albrecht Müller hat diese Technik bereits in diesem Video analysiert:


(Alternativ ist das Video auch via YouTube erreichbar.)


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Titelbild: niroworld / Shutterstock


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