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Titel: Illusorische Reformitis – dieses Urteil gilt auch für die sympathische Bürgerversicherung

Datum: 6. Juli 2005 um 13:59 Uhr
Rubrik: Gesundheitspolitik, Rente, Sozialstaat
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Von Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler in Köln, haben wir gelegentlich Texte übernommen, weil sie gut waren. Heute muss ich auf einen Text hinweisen, den ich nicht schlüssig finde. Er nährt die Illusion, die Bürgerversicherung wäre umsetzbar.
Unter dem Titel “Wie die Saat aufgeht – Grüne und SPD plädieren für eine Bürgerversicherung, entscheidend aber ist, wie solidarisch sie ausgestaltet wird“, erschien sein Beitrag in der Frankfurter Rundschau vom 4. Juli.
Die Bürgerversicherung wird auch von der SPD und dort vor allem von dem verbliebenen, sich links nennenden Teil, propagiert. Eine solche Reform wäre mit Sicherheit sozialer als die Kopfpauschale der CDU, für die auch der Wirtschaftsweise Peter Bofinger eintritt. Dennoch möchte ich in Stichworten einige kritische Anmerkungen dazu machen.

Erstens: es ist eine Illusion zu glauben, ein solches Projekt wäre gegen die Mehrheit der Union im Bundesrat, mit der wir vermutlich längere Jahre zu rechnen haben, durchsetzbar. Sie wird nicht einmal von einer rot-gelben Konstellation wie zum Beispiel von Rheinland-Pfalz akzeptiert werden.

Zweitens: es gibt rechtliche und praktische Einwände. So sollen in der Bürgerversicherung sowohl die normalen Einkommen aus Löhnen und Gewinnen als auch Zinsen, Dividenden, Tantiemen, Miet- und Pachterlöse erfasst werden. Heute ist es nicht einmal möglich, sicherzustellen, dass alle Zinseinkommen in der Einkommensteuer erfasst werden. Die Dunkelziffer liegt weit über der Hälfte. Und jetzt will man es schaffen, die Zinseinkünfte auch noch bei der Krankenversicherung – bei Butterwegge auch noch in der Pflege- und Rentenversicherung – einzubeziehen? Damit verschärft man die Gültigkeit der Feststellung: „Der Ehrliche ist der Dumme”.
Es wird vermutlich auch nicht möglich sein, die Bediensteten des öffentlichen Dienstes aus der Beihilferegelung herauszulösen. Jedenfalls wird dies ein unheimlich langwieriges Gewürge werden.

Drittens: die Bürgerversicherung ist auf keinen Fall leichter umzusetzen und leichter zu gestalten als der Alternativvorschlag „Wertschöpfungsabgabe“. Butterwegge weist mit Recht daraufhin, dass dieser Vorschlag in früheren Programmen der SPD enthalten war und später verschwunden ist. Mit der Wertschöpfungsabgabe würde man statt der Lohnsumme eines Unternehmens die gesamte Wertschöpfung erfassen und darauf zum Beispiel die Leistungen für die Krankenkasse oder auch für die Rentenversicherung festmachen. Das würde tendenziell die arbeitsintensiven Betriebe mit hohem Lohnanteil entlassen und die kapitalintensiven Betriebe leicht mehr belasten. Ein einfache und sinnvolle Regelung. Warum kommt man darauf nicht zurück, wenn man schon unbedingt reformieren will? Die Reformer, so mein Eindruck, denken gar nicht mehr rational. Sie wollen im öffentlichen Gespräch bleiben und schlagen deshalb immer neues vor, auch wenn es schlechter ist als das schon Andiskutierte.

Beim Thema Bürgerversicherung haben wir es mit dem gleichen Phänomen zu tun, mit dem wir uns in der öffentlichen Debatte insgesamt herum zu schlagen haben: die Meinungsführer und offenbar auch die Wissenschaft genauso wie die Politik haben verinnerlicht, wir litten vor allem unter Reformstau und einem Mangel an Strukturreformen. Einmal auf die Basis dieses Irrglaubens gestellt, marschieren die Reformer los, ohne Blick nach rechts und links. Offenbar muss sich auch ein Wissenschaftler wie Prof. Butterwegge dieser Tendenz beugen.

Nachtrag zum Thema Kopfpauschale: den Krankenkassenbeitrag an Personen festzumachen, wäre vom Prinzip her durchaus rational. Da aber die heutige Krankenversicherungsregelung eine Menge von sozialen und familienpolitischen Ausgleichs-Elementen enthält, würde die nackte Kopfpauschale eine Menge neuer Ungerechtigkeiten und sozialen Schieflagen mit sich bringen. Die Vorstellungen der Union und auch die Vorstellungen von Bofinger, man könne dann mit Ausgleichszahlungen ein Stück der verlorenen sozialen Gerechtigkeit wiederherstellen, ist angesichts leerer Kassen und angesichts der Schwierigkeiten der Gestaltung solcher Ausgleichszahlungen, mindestens ebenso illusionär wie die Bürgerversicherung.

Das Fazit kann in einer solchen Situation nur heißen: macht kleinere Reformen an dem bestehenden System und lasst ansonsten dieses Land endlich mal zur Ruhe kommen.


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