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Titel: Joachim Gauck: Ein traumatisierter Präsidentschaftskandidat

Datum: 18. Juni 2010 um 8:56 Uhr
Rubrik: Agenda 2010, Bundespräsident, Das kritische Tagebuch, Wertedebatte
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„Joachim Gauck bringt ein Leben mit in seine Kandidatur und in sein Amt“, sagte Sigmar Gabriel als er Joachim Gauck als den Kandidaten von SPD und Grüne für das Amt des Bundespräsidenten vorschlug.
Wer könnte dieses Leben authentischer beschreiben als Gauck selbst es in seinen Erinnerung „Winter im Sommer – Frühling im Herbst“ getan hat.
Im Zusammenhang mit seiner Kandidatur zum Bundespräsidenten interessiert weniger sein privater Lebensweg, sondern zu welchen weltanschaulichen und politischen Positionen seine Erfahrungen geronnen sind. Wer wissen will, wie Gauck denkt sollte sich mit seinem Buch beschäftigen. Wolfgang Lieb

Gauck bezeichnet sich selbst als „Betroffenen einer europäischen Verlustgeschichte“ (S. 341). Er ist angetrieben vom „Schmerz über so viel geraubte Freiheit, soviel Demütigung und beständiger Ohnmacht“ (S. 329)in seinem Leben als Pastor in der DDR. „Ich werde die Freiheit wohl ebenso lange in hohen Tönen loben, wie ich die Spätfolgen der Unfreiheit in mir spüre“ (S. 332). Mit diesen und ähnlichen Bekenntnisse lassen sich Motivation und Motiv seines politischen Lebens zusammenfassen.

Sie sind aus seiner privaten und beruflichen Biografie begründet und verdienen allen Respekt. Die Frage ist allerdings, macht ihn dieses „Leben“ auch zu einem geeigneten Repräsentanten des ganzen Volkes.

Gauck empfindet Dankbarkeit und Freude über die neue Freiheit und Freiheit war und ist für ihn „Soziale Marktwirtschaft“„wie im Westen“ (S. 227). Freiheit war für ihn nach der Wende deshalb auch gleichbedeutend mit Einheit.

Er beschreibt Freiheit als Übernahme von Verantwortung, als ständige Wandlung und permanente Herausforderung (S.337). Andere, die sich durch diese Freiheit überfordert sehen oder die sie nicht ergreifen, sind für Gauck „kleinmütig“, sie fühlten sich nur in ihrer Auffassung bestätigt, „dass es wirkliche Freiheit nicht gebe, der Sozialstaat nicht sozial sei und die Chancengleichheit ein Traum bleibe“ (S. 337). Er geht dabei vor allem hart mit seinen Landsleuten im Osten Deutschland ins Gericht: Sie seien „gefangen in lange eingeübter Ohnmacht, oft auch ohne Selbstbehauptungswillen, der eigenen Kräfte nicht sicher, politisch und intellektuell verunsichert“ (S. 337) und deshalb anfällig für Konformität oder eine „erlösende“ Ideologie. Man müsse schon „denkfaul und erfahrungsresistent“ sein, wenn man „ausgerechnet sozialistischen und kommunistischen Ideologien wieder glaubt, die einen Systemwechsel propagieren“. Welche politische Richtung und welche Partei Gauck damit meint, wird in seinem Buch durchgängig beschrieben, es ist natürlich die PDS, die politische Linke und ein „gewisses linksliberales Milieu“, das „die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur zu umgehen“ trachte (S. 306).

„Freiheit“ ist für Gauck eine „Sehnsucht“ und „als verlockende Kraft ungeschmälert schön“ (S. 336). Aus seinen persönlich schlimmen Erfahrungen mit dem SED-Regime verklärt er das „neue Regime“ als Ideal.
Es ist die verständliche Sehnsucht eines, der hinter der Mauer leben musste und der in die Freiheit des Westens alle seine Sehnsüchte hineinprojizierte. Waren für die einfachen Bürger in der DDR die Bilder des Westfernsehens mit der Konsumfreiheit und glitzerndem Lifestyle das unerreichbar Ideal, so waren es für den Intellektuellen Gauck eben die bürgerlichen Freiheiten.

