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Titel: Russland: Regierungsrücktritt nach Putin-Rede

Datum: 16. Januar 2020 um 9:06 Uhr
Rubrik: Demoskopie/Umfragen, Familienpolitik, Länderberichte, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Umbesetzungen in der russischen Machtspitze kommen erfahrungsgemäß überraschend. So auch gestern. Die russische Regierung unter Dmitri Medwedew trat zurück. Die Regierung war wegen ihrer Sparpolitik, einem hohen Leitzins und einer Mehrwertsteuererhöhung unbeliebt. Doch der Rücktritt des gesamten Kabinetts kam völlig überraschend. Wladimir Putin hatte zuvor zahlreiche Maßnahmen zum Schutz von Armen, kinderreichen Familien, zur Verbesserung von Bildung und Gesundheit gefordert. Die neoliberal ausgerichtete Regierung hatte abgewirtschaftet. Von Ulrich Heyden, Moskau.

Am späten Mittwochnachmittag ernannte Wladimir Putin einen bisher fast unbekannten Spitzenbeamten zum geschäftsführenden Ministerpräsidenten. Es handelt sich um den bisherigen Leiter der russischen Steuerbehörde, Michail Mischustin. Beobachter in Moskau munkeln, nun beginne der „Transit“. „Transit“ nennt man in Russland die Übergabe der Macht von Wladimir Putin an einen Nachfolger. Putins Amtszeit endet 2024. Dass Mischustin als Nachfolger von Putin aufgebaut werden soll, ist möglich. Vielleicht ist er aber auch nur ein Übergangs-Premier.

Der neue Ministerpräsident leitete zehn Jahre die Steuerbehörde

Mischustin ist 53 Jahre alt. Er ist Absolvent des Moskauer Instituts für Werkzeugmaschinen und seit 1998 im Staatsdienst. 2007 wurde er Leiter für Wirtschaftssonderzonen. Seit 2010 leitet Mischustin die russische Steuerbehörde. Er gilt als Modernisierer. Er stellte die Steuerverwaltung auf digitale Verarbeitung um, führte die „elektronische Unterschrift“ und ein neues Verfahren zur steuerlichen Erfassung von Klein-Unternehmern ein.

Kampf gegen Armut und Bevölkerungsrückgang

Der gestrige Tag, der sicher in die Geschichtsbücher eingehen wird, begann ohne Überraschungen. Wladimir Putin hielt in der „Manege“, einer Halle nicht weit vom Kreml, seine alljährliche Rede (hier auf Englisch) zur „Lage der Nation“. Im ersten Teil der Rede schlug der Kreml-Chef zahlreiche Maßnahmen zur Unterstützung von Familien mit Kindern vor. Nach der Stabilisierung der Bevölkerungszahl vor einigen Jahren ist diese Zahl jetzt wieder rückläufig. Das hängt mit den 1990er Jahren unter Präsident Boris Jelzin zusammen, als es wegen der katastrophalen Wirtschaftslage nur Wenige wagten, Kinder in die Welt zu setzen.

Putin forderte in seiner Rede außerdem Maßnahmen gegen die Armut und zur Verbesserung von Bildung und Gesundheitsversorgung. Das war erwartet worden und nicht verwunderlich. Denn die Bevölkerung musste in den letzten sechs Jahren Einkommensminderungen hinnehmen. Ein großer Teil der Bevölkerung hat ein Einkommen von nur 300 bis 400 Euro. 80 Prozent der Familien mit niedrigem Einkommen seien Familien mit Kindern, stellte der Kreml-Chef in seiner Rede fest. „Selbst wenn nicht nur ein, sondern beide Elternteile arbeiten, ist das Einkommen dieser Familien sehr niedrig“, so der Präsident.

Nun soll die Regierung gegensteuern. Für die ersten beiden Kinder soll es rückwirkend ab dem 1. Januar 2020 jeden Monat einen Zuschuss von durchschnittlich 157 Euro geben. Die gleiche Summe soll für Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren gezahlt werden, deren Eltern ein Einkommen unter dem Mindestlohn von 157 Euro haben.

