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Titel: Asozialer Wohnungsbau. Für ein bezahlbares Heim hat der Heimatminister wenig übrig.

Datum: 15. Juni 2020 um 12:03 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Innen- und Gesellschaftspolitik, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Die soziale Wohnraumförderung geht in Zeiten von Gentrifizierung, Luxussanierungen und Wuchermieten weiter den Bach runter. 2019 sank die Zahl der staatlich geförderten Quartiere um über fünf Prozent. Gleichzeitig fielen erneut Zehntausende Einheiten aus der Preis- und Belegungsbindung. Schuld an der Misere haben knausernde Länderfürsten mit falschen Prioritäten und eine Bundesregierung, die sich ihre Verantwortung für die Schwächeren der Gesellschaft spart. Die Opposition verlangt ein milliardenschweres Rettungsprogramm und die Rückkehr zur Gemeinnützigkeit. Horst Seehofer baut lieber auf ein „Wunder“. Von Ralf Wurzbacher

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Bisweilen mag es der deutsche Innen-, Bau- und Heimatminister Horst Seehofer (CSU) spaßig. Im Interview mit der „Welt am Sonntag“ gab er Anfang Februar zum Besten: „Wir sind auf dem Weg zu einem Wunder beim Wohnungsbau.“ Ob er bei den Worten schelmisch griente, wie man das von ihm kennt, ist nicht überliefert. Im Lichte der wohnungspolitischen Herausforderungen und der selbstgesteckten Ziele stünde ein bisschen Selbstironie dem Minister jedenfalls gut zu Gesicht.

Den Bau von 1,5 Millionen neuen Wohneinheiten hatte die Bundesregierung für die laufende Legislaturperiode versprochen. Schon 16 Monate vor Toreschluss steht fest, dass die Vorgabe nicht zu halten ist. Das jährlich nötige Mittel von 375.000 wurde in den drei Vorjahren jeweils deutlich verfehlt. Selbst das Seehofer ins Schwärmen bringende „Rekordjahr“ 2019 blieb mit 293.000 fertiggestellten Wohnungen eine halbe Million unter dem Soll. Zwar wurde in der BRD seit 2001 nicht mehr so kräftig gebaut, wie dieser Tage das Statistische Bundesamt bescheinigte. Angesichts der absehbaren Rückschläge durch die Corona-Krise könnte die Blüte aber schon rasch wieder vorbei sein – und auf das Boomjahr ein blaues Wunder folgen.

Verschärfte Mietkrise

In einem Segment des Wohnungsbaus gibt es das böse Erwachen schon jetzt. Am Mittwoch berichtete die Deutsche Presse-Agentur (dpa) unter Berufung auf eine Aufstellung des Bundesinnenministeriums (BMI), dass die Zahl der im Vorjahr errichteten Sozialwohnungen um 5,5 Prozent verglichen mit 2018 zurückgegangen ist. Wurden seinerzeit noch 27.040 Einheiten mit Mietpreis- und Belegungsbindung neu geschaffen, waren es 2019 nur mehr 25.565. Damit ist auch klar: Das, was da zuletzt so geboomt hat, brachte der wachsenden Zahl derer, die auf Wohnraum zu erschwinglichen Preisen angewiesen sind, rein gar nichts.

Immerhin weiß die Regierung noch, für wen der soziale Wohnungsbau erfunden wurde. „Die Unterstützung von Haushalten, die sich am Markt nicht aus eigener Kraft angemessen mit Wohnraum versorgen können, ist Aufgabe der sozialen Wohnraumförderung.“ Nichts wissen will sie aber offenbar davon, dass die Zahl der Bedürftigen in der sich verschärfenden Mietkrise infolge von Gentrifizierung, Luxussanierungen, Hochpreisimmobilien und Wucherei massiv zugenommen hat. Laut der Bundestagsfraktion Die Linke haben längst nicht nur Sozialleistungsbezieher und Geringverdiener einen Anspruch auf staatlich geförderten Wohnraum. „Rund 40 Prozent der Bevölkerung stünde eine Sozialwohnung zu, in einigen Großstädten sind es sogar bis zu 60 Prozent.“ Gäbe es ein entsprechendes großes Angebot, würde damit der Wohnungsmarkt „insgesamt entspannt“.

Rückzug des Staates

Die drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall zeugen von einer genau gegenteiligen Entwicklung. Das gerade wiedervereinigte Deutschland zählte noch rund drei Millionen echte Sozialwohnungen. Heute sind es noch knapp 1,18 Millionen. Dazwischen liegt eine Reihe verhängnisvoller „Reformen“, angefangen mit der Abschaffung der Wohngemeinnützigkeit im Jahr 1990. Im Nachgang der Affäre um die gewerkschaftseigene „Neue Heimat“ wurden damals auf einen Schlag fast vier Millionen Wohnungen aus dem Non-Profit-Sektor in den freien Markt entlassen. Dazu fielen in den Folgejahren riesige öffentliche Wohnungsbestände einer beispiellosen Privatisierungswelle zum Opfer, wodurch der Staat nachhaltig an Gestaltungsmacht einbüßte.

