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Titel: Armut: Homeschooling offenbart die Risse in der Gesellschaft

Datum: 3. Mai 2020 um 11:45 Uhr
Rubrik: Bildungspolitik, Soziale Gerechtigkeit, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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„Warum Homeschooling meine Kinder glücklich macht“, lautet die Überschrift eines aktuellen Zeit-Artikels (hinter einer Bezahlschranke). Passend zum Artikel von Autorin Carolina Rosaler befindet sich ein Bild unter der Überschrift, das ein junges Mädchen zeigt. Das Kind sitzt vor einem augenscheinlich edlen Laptop und streckt die Arme mit geballten Fäusten in die Luft. Mimik und Gestik vermitteln: Das ist die Pose einer Gewinnerin. Das Kind hatte offensichtlich ein Erfolgserlebnis an seinem Computer. Wie würde ein „Homeschooling-Bild“ aussehen, das die Söhne von Hartz-IV-Empfänger Thomas Wasilewski zeigt? Mit Wasilewski haben die NachDenkSeiten kürzlich ein Interview veröffentlicht. Von Marcus Klöckner.

Wasilewski hatte gerade erst beim Jobcenter Mönchengladbach einen Computer für seine Kinder beantragt – für die Schule, wie er im Gespräch mit den NachDenkSeiten beschreibt. Auch für seine Kinder gilt in Zeiten Corona: Lernen von zu Hause oder neudeutsch „Homeschooling“. Doch sowohl das Jobcenter als auch das Sozialgericht Düsseldorf haben ihm seinen Wunsch verwehrt. Tenor: Schulaufgaben gehen auch mit dem Smartphone. Ob das Handy alt oder einen kaputten Bildschirm hat, scheint egal. Die Gegenüberstellung der beiden Lebenswelten zeigt: Die soziale Spaltung in unserem Land ist tief.
Bleiben wir noch einem Moment bei dem Foto, das die Zeit-Redaktion für ihren Artikel ausgewählt hat. Das Kind sitzt nicht nur vor einem Laptop. Es sitzt an einem Tisch, der augenscheinlich aus massivem Holz besteht und eine beachtliche Länge aufweist. Auf dem Tisch liegt, direkt neben dem Laptop, ein Smartphone. Hinter dem Kind ist ein Bücherregal zu sehen, das augenscheinlich ebenfalls aus massivem Holz besteht und in Design und Farbe mit dem Tisch identisch ist. Auf dem Regal stehen zahlreiche Bücher. Wer sich nur ein kleinwenig versucht vorzustellen, wie bei einem Rundumblick die weiteren Wohnverhältnisse aussehen dürften, wird kaum davon ausgehen, dass das Bild den Ausschnitt aus dem Innern einer Sozialwohnung zeigt. In den Wohnverhältnissen, in denen dieses Kind lebt, ist Platz (ignorieren wir mal, ob es sich bei dem Bild um eine reale authentische Aufnahme handelt oder ob, was vermutlich der Fall ist, das Bild Produkt einer zur Veröffentlichung gedachten inszenierten Wirklichkeit, Werbefotografie ist).

Platz zu haben, heißt heutzutage sehr oft, über Geld zu verfügen. Nur wer genügend finanzielle Mittel besitzt, kann sich vielerorts einen Wohnraum leisten, der die Wohnenden nicht einengt. Das Foto zeigt eindrucksvoll: So in etwa leben tatsächlich Kinder in unserem Land. Kinder, deren Eltern nicht arm sind, die über ein gewisses Vermögen verfügen. Sie gehen oft in dieselbe Schule wie ein Kind aus einer Hartz-IV-Familie, sie haben dieselben Lehrer, sitzen im selben Klassenzimmer und lernen dieselben Wissensinhalte. Und doch trennen beide Welten voneinander.

Die Kinder von Thomas Wasilewski können beim Homeschooling keine Glücksgefühle entwickeln. Während überall die Rede vom digitalen Zeitalter ist, während längst die „digital natives“ ihre digitalen Erfahrungen bereits im Kindesalter machen, während für viele Kinder das eigene Smartphone, das Tablet, der Laptop und Desktop-Computer Teil einer selbstverständlichen Realität sind, können Kinder aus armen Familien an der Digitalisierung nicht teilhaben.

