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Titel: „Clearview“: Die Realität der massenhaften Überwachung

Datum: 21. Januar 2020 um 12:07 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Überwachung, Innere Sicherheit
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Gesichtserkennung und weitere angewandte Praktiken der Massenüberwachung sind durch den Fall des US-Unternehmens „Clearview“ in den Fokus gerückt. Gleichzeitig verwirrt die EU mit Plänen eines (angeblichen) „Verbots“ der Gesichtserkennung. Und in Deutschland fehlt laut Kritikern die rechtliche Grundlage für konkrete Überwachungs-Vorhaben des Innenministeriums. Von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Über Gesichtserkennung und Massenüberwachung ist eine aktuelle Debatte entbrannt – die Diskussion speist sich aus drei Aspekten: Auf der einen Seite wurden laut Medienberichten von einer privaten US-Firma zahllose Gesichter in einer Datenbank zusammengefasst, mit dem Ziel, sie zur automatischen Gesichtserkennung zu nutzen – dieser „Service“ wurde wohl auch von US-Behörden genutzt, ein Bericht der „New York Times“ beschreibt die Ausmaße: Demnach heißt das Unternehmen Clearview und es soll eine Datenbank mit mehr als drei Milliarden Fotos von menschlichen Gesichtern aufgebaut haben. Die Dimension gehe weit über alle bekannten Systeme hinaus.

Clearview, EU-„Verbot“, deutsche Überwachung

Auf der anderen Seite meldet aktuell etwa die Nachrichtenagentur Reuters, dass die EU laut einem (hier einzusehenden) „White Paper“ erwäge, „die Gesichtserkennungstechnologie in öffentlichen Bereichen für bis zu fünf Jahre zu verbieten“, um herauszufinden, „wie man Missbrauch verhindern“ könne. Dieses „Verbot“ wird aber bereits von der EU selber stark relativiert, was viele Medienberichte nicht angemessen herausstellen. Die (angeblichen) EU-Pläne eines Verbots der Gesichtserkennungstechnologie stehen zudem in Widerspruch zu den umstrittenen deutschen Plänen und Modellversuchen zu Massenüberwachung und Gesichtserkennung, etwa an Bahnhöfen und Flughäfen. So sagt das Innenministerium in einem Sicherheitskonzept:

„Der Ausbau und die Modernisierung der Videotechnik zur Erhöhung der Sicherheit an Bahnhöfen wird daher verstärkt vorangetrieben. Intelligente Videoüberwachung und biometrische Gesichtserkennung werden dabei zukünftig ein wichtiges Unterstützungsinstrument insbesondere für die Bundespolizei sein.“

Zur US-Firma Clearview schreibt DPA unter Berufung auf US-Medien, die Datenbank sei 600 Behörden als Service angeboten worden, laut „Spiegel“ an Polizeibehörden von Gemeinden und US-Bundesstaaten, aber auch an das FBI und das Heimatschutzministerium DHS. Für die Datenbank seien öffentlich zugängliche Bilder bei Plattformen wie Facebook und YouTube oder dem US-Bezahlservice Venmo gesammelt worden, hieß es in weiteren Berichten.

Das EU-Verbot, das keines ist

Angesichts dieser bedenklichen Auswüchse der Massenüberwachung in den USA und den Plänen dafür in Deutschland könnte der (angebliche) Vorstoß in der EU beruhigend erscheinen, Gesichtserkennungstechnologie in öffentlichen Bereichen für bis zu fünf Jahre „zu verbieten“. Schließlich könnte laut Reuters in dieser Zeit eine „Bewertung der Auswirkungen dieser Technologie und möglicher Maßnahmen zum Risikomanagement identifiziert und entwickelt“ werden. Doch was ist das für eine Forderung nach einem „Verbot“, das zunächst sinnvoll und angemessen klingt, bei näherer Betrachtung aber einen sehr großen Raum für „Ausnahmen“ lässt:

„Ausnahmen von dem Verbot könnten für Sicherheitsprojekte sowie für Forschung und Entwicklung gemacht werden.“