2001 war es die rot-grüne Regierungskoalition unter Gerhard Schröder (SPD), die dem ursprünglichen Konzept „sozialer Wohnungsbau“ ein Ende machte und durch das der „sozialen Wohnraumförderung“ ersetzte. In der Konsequenz sank der Bestand an Sozialwohnungen bis 2005 auf nur noch knapp über zwei Millionen. Noch folgenschwerer war die 2006 von der großen Koalition (Kabinett Merkel I) ins Werk gesetzte Föderalismusreform. Indem den Ländern die Alleinzuständigkeit für den sozialen Wohnungsbau übertragen wurde – gab der Bund seine Steuerungs- und Gestaltungshoheit auf dem „sozialen Wohnungsmarkt“ praktisch vollends aus der Hand.

Futter fürs Haushaltsloch

Zwar wurden die Länder auch weiterhin mit sogenannten Kompensationsmitteln aus Berlin versorgt. Die Gelder waren mit anfangs 518 Millionen Euro jährlich jedoch nicht nur viel zu knapp bemessen. Überdies unterließ es der Bund, den Landesfinanzministern bei der Verwendung auf die Finger zu gucken und bei Zuwiderhandlung auf die Finger zu klopfen. So kam es, dass die Bundeszuschüsse in vielen Fällen zweckentfremdet in irgendwelchen Haushaltslöchern der unter Konsolidierungsdruck und Schuldenbremse ächzendenen Bundesländer versickerten. Tatsächlich hätte die Bundesregierung missbrauchte Mittel qua Verordnung zurückfordern können. Sie ließ es aber bleiben. Da war es dann auch nur konsequent, dass die Zweckbindung 2014 einfach aufgehoben wurde.

Bei schätzungsweise noch 1,5 Milliarden Euro aus Bund- und Länderkassen, die zwischen 2007 und 2016 jährlich in die soziale Wohnmraumförderung geflossen sind, war der weitere Absturz programmiert. Allein in diesen zehn Jahren brachen die Kapazitäten an Sozialwohnungen um über 800.000 auf etwa 1,27 Millionen ein.
Das Hauptproblem: Alle Jahre wieder fallen Zehntausende Sozialwohnungen aus der Sozialbindung. Dies geschieht etwa dann, wenn der Bauherr seinen geförderten Kredit abgezahlt hat und von da an die Mieten erhöhen darf. In der Regel ist dies nach 15 bis 30 Jahren der Fall. Laut Caren Lay, Vizevorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, sind so 2019 rund 70.000 Wohnungen an den freien Markt „verlorengegangen“. Für das laufende Jahr rechnet sie mit Einbußen in derselben Größenordnung, wodurch erneut mit einem „riesigen Verlust von unterm Strich 40.000 bis 50.000 Sozialwohnungen“ auszugehen sei.

Alle sechs Minuten eine weniger

Das ist sogar eine „optimistische“ Prognose. Nach Angaben des Deutschen Mieterbunds (DMB) „verschwindet“ alle „sechs Minuten“ eine Sozialwohnung, „seit 2017 im Schnitt 80.000 pro Jahr“. Demgegenüber belief sich der „Nachschub“ lange Zeit auf bundesweit deutlich unter 15.000. Das hinterließ Spuren: In Bremen zum Beispiel war 2017 vom Bestand des Jahres 2000 noch ein Viertel übrig. Vielerorts, wie in Berlin, Brandenburg, Bayern, Hamburg und Hessen, hatte sich der geförderte Wohnraum seitdem mal eben halbiert. In Sachsen war seit der Jahrtausendwende bis vor drei Jahren keine einzige Bleibe für sozial schwächere Menschen entstanden. Und selbst da, wo vergleichsweise eifrig gebaut wurde oder wird, weist die Leistungsbilanz wegen der viel größeren Verluste stets ein dickes Minus auf.

Daran hat auch die leichte Intensivierung der Bautätigkeit seit 2015 nichts geändert. Damals wurden mit 14.700 Wohnungen so viele bezuschusst wie seit 2007 nicht mehr. In der Folgezeit bewegten sich die Zahlen der Neuförderungen weiter nach oben auf ein Niveau von rund 27.000. Hintergrund war eine Aufstockung der Bundesfinanzhilfen auf zuerst eine Milliarde Euro jährlich und zuletzt 1,5 Milliarden Euro im Jahr 2019. Allerdings liefen die Ausgleichszahlungen für den 2006 vollzogenen Rückzug des Bundes aus der sozialen Wohnraumförderung Ende des Vorjahres aus. Um die Länder nicht völlig mit der Aufgabe alleine zu lassen, beschloss die Politik prompt eine Grundgesetzänderung, die die Föderalismusreform wieder ein Stück weit außer Kraft setzt. Demnach „wird es dem Bund ermöglicht, den Ländern ab 2020 zweckgebundene Finanzhilfen für den sozialen Wohnungsbau zu gewähren“ und zwar dauerhaft.