Homeschooling über einen Computer? Aufgaben ausdrucken, die die Lehrer stellen? Dazu bedarf es eines Computers, eines Druckers. Es liegt auf der Hand: Für die 2 Euro und ein paar zerquetschte Cents, die der Gesetzgeber aus dem Hartz-IV-Satz für den „Kauf und Reparatur von Festnetz- und Mobiltelefonen und anderen Kommunikationsmitteln“ vorsieht, lassen sich die Kosten von mehreren hundert Euro, die für den Kauf eines Computers notwendig sind, nicht stemmen.
Dazu bedarf es keiner höheren Mathematik. Der Fall der Familie Wasilewski zeigt einmal mehr, was in unserer Gesellschaft seit langem bekannt ist, aber von der Bundesregierung mit einer Hartnäckigkeit, die ihresgleichen sucht, ignoriert wird: Schon Kinder bleiben in unserer Gesellschaft auf der Strecke, weil die staatlichen Hilfen nicht ausreichen.

Wer Erwachsenen zuhört, die aus armen Familien kommen, die über einen längeren Zeitraum Armutserfahrungen gemacht haben, gewinnt einen Eindruck davon, wie prägend das Leben in Armut sein kann. Der permanente Mangel an Materiellem, ja, selbst an den einfachsten Gegenständen, die Teil jedes normalen Haushaltes sind, vermittelt den Kindern früh, dass sie „anders“ als ihre Freunde und Kameraden aus finanziell besser gestellten Familien sind. Dort, wo ihre Mitschüler materiell aus dem Vollen schöpfen können, bleibt ihnen oft nur die Scham vor der eigenen Armut.

Wie stark die Wechselwirkungen zwischen der Lebenswirklichkeit der eigenen Familie, des Milieus, in dem man aufwächst, und den Individuen sind, hat die Gesellschaftswissenschaft längst bewiesen. Wer in armen Verhältnissen aufwächst, bildet den so genannten „Notwendigkeitshabitus“ aus, wie ihn der französische Soziologe Pierre Bourdieu erkannt hat. Das Denken, die Wahrnehmung der sozialen Welt, ist so stark von Entbehrung geprägt, dass die gesamte sich entwickelnde Persönlichkeit durch den Mangel an Ressourcen und folglich eben auch an Möglichkeiten gekennzeichnet wird.

Da die 10-15 Euro für den Spiegel im Bad, der längst zerbrochen und nur notdürftig an der Wand festgemacht ist, nicht vorhanden sind, wird er eben zusammengeklebt. Das Klebeband leiht man sich notfalls von einem Nachbar und blickt von nun an bei der Morgentoilette in einen Spiegel, in dem das eigene Spiegelbild durch einen Klebebandstreifen geteilt wird. Das Äußere kann sich so auf das Innere auswirken.

Was soll aus Kindern werden, die nicht einmal über einen Computer verfügen, um sich in einer Zeit, wo Homeschooling angesagt ist, ihre Schulaufgaben ausdrucken zu können?
Was ist von dem Jobcenter in Mönchengladbach oder dem Sozialgericht in Düsseldorf zu halten, die meinen, die Kinder benötigten keinen Computer? Was ist von politischen Weichenstellern wie dem nordrhein-westfälischen Minister für Soziales Karl-Josef Laumann oder Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zu halten, die den Bittbrief der Familie Wasilewski ignorieren? Was von einer Gesellschaft, von Wählern, die sehr wohl wissen, wie kläglich die Hartz-IV-Sätze für Kinder sind ?

Wer an dieser Stelle meint, ein bisschen Armut könne positiv prägend sein, weil doch gerade auch negative Lebenserfahrungen zu einer „reifen“ Persönlichkeit beitragen würden, möge Folgendes bedenken: Wenn von Armut in Familien die Rede ist, dann geht es oftmals nicht um eine, um zwei Erfahrungen. Es geht nicht darum, dass die Familienmitglieder mal den Gürtel enger schnallen müssen. Es geht darum, dass die Ärmsten die Entbehrung als Dauerzustand erfahren, aus dem es für sie kaum ein Entrinnen gibt.

Die dauerhafte Erfahrung von Armut ist nicht erbauend, sie führt in aller Regel nicht zu gestärkten Persönlichkeiten, die es im Leben weit bringen. Sie zerbricht Menschen. Nur wenige, sei es, weil sie eine extreme Kämpfernatur in sich tragen, sei es, weil sie an entscheidenden Stellen Glück haben, schaffen es, sich aus der Armut zu befreien.
Den Kindern der Familie Wasilewski wünscht man trotz der Ignoranz von Behörden und Politikern, die rasch helfen könnten, wenn sie denn wollten, sich nicht von ihren Lebensverhältnissen unterkriegen zu lassen. Die Armut in unserem Land ist real. Die Situation der Familie Wasilewski zeigt ein weiteres Mal auf, was um uns herum in vielen Familien der Dauerzustand ist.


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