Dass 2007 eingeführte «Mutter-Kapital» – ein Zuschuss für das zweite Kind in Höhe von 6.700 Euro – soll es nun schon für das erste Kind geben. Bei dem zweiten Kind soll das Mutterkapital die Höhe von 8.800 Euro betragen. Außerdem sollen alle Grundschüler ab dem 1. September 2023 ein kostenloses warmes Mittagessen bekommen.

Putin: „Es gibt den Wunsch nach Änderungen“

Putin selbst in seiner Rede: „Heute gibt es in unserer Gesellschaft einen eindeutigen Wunsch nach Änderungen. Die Menschen wollen Entwicklung und streben danach, sich in ihren Berufen, ihrem Wissen und ihrem Wohlstand weiterzuentwickeln.“ Der Leiter des russischen Rechnungshofes, Aleksej Kudrin, der zum neoliberalen Lager in der russischen Regierung gehört, nannte die angekündigten sozialen Maßnahmen mit 6,4 Milliarden Euro „ziemlich teuer“.

Das Parlament soll den Ministerpräsidenten wählen dürfen

Im zweiten Teil der Rede von Putin gab es eine große Überraschung. Der Präsident schlug vor, die Rolle des Parlaments zu stärken und die Verfassung zu ändern. Russland brauche Maßnahmen zum Schutz seiner Souveränität. Abgeordnete für das Parlament, Minister und Spitzenbeamte sollen nur noch kandidieren dürfen, wenn sie keine zweite Staatsbürgerschaft und keine Immobilien im Ausland haben. Nur wer „sein Leben mit Russland verbindet“, soll für ein hohes Staatsamt kandidieren dürfen. Internationale Gesetze sollen in Russland nur dann gelten, wenn sie „der russischen Verfassung nicht widersprechen“.

Außerdem schlug der Kreml-Chef vor, dass nicht – wie bisher – der Präsident, sondern die Duma den Ministerpräsidenten und die Minister bestimmt. Der Präsident soll diesen Vorschlägen dann nicht widersprechen, bei Amtsmissbrauch aber abberufen dürfen. Außerdem soll der Präsident wie bisher das Recht haben, die Aufgaben der russischen Regierung zu bestimmen. Der Kreml-Chef sprach sich dafür aus, auch den Status des russischen Oberhauses – dem Föderationsrat – zu erhöhen. Er soll das Recht haben, Richter des Verfassungsgerichtes abzuberufen.

Außerdem schlug der russische Präsident vor, den Staatsrat – ein Gremium, welches regelmäßig zu zentralen Fragen der russischen Politik tagt – in der Verfassung zu verankern. Der Staatsrat – so vermutet die Novaja Gaseta – könne die Koordinierung der geplanten Integration von Russland und Weißrussland übernehmen.

Seit einigen Monaten wird in Moskau darüber spekuliert, ob Wladimir Putin im Jahr 2024, nach seinem Ausscheiden als Präsident, die Leitung der geplanten Union von Russland und Weißrussland übernimmt. Über die von Putin vorgeschlagenen Verfassungsänderungen soll im Herbst dieses Jahres, nach eingehender Beratung in der Gesellschaft, abgestimmt werden.

Putin: „Russland bleibt Präsidialrepublik“

Russland ist bisher eine Präsidialrepublik. Und die soll es nach Meinung von Putin auch bleiben. Dem Präsidenten – so der Kreml-Chef – solle das Recht vorbehalten bleiben, die Leiter der Sicherheitsbehörden zu ernennen.

Das russische Unterhaus (die Duma) hat in der russischen Verfassung vom Dezember 1993 nur eine Randrolle. Das hängt mit der nachsowjetischen Geschichte von Russland zusammen. Im Oktober 1993 hatte Boris Jelzin das aufmüpfige Parlament mit Panzern beschießen lassen und dann im Dezember eine Verfassung verabschieden lassen, die dem Präsidenten weitgehende Vollmachten gibt.