„Katastrophale Bilanz“

Einen Haken hat die Sache aber doch. Statt der zuletzt 1,5 Milliarden Euro müssen sich die Bundesländer mit nur noch einer Milliarde Euro pro Jahr begnügen. Damit ist eine weiter rückläufige Fördertätigkeit ausgemacht und drohen im laufenden und kommenden Jahr noch größere Defizite als 2019. Zumal es mit der Zweckbindung in Corona-Zeiten noch schlechter bestellt sein dürfte als früher. Wo und wie viel gebaut wird, werden wohl mehr denn je die politischen Prioritäten der Länderfürsten sowie ihr noch einmal schmaleres Budget bestimmen.

Von entsprechend großen Diskrepanzen zeugt schon das neueste Zahlenwerk des BMI: Die Hauptstadt Berlin schuf 47 Prozent weniger neue Sozialwohnungen, Hessen 44 Prozent, in Sachsen-Anhalt kam keine einzige dazu (minus 100 Prozent). Dagegen legten Thüringen (plus 103 Prozent), Bremen (248 Prozent) und Mecklenburg-Vorpommern (319 Prozent) deutlich zu. Braucht es noch mehr Beweise, dass im sozialen Wohnungsbau eine zentrale Lenkung unter Bundeshoheit unerlässlich ist?

Über eine „katastrophale Jahresbilanz“ klagte Linke-Politikerin Lay am Mittwoch in einer Stellungnahme gegenüber den NachDenkSeiten. „Wer die Mittel um ein Drittel reduziert, hat keinen Grund, mit dem Finger auf die Länder zu zeigen.“ Der Bund trage „die Hauptverantwortung für den Niedergang“. Der wohnungspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Christian Kühn, sprach von einem „Armutszeugnis für Horst Seehofer“. Die Anstrengungen einzelner Bundesländer seien ein Lichtblick. Nötig wären aber mehr Investitionen, eine längere Belegungsbindung und die Wiedereinführung der Wohngemeinnützigkeit.

Zurück zur Gemeinnützigkeit

Seine Partei hatte dazu im Februar einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wohnungsunternehmen müssten demnach staatlich bezuschusst und steuerlich begünstigt werden, sofern sie dauerhaft günstigen Wohnraum schaffen oder vermieten – an Arbeitslose, Studierende, junge Eltern oder Rentner. Den Grünen schwebt dabei ein Modell vor, wie es vor 150 Jahren in Berlin oder Wien begründet wurde. Wie die „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) berichtete, leben in der Hauptstadt Österreichs heute noch 60 Prozent der Mieter in staatlich bezuschussten Behausungen.

„Eine neue Wohngemeinnützigkeit für Durchschnitts- und Geringverdiener“, empfiehlt auch die Linkspartei. „Einmal geförderte Sozialwohnungen müssen künftig immer Sozialwohnungen bleiben.“ Nötig wäre ein „öffentliches Rettungsprogramm für den sozialen Wohnungsbau in Höhe von zehn Milliarden Euro für 250.000 neue Einheiten jährlich, sonst gehören Sozialwohnungen bald der Vergangenheit an“, erklärte Lay. Für Mieter, deren Sozialwohnung aus der Bindung fällt, solle es einen Bestandsschutz geben. Zudem sollten bundeseigene Liegenschaften „vorrangig und deutlich verbilligt“ an soziale und gemeinnützige Träger abgegeben werden. Ferne plädiert ihre Partei für die Auflage eines Rekommunalisierungsfonds für Länder und Kommunen, die Wohnungen zurückkaufen wollen.

Unschulds-Horst

Ob und was die Bundesregierung gegen die Misere unternehmen will, bleibt abzuwarten. Auf eine Anfrage der NachDenkSeiten hat das BMI bis Freitag nicht reagiert. Nur um den Istzustand an Kapazitäten zu halten, müssten laut DMB pro Jahr wenigstens 80.000 Sozialwohnungen neu gebaut werden. Diese Hausnummer hatte 2018 selbst die Bundesregierung – wohl eher versehentlich – aufgerufen. Die vom Mieterbund dafür veranschlagten „mindestens drei Milliarden Euro“ jährlich stehen bei Horst Seehofer allerdings nicht auf dem Zettel. Der Heimatminister ganz ohne Spaß: „Da sind jetzt auch mal die Länder am Zug.“

Titelbild: photocosmos1 / shutterstock.com


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