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Titel: Made by Andi!? Wie der deutsche Verkehrsminister den Schlafwagen und die Transeuropaeisenbahn neu erfindet.

Datum: 1. Oktober 2020 um 9:02 Uhr
Rubrik: Interviews, PR, Verkehrspolitik
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Verrückte Zeiten: Praktisch aus dem Nichts hat Andreas Scheuer die Vorzüge eines integrierten europäischen Schienenverkehrs für sich entdeckt – mit „schnellen durchgehenden Verbindungen“, Taktfahrplan und Nachtzügen. Entsprechende Planspiele präsentierte der Bundesverkehrsminister in der Vorwoche seinen EU-Amtskollegen. Für Joachim Holstein wirkt das Konzept so, als wäre es von Fahrgastverbänden abgekupfert. Dem Sinneswandel des CSU-„Automanns“ begegnet der Bahnaktivist in einer Mischung aus Zuversicht und Skepsis. Auch Quatschprojekte wie Stuttgart 21 und Fehmarnbelt-Querung stünden weiter auf der Regierungsagenda, bemerkt er im Interview mit den NachDenkSeiten. Mit ihm sprach Ralf Wurzbacher.

Zur Person

Joachim Holstein

Joachim Holstein, Jahrgang 1960, war Nachtzugbegleiter bei der Deutschen Bahn, bis der Staatskonzern Ende 2016 die Zuggattung „City Night Line“ aus dem Verkehr zog, um fortan nur noch ausgedünnten Nachtverkehr in Sitzwagen anzubieten. Holstein engagiert sich in verschiedenen Bahn- und Fahrgastinitiativen, unter anderem bei „Pro Bahn“, „Bürgerbahn statt Börsenbahn“ sowie dem europäischen Netzwerk „Back on Track“, das sich speziell für den Auf- und Ausbau eines grenzüberschreitenden Nachtzugverkehrs einsetzt.

Interview

Herr Holstein, am Montag der Vorwoche ist Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) in eine für ihn untypische Rolle geschlüpft: als Vordenker einer transeuropäischen Eisenbahn. Entsprechende Planspiele präsentierte er bei einem „Schienengipfel“ unter Beteiligung seiner EU-Amtskollegen sowie Vertretern der EU-Kommission und diverser Bahngesellschaften. Kern der Pläne ist die Wiederbelebung des vor über 30 Jahren eingestellten Trans-Europ-Expresses (TEE), der von 1957 bis 1987 zwischen den Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) sowie Österreich und der Schweiz verkehrt hatte. Nach diesem Muster sollten künftig zahlreiche Metropolen über „schnelle durchgehende Verbindungen“ mittels Hochgeschwindigkeits- und Nachtzügen angefahren werden. Haben auch Sie bei all dem nicht schlecht gestaunt?

Oh ja, denn dass Herr Scheuer plötzlich vom Bremser zum Vorreiter wird, ist mehr als seltsam. Bisher haben die Bundesregierung und die Deutsche Bahn auf jede Initiative zur Verbesserung des europäischen Schienenverkehrs mit Ablehnung geantwortet. Zuletzt noch vor wenigen Wochen, als die schwedische und die dänische Regierung ihr Konzept für Nachtzüge von Stockholm nach Hamburg-Altona und von Malmö nach Brüssel vorgestellt haben, verbunden mit einer Anschubfinanzierung. Da hat Berlin sofort klargemacht, dass es in Deutschland keine Starthilfen geben wird. Man spendiert Milliarden für Lufthansa und Autoindustrie, aber keinen Cent für europäische Züge.

Menschen sind wandlungsfähig.

Schon klar! Jedenfalls kommt da plötzlich nach drei Monaten Ratspräsidentschaft ein Konzept, das sich streckenweise wie aus der Feder von „Bahn für alle“, „Back on Track“ und so weiter liest. Kooperation statt Konkurrenz der Staatsbahnen, einen europäischen Fahrzeugpool und eine kundenfreundliche Buchungsplattform für Bahnreisen haben wir von Narvik bis Lissabon und von Glasgow bis Athen seit Jahren gefordert! Schaut man sich die als „EuroNight“ bezeichneten Nachtzugverbindungen im Scheuer-Papier an und legt man das von „Bahn für alle“ und von „Bürgerbahn statt Börsenbahn“ 2016 vorgestellte „Lunaliner“-Nachtzugnetz daneben, sind die Ähnlichkeiten verblüffend.

Gleichwohl heißt es im Pressematerial seines Ministeriums, das Konzept gehe auf Scheuers „Initiative“ zurück …

Da siegte wohl Eitelkeit über Ehrlichkeit. Gewöhnlich gut unterrichtete Quellen aus dem Ministerium beziehungsweise dem DB-Konzern – wir nennen die immer „Max Maulwurf“ – berichten, dass der im Vorjahr zum Chef der französischen Staatsbahn SNCF ernannte Jean-Pierre Farandou in seiner Zeit, als er dort für das Auslandsgeschäft zuständig war, den Anstoß gegeben hat. Farandou ist Bahner von der Pike auf, also etwas, was man im Berliner Bahntower gar nicht mehr kennt. Und eigentlich hätte den Medien bei der Präsentation schon auffallen können, dass die Folien der Beratungsagentur vom Januar 2020 stammen, es sich also nicht um einen flockigen Schnellschuss als Reaktion auf Corona-Maßnahmen handelt, sondern schon mehr dahintersteckt.