Jeder, der nun angesichts der konkreten Ausprägung dieser Freiheit in der Lebenswelt Kritik oder Zweifel anmeldet, jeder, der meint, dass „der Sozialstaat nicht sozial sei und die Chancengleichheit ein Traum bleibe“, ist für Gauck „kleinmütig“ und anfällig für „fürsorgliche“ Politik (S. 337 f.). Deutschland habe „in den letzten Jahren zu sehr auf diese Kleinmütigen und Zweifler geschaut“ urteilt Gauck.

Die Biografie ist 2009 erschienen. Mit keinem Wort geht Gauck auf das Schicksal und die Möglichkeit zur Wahrnehmung von Freiheit etwa der Arbeitslosen ein, die ja vor allem im Osten einen besonders hohen Anteil in der Bevölkerung einnehmen. Kein Wort zum Sozialabbau durch die Agenda 2010 und zur Demütigung durch Hartz IV. Zunehmende Armut und eine immer tiefer greifende Spaltung der Gesellschaft in unten und oben, sind für Gauck nicht Anlass, sich Sorge um die Freiheiten der einzelnen Bürgerinnen und Bürger zu machen. Sein Glaubensbekenntnis bleibt: „Mag sein, dass Jahre kommen, in den die Freiheit noch mehr an Glanz verliert. Mag sein, dass ungewohnte Lasten auferlegt werden. Mag sein, dass dann allgemeiner Verdruss das Land noch mehr einhüllt. Aber ich werde mich erinnern: Wir haben sie ersehnt, sie hat uns angeschaut, wir sind aufgebrochen, und sie hat uns nicht im Stich gelassen, als uns in der Freiheit neue Herausforderungen begegneten. Es kann nicht anders sein: Sie wird mir immer leuchten“ (S. 342).

Gauck vertritt das abstrakte Freiheitsideal des Liberalismus, das sich auf die bürgerlichen Abwehrrechte gegen den Staat beschränkt und in dem ansonsten jeder seines Glückes Schmied sein kann. Soziale Grundrechte, die die materielle Voraussetzung für die Wahrnehmung der Freiheit für diejenigen sind, die nicht „Bürgermeister“ werden, „Firmen gründen“, „unbekannte Kontinente“ erforschen oder als „Befreite“ Regierungschefin werden (S. 337), sind ihm suspekt. Wie bei den Ordoliberalen à la Hayek gelten ihm solche Gesellschaftsvorstellungen, die auf eine soziale Basis für die Verwirklichung von Freiheit drängen, als tendenziell totalitär.

„Wir haben den Sieg der Visionen einer Ordnung des Proletariats und der arischen Rasse erlebt“ (S. 339) warnt Gauck. Die „Diktaturerfahrenen sollten zusammenstehen“, wirft er Nationalsozialismus und Kommunismus in einen Topf. Dem linksliberalen Milieu hält er vor, „dass es den repressiv-totalitären Charakter des realen Sozialismus meist als links und nicht als totalitär rezipiert“ habe. An solchen Aussagen zeigt sich, dass an Gauck der Totalitarismus-Streit im Westen Deutschlands offenbar komplett vorbeigegangen ist – noch mehr, dass er noch diesen Denkkategorien des „Kalten Krieges“ nachhängt.

Er leugnet, dass das von ihm so apostrophierte linksliberale Milieu die Unterdrückung und die Verfolgung anders Denkender heftiger kritisiert hat, als es konservative Kräfte jedenfalls als grundsätzliche Kritik nach allen Seiten getan haben – man denke nur an die Unterstützung des Franco Regimes oder der Pinochet-Diktatur etwa durch die CDU. Wogegen sich Linksliberale verwahrt haben, das ist allerdings die Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus und damit die Relativierung des Faschismus und seiner Verbrechen.

„Systemkritische Ansätze wie die Totalitarismustheorie wurden damals ignoriert oder aus moralischen Gründen verworfen“ (S. 306) behauptet Gauck und leugnet, dass seit Gründung der Bundesrepublik die Totalitarismus-Doktrin die Keule der konservativen Kräfte gegen alles, was sie für fortschrittlich einstufte war und gleichzeitig für die Rechtsextremen das Einfallstor für die Verharmlosung des NS-Regimes.

Angesichts dieser Gleichsetzung von Links und Rechts versteht sich auch die Kritik Gaucks an der Brandtschen Ostpolitik. Er wirft etwa der Zeit-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff oder dem Architekten der Entspannungspolitik Egon Bahr vor, sie seien „in der Frage der Aufarbeitung eigentümlich zeitgeistverhaftet“. Dass der Wandel durch Annäherung erst die entscheidenden Voraussetzungen dafür geschaffen hat, was 1989 in Bewegung kommen konnte und nicht wie am 17. Juni 1953 oder wie nach dem „Prager Frühling“ endete, das verschließt sich Gauck in seiner Fixierung auf die moralische berechtigte aber den historisch-politischen Kontext ausblendende Kritik am SED-Regime.

Dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung Zweifel am „Funktionieren“ unserer Demokratie hat, kümmert den „reisenden Demokratielehrer“ (S. 327) offenbar wenig. Wie bei seinem abstrakten Freiheitsbegriff hat Gauck auch ein idealisiertes Bild unserer Demokratie. Er erkennt keine tatsächlichen Machtstrukturen. Es müsse halt immer neu „ausgehandelt“ (S. 340) werden, ganz so als ob die Verhandlungspartner sozusagen am runden Tisch säßen und durch „beständige Kritik“ der Ungleichheit entgegenwirkten und „die Freiheit der Einen … gegen die Freiheit der Anderen ständig neu“ (S. 339) austarierten.
Dass es um dieses Austarieren ziemlich schlecht gestellt ist und eine ganz überwiegende Mehrheit in der Gesellschaft die Einschätzung hat, dass es in der realen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland nicht gerecht zugeht, ist Gauck keiner Erwähnung wert. Er beklagt sich vielmehr über die Zweifler und geißelt im Gegenteil eine zu „fürsorgliche“ Politik.

„Wir brauchen keine neue Gesellschaftsordnung, sondern eine Demokratie, die auf aktuelle Probleme und Bedrohungen mit innovativem Geist und ermächtigten Demokraten reagiert“ (S. 339). So redet angesichts den realen Problemen unserer Demokratie jemand, der sich seine Ideale nicht nehmen und sich davon immer neu beflügeln lassen will. Er ist begeistert „wie ich es hinter der Mauer war und immer bleiben werde“, diese Begeisterung für die Demokratie bietet jedoch keine Antwort auf die rapide sinkende Wahlbeteiligung oder auf den wachsenden Politikverdruss. Dennoch sieht Frank-Walter Steinmeier in Joachim Gauck einen „großen Ermutiger der Demokratie“.

„Wer den Kapitalismus abschaffen will, schüttet das Kind mit dem Bade aus… Wer die Freiheit will, muss sie auch in der Wirtschaft wollen. Doch wie im Raum der Politik gilt es auch in der Wirtschaft, die Freiheit so zu verstehen wie Demokraten – als Verantwortung gegenüber dem Ganzen“ (S. 338), schreibt Gauck. Und das mitten in der Finanzkrise, in der gerade diese Verantwortung gegenüber dem Ganzen im Kapitalismus einen katastrophalen Schiffbruch erlitten hat.

Das hohe Ansehen, das Joachim Gauck zugeschrieben wird, speist sich aus seiner Rolle der nach ihm benannten Behörde. Wie er das Amt des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit wahrgenommen habe, das mache ihn zu einer moralischen Autorität, so wird allgemein gesagt.

Es mag seinem Amtsverständnis geschuldet sein, dass Joachim Gauck dieses Amt nicht nur zur politischen, juristischen und historischen Aufarbeitung nach dem Stasi-Unterlagengesetz verstanden hat, sondern wie er selbst schreibt vor allem nach der „moralischen, metaphysischen und politischen Schuld“ (S. 316f.) gefragt hat. Versöhnung gibt es für ihn nur zwischen Opfer und Täter (S. 322). Er verlangt von den einzelnen Tätern ein Schuldeingeständnis und das Bekenntnis zur „neuen Freiheit“ (S. 325). Für einen protestantischen Pfarrer nicht weiter erstaunlich, ist für ihn Vergebung nur denkbar durch Buße.

Deswegen sind ihm alle ein Gräuel, die ihr Verhalten in der SED-Diktatur zu rechtfertigen versuchen. Er fühlte sich deshalb berechtigt, zu fordern, dass etwa der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe seines Amtes enthoben werde. „De Maizière hatte gehen müssen, obwohl viel weniger gegen ihn vorlag. Stolpe blieb, obwohl er von vielen als belasteter angesehen wurde“ (S. 305). Zu den Vielen gehörte naürlich auch Gauck.