Ex-Premier Medwedew wird stellvertretender Leiter des Sicherheitsrates

Der Kreml-Chef hatte sich am Mittwoch, gleich nach seiner Rede zur Lage der Nation, mit Ministerpräsident Dmitri Medwedew getroffen. Danach traf sich Putin mit dem gesamten Regierungskabinett. Während dieses Treffens gab Medwedew den Rücktritt der Regierung bekannt. Putin lobte die Arbeit der Regierung. Natürlich sei „nicht alles“ erreicht worden. „Aber man erreicht nie alles.“ Der Kreml-Chef bat die Minister, die Amtsgeschäfte so lange weiterzuführen, bis eine neue Regierung bestätigt ist.

Der zurückgetretene Ministerpräsident, Dmitri Medwedew, ist Jurist und kommt aus St. Petersburg. Aus seiner Arbeit in der Stadtverwaltung der Newa-Stadt kennt Medwedew Wladimir Putin. 2008 wurde Medwedew, der in Russland bis dahin unbekannt war, zum Präsidenten Russlands gewählt. Medwedew übte dieses Amt nur eine Periode – bis 2012 – aus, um Wladimir Putin für eine weitere Amtszeit Platz zu machen.

Nach Umfragen russischer Meinungsforschungsinstitute hatte Regierungschef Dmitri Medwedew in den letzten Jahren konstant schlechte Umfragewerte. Nach einer Umfrage des Instituts „Gesellschaftliche Meinung“ hatten im Dezember 2019 zu Medwedew 28 Prozent der Befragten Vertrauen und 61 Prozent kein Vertrauen. Sehr groß ist der Abstand zu Wladimir Putin. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM vertrauten Dmitri Medwedew im Dezember 2019 37 Prozent der Befragten und Wladimir Putin 70 Prozent. Wladimir Putin will Medwedew nun zum stellvertretenden Leiter des russischen Sicherheitsrates machen. Diese Funktion gibt es bisher nicht. Vorsitzender des Rates ist Putin. Dem Rat gehören die Leiter der russischen Sicherheitsstrukturen sowie verschiedene Minister und Leiter von russischen Regionen an.

Aleksej Makarkin vom Zentrum für politische Technologie erklärte gegenüber der Nesawisimaja Gaseta, er vermute, dass Medwedew „in Reserve gehalten wird“. Weiter vermutet der Politologe, für die in seiner Rede anvisierten Ziele brauche Putin eine Person mit „politischen Möglichkeiten“ und keine „technische Figur“. Der neue Ministerpräsident werde eine „populäre Politik“ machen und die von Wladimir Putin in seiner Jahresbotschaft bekanntgegebenen sozialen Verbesserungen durchführen. Wenn er sich in seinem Amt bewähre, sei es möglich, dass der neue Ministerpräsident Putin in das Präsidentenamt folgt.

Ob die Beschreibung des Politologen jedoch auf den geschäftsführenden Ministerpräsidenten Mischustin zutrifft, ist unklar. Mischustin arbeitete im Finanzblock der russischen Regierung. Und der war neoliberal ausgerichtet.

Kommunisten hoffen auf Regierungsbeteiligung

Am Mittwoch bei einer Talk-Show im Fernsehkanal Rossija 1 hatte ein Vertreter der Kommunistischen Partei die Hoffnung geäußert, seine Partei werde die Nutznießerin vom Rücktritt der Regierung sein. Die Duma werde einen Kommunisten zum Ministerpräsidenten wählen. Darauf meinte der stellvertretende Duma-Vorsitzende, Pjotr Tolstoi von der Regierungspartei „Einiges Russland“, „dann müsst ihr erst mal die Wahlen gewinnen“. Einiges Russland stellt in der Duma 54 Prozent der Abgeordneten, die Kommunistische Partei 13 Prozent und die sozialdemokratische Partei Gerechtes Russland sechs Prozent der Abgeordneten. Die nächsten Duma-Wahlen finden regulär im Jahr 2021 statt. Doch angesichts der neuesten Entwicklungen in Moskau kann man nicht ausschließen, dass die Duma-Wahlen vorgezogen werden.

Ob aus den Träumen der KPRF etwas wird, ist unsicher. Sicher ist dagegen, dass Wladimir Putin soziale und politische Zugeständnisse macht, weil das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung rapide gesunken ist.

Ulrich Heyden, Moskau, 15. Januar 2019

Titelbild: YuryKara/shutterstock.com


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