Aber sollten es sich der oder die wahren Urheber einfach so gefallen lassen, wenn sich ausgerechnet der „Automann“ Scheuer mit ihren Federn schmückt?

Bei den Livestreams von Scheuers Pressebriefing vorher und der Pressekonferenz nachher hätte eigentlich alle zwei Minuten jemand aus der Kulisse springen und fragen müssen: „Wer hat’s erfunden?“ Man stelle sich das vor: Scheuer hat nicht nur das TEE-Konzept als deutsche Idee hingestellt, sondern auch Deutschland als bestes Bahnland und quasi als Erfinder des Taktfahrplans bezeichnet. Also wenn ich da Schweizer, Niederländer oder Österreicher wäre …

Im Papier liest sich das schon etwas anders. Da wird immerhin eingeräumt, dass andere Länder die jetzt projektierten Planungsmethoden bereits anwenden und schon ein hochfrequentes Netz an Fernzügen haben. Wir haben das ja nur auf einigen Rennstrecken, aber seit der Abschaffung der Interregios nicht mehr in der Fläche.

Ich weiß nicht, wie es bei der Konferenz selber zugegangen ist, die wurde ja nicht übertragen. Aber ich gehe davon aus, dass im Vorwege schon alles so weit geklärt wurde, dass alle EU-Verkehrsminister das Konzept mittragen konnten. Viele von denen haben sich doch jahrelang über Deutschland als Bremser geärgert, egal ob Italien, Dänemark, Niederlande oder Österreich. Wenn jetzt Scheuer bei seinem Heimspiel den Helden spielt, sagen die sich vielleicht: „Na ja, wenn’s hilft.“

Und hat es denn geholfen? Abseits der Frage nach dem Copyright: Wie hat Ihnen Scheuers Vortrag inhaltlich gefallen?

Überwiegend gut – denn das meiste entspricht ja Forderungen von Bahn-Initiativen. Dass umsteigefreie Verbindungen besser sind als mehrfaches Umsteigen mit knappen Anschlüssen, ist anerkannte Tatsache. Ebenso, dass unsinnige Hürden durch unterschiedliche Standards in verschiedenen Ländern abgebaut werden müssen – im Auto muss ich ja auch nicht an der Grenze neue Reifen aufziehen und ein anderes Warndreieck kaufen. Und dass Nachtzüge 2.000 Kilometer weit fahren und damit nicht nur Kurz-, sondern auch Mittelstreckenflüge ersetzen können, predigen wir seit Jahren.

Also gibt es nichts zu meckern?

Naja, bei vielem muss ich sagen: Das hättet ihr alles schon vor Jahren machen können. – Das gab es schon mal, und gerade die Bundesregierung und die DB haben es kaputtgemacht. – Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer und ein einziger TEE pro Tag auf der Langstrecke macht noch keinen Taktverkehr. Dazu bräuchte es mindestens alle zwei Stunden weitere TEEs, auch abschnittsweise.

Ohne zu sehr ins Detail zu gehen: Es trifft zu, dass ein Großteil „praktisch sofort“ umsetzbar ist, also mit dem nächsten noch nicht durchgeplanten Fahrplanwechsel. Ich habe nur einen gravierenden Fehler entdeckt: Den Nachtzug von Amsterdam nach Venedig und Genua will man zwischen Köln und Frankfurt auf die Schnellfahrstrecke schicken, das ist technisch unmöglich. Diese Achterbahnstrecke schaffen nur die speziellen ICE3, bei denen jede zweite Achse angetrieben ist.

Gibt es noch andere Pferdefüße?

Scheuer winkt sehr deutlich mit dem Zaunpfahl, dass man das TEE-Konzept in seiner zweiten Stufe nur bekomme, wenn Großprojekte wie Stuttgart 21, der Fehmarnbelt-Tunnel und eine Tempo-300-Strecke zwischen Hannover und Bielefeld gebaut würden, und zwar ohne Klagen der Bürger. Wie schon bei der Diskussion um den „Deutschland-Takt“ drängt sich hier der Verdacht auf, dass ein von Menschen als positiv empfundenes Konzept als Hebel missbraucht werden soll, um unnütze bis schädliche Bauprojekte durchzusetzen – und die lästigen Bürgerproteste will man gleich mit erledigen. So bitte nicht!

Wie denn dann?