Ich kann verstehen, dass sich Gauck angesichts seiner persönlichen Leidenserfahrung auf die Seite der Opfer der Stasi stellt und ich will Gauck nicht seine Meinung absprechen, aber es war nicht sein Auftrag, Ankläger und Richter zugleich zu sein und es war schon gar nicht die Aufgabe seines Amtes moralische Urteile zu fällen. Gauck hat sich als Opfer verstanden und hat sich gleichzeitig zum Richter über die Täter aufgeschwungen. Es ist, wie wenn in einem Strafgerichtsverfahren der Staatanwalt gleichzeitig der Richter wäre.

Man könnte für die Rollenvermischung Gaucks noch Verständnis haben, wenn die Stasi-Unterlagen die objektive Wahrheit wiederspiegelten. Doch das würde einen Geheimdienst und seine Denunzianten geradezu zur Wahrheitsinstanz erheben. Das tut aber Gauck. Die Welt der Stasi das sind für ihn die „Fakten“ und seine ganze Sicht auf die DDR und vor allem auf die im System tätigen Menschen ist die Sicht aus der Stasi-Perspektive. Es ist das Syndrom, das man auch von manchen Polizisten kennt: Wer nur noch mit Kriminellen Umgang hat, für den ist allmählich jeder verdächtig. Aus dem Aufklärer wird so der Jäger.

Die politische und historische Aufarbeitung der SED-Diktatur hat ihren Sinn aber weniger in der Verfolgung einzelner Täter – das auch – aber viel wichtiger wäre es, die Strukturen erkennbar zu machen, unter denen Menschen zu Tätern geworden sind. Selbst wenn alle Täter einer „maßvollen Bestrafung“ zugeführt worden wären und wenn es zu einem kompletten „Elitenwechsel“ ( S. 313) gekommen wäre, dann hätte man aus der Geschichte nichts gelernt und es wären künftige Generationen vor solchen oder vergleichbaren Entwicklungen nicht gewappnet. Das aber wäre die Aufgabe, die zumindest 20 Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des SED-Regimes zu erfüllen wäre.

Eine der wesentlichen Aufgaben für das Amt des Bundespräsidenten ist die Integration der Gesellschaft. Wer aber wie Gauck der festen Überzeugung ist, dass die Gauck-Behörde noch vierzig Jahre (S.325) individuelle Schuld aufarbeiten müsse, der arbeitet sein persönliches Trauma ab. Das ist dem Menschen Joachim Gauck nicht vorzuwerfen, aber es zeichnet ihn nicht gerade aus, z.B. Ost und West in Deutschland zusammenzuführen. Und das wäre ökonomisch wie politisch nach wie vor ein vordringliches Ziel.

Man mag mir vorwerfen, ich unterstützte mit meiner Kritik an Joachim Gauck die Kandidatur von Christian Wulff. Das wäre berechtigt, wenn man die Position einnähme, jeder Gegenkandidat ist schon deswegen geeigneter, weil er gegen Wulff kandidiert.

Nein, es geht mir um etwas Anderes. Meine Kritik an Gauck richtet sich gegen das Auswahlverfahren von SPD und Grünen. Man hat gegen einen Parteisoldaten der CDU eine Person gestellt, die das schwarz-gelbe Lager in der Bundesversammlung in Verlegenheit bringen soll, weil es Joachim Gauck eigentlich nicht ablehnen kann und die FDP sogar einen Kandidaten ablehnen müsste, der den (Markt-)Liberalen in ihrem Gesellschaftsbild fast noch näher steht als Wulff.

Gauck ist ein vergiftetes Angebot an die Mitglieder der Bundesversammlung von CDU und FDP. Das Motiv ist, der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung insgesamt eine Blamage zu bescheren. Das schadet dem Amt des Bundespräsidenten, wie schon das Auswahlverfahren von Horst Köhler diesem Amt geschadet hat.

Wenn man von Seiten der SPD und der Grünen hätte glaubwürdig bleiben wollen, dann hätte man eine Person benennen müssen, die eine gesellschaftliche Vision vertritt, die dem eigenen politischen Entwurf einigermaßen entsprochen hätte.

Es hätte eine Persönlichkeit sein müssen, die eine klare Haltung zur etwa Auseinanderentwicklung zwischen Arm und Reich, zur Entwicklung in Europa, zur Chancengleichheit oder zu Krieg und Frieden bezieht und in solchen Grundfragen Orientierung geben könnte.
Diese Persönlichkeit ist Joachim Gauck gewiss nicht.

Alle Zitate aus: Joachim Gauck, Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen. Siedler Verlag in der Bertelsmann Verlagsgruppe Random House GmbH, München 2009.


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