Und auch der „Spiegel“ interpretiert das EU-Papier nicht als Pläne zu einem Verbot: „Weil eine so ‚weitreichende Maßnahme‘ die Entwicklung und den Einsatz der Technik verhindern könnte, spricht sich die Kommission dem Papier zufolge gegen ein Verbot aus.“ Demnach erscheinen sowohl der EU-„Vorstoß“ als auch Teile der aktuellen Berichterstattung darüber irreführend. In Deutschland müsste man übrigens nicht auf eine EU-Regelung warten, um die Gesichtserkennung einzuschränken. Die fehlende juristische Grundlage der deutschen Pläne zur Massenüberwachung beschreibt „Telepolis“:

„Bei dem nun geplanten Einsatz der umstrittenen Technik ist noch völlig offen, auf welcher Rechtsgrundlage er erfolgen soll. Gemäß der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) ist es Experten zufolge grundsätzlich verboten, biometrische Daten mit dem Ziel zu erheben, Personen zu identifizieren.“

„Jeder wird gescannt“

Dass diese fehlende juristische Grundlage den Vormarsch der Technik aber nicht bremsen wird, vermutet die Süddeutsche Zeitung – das Medium fordert darum auch ein (echtes) Verbot der Technik:

„2020 wird das Jahr, in dem Gesichtserkennung den öffentlichen Raum erreicht – und damit ein Überwachungsnetz übers Land legt, das sich von jenem im digitalen Raum unterscheidet: Man kann ihm nicht entkommen. Im Gegensatz zum Smartphone lässt sich ein Gesicht weder zu Hause lassen noch abschalten. (…) Mit Gesichtserkennung springt Massenüberwachung nun in die physische Welt über. Jeder wird gescannt. (…) Ein automatischer Abgleich rund um die Uhr. Roboteraugen sehen mehr. Aber nicht immer richtig. (…) Die deutsche Politik setzt nun großflächig darauf – doch die Technik gehört verboten.“

Es gibt zahlreiche gute Gründe für die konsequente Ablehnung von Gesichtserkennungsprogrammen. So werden zahllose Bürger pauschal und verdachtsunabhängig kriminalisiert. Zudem entsteht nur die Illusion von Sicherheit – diese Illusion hilft jedoch dabei, noch mehr benötigtes Personal abzubauen. Nicht zuletzt ist die hohe Fehleranfälligkeit der Technik zu nennen. So werden, wie Telepolis berichtet, unter anderem Personen nicht-weißer Hautfarbe wohl deutlich schlechter erkannt. Es gibt allerdings auch Tendenzen des Widerstands gegen die massenhafte Überwachung: So hat etwa die US-Stadt San Francisco die Technik zur Gesichtserkennung teilweise(!) verboten – „aus Sorge vor Racial Profiling und ständiger Kontrolle“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt.

Massenüberwachung auf dem ungebremsten Vormarsch

Die allgemeine und weltweite Entwicklung geht jedoch in eine andere Richtung. So hat die Carnegie Stiftung für internationalen Frieden in einer Studie festgestellt, dass die Verwendung von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Massenüberwachung stetig zunehme: Mindestens 75 von 176 untersuchten Ländern verwenden demnach KI zur Überwachung, die deutliche Mehrheit davon auch Gesichtserkennungstechnologie, wie das Medium „Mixed“ beschreibt. Diese Entwicklung ist auch Ergebnis von Industrie-Lobbyismus, wie er etwa in diesem Artikel beschrieben wird. Die Taktiken zur Einführung der gefährlichen Technologie sind aber vielfältig: Zum Teil soll die neue Technik auch durch eher „unschuldige“ Nutzungen eingeführt und die Menschen daran gewöhnt werden: Laut Medienberichten wird in der japanischen Stadt Osaka aktuell getestet, die Gesichtserkennung als Fahrkartenersatz zu nutzen.
Gegen die aktuell kaum gebremste Verbreitung der Massenüberwachung wurde eine neue Initiative gegen Gesichtserkennung gestartet. Die NachDenkSeiten haben kürzlich in diesem Artikel über die deutschen Pläne der Gesichtserkennung berichtet.

Titelbild: Dmitry Kalinovsky/shutterstock.com


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