In einem NDR-Beitrag wurde jüngst sehr anschaulich gezeigt, dass Bürger nicht Verhinderer, sondern Gestalter sein wollen. Für die Verbindung Hannover-Bielefeld gab es ein zwischen der regionalen Politik und Bürgerinitiativen abgestimmtes Trassenkonzept, das aber von Berlin abgelehnt wurde. Und nehmen Sie Stuttgart 21: Da stellen interessierte Konzerne, Medienhäuser und Politiker ja gerne den symbolhaften Juchtenkäfer in den Vordergrund – weil sie nicht über die Vernichtung von Bahninfrastruktur, die Verschlechterung von Anschlüssen und die brandgefährliche Konstruktion reden wollen.

Da sehe ich also Demagogie auf uns zukommen nach dem Prinzip: „Ja, wenn ihr Europazüge haben wollt, dann müsst ihr …“ Ich würde dann sagen: Ja, dann müssen wir die vielen kleinen Flaschenhälse beseitigen. Dann braucht es hier mal ein paar Weichen, so wie in Frankfurt, dort mal eine bis in den benachbarten Grenzbahnhof durchgezogene zweite Oberleitung, so wie in Strasbourg, damit auch normale ICEs dort hinfahren können, oder Überholgleise – alles sinnvoller, billiger und viel effizienter als die Orgien in Beton und das Abfeiern von neuen Höchstgeschwindigkeiten jenseits von 250 Sachen.

Gerade dieser Tage verhandelt das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig mehrere Klagen von Umweltschützern gegen die geplante Fehmarnbelt-Querung. Das Megaprojekt stellt in den EU-Planspielen für ein „transeuropäisches Fernwegenetz“ (TEN-V) ein „wesentliches Element der zentralen Nord-Süd-Achse zwischen Skandinavien und Mitteleuropa“ dar. Sind die schönen Sprüche vom grenzenlosen Bahnreisen bei Tag und Nacht doch nur der Dosenöffner für Gigantonomie und Geldmacherei?

Da muss man durchaus misstrauisch sein. Wir haben ja an vielen Stellen erlebt, wie mit Zahlen und Prognosen kunstvoll jongliert wurde, um Bauprojekte als sinnvoll erscheinen zu lassen, die bei korrekter Betrachtung nutzlos bis schädlich sind. Das reicht von der 2. Stammstrecke der Münchner S-Bahn über Stuttgart 21 und den Frankfurter Citytunnel bis zur Thüringer-Wald-U-Bahn, also der ICE-Strecke Erfurt-Nürnberg. Dabei hat man fiktiven Güterzugverkehr eingerechnet, um sie als wirtschaftlich erscheinen zu lassen. Und überall wurden bessere Alternativen ignoriert.

Und das wiederholt sich beim Fehmarnbelt?

Es ist ja nicht gerade so, dass dort die Kapazitäten nicht ausgereicht hätten, da fuhr gerade mal alle vier Stunden ein Zug und die Fähren schafften den Pkw- und Lkw-Verkehr locker. Man begründet die Beltquerung mit „zu erwartendem Bedarf“ – aber dieser angebliche Bedarf ist der durch Neubauten induzierte zusätzliche Verkehr. Bei der Beltquerung kommt hinzu, dass die Fährbetreiber nicht kampflos aufgeben und ein gewichtiges Argument auf ihrer Seite haben: Die Lkw-Fahrer können an Bord ihre Ruhepause nehmen. Im Tunnel geht das nicht. Und bei der Bahn können Züge auch jetzt schon von Lappland bis Süditalien durchfahren, sie müssen halt über Fünen und Jütland. Dort ist das größte Nadelöhr übrigens die Rendsburger Hochbrücke mit sechs Kilometern Umweg teilweise im Bummeltempo. Wo bleibt da das Tunnelprojekt mitsamt Ertüchtigung der weiteren Strecken? Weniger Beton, weniger Profit, weniger Interesse als beim Belt?

Immerhin ist das Projekt nur in Teilen auf deutschem Mist gewachsen …

Und dass die skandinavische Seite offenbar wild entschlossen ist, den Tunnel zu bauen, ist natürlich für die deutsche Seite eine bequeme Situation. Dabei würde man sich aber eine Rennstrecke einhandeln, für die es südlich von Puttgarden bisher keine Entsprechung gibt – wie auch? Die eingleisige Fehmarnsundbrücke steht unter Denkmalschutz, für einen Streckenneubau entlang der Autobahn Lübeck-Oldenburg sollen Ostseebäder von der Bahn abgeklemmt werden, im Zulauf auf Hamburg wird die schlechtere von zwei Varianten projektiert.

Und der Hamburger Hauptbahnhof würde noch stärker überlastet als jetzt schon, weil die Verbindungskurve nach Süden nur eingleisig ist und die Strecke von Lübeck nach Lüneburg mit Abzweig Richtung Berlin eingleisig und nicht elektrifiziert ist. Ein Ausbau – der erste seit 1878! – wurde „wegen hoher Investitionskosten“ nicht in den Bundesverkehrswegeplan 2030 aufgenommen. Das neue TEE-Konzept sieht darum auch vor, den TEE Stockholm-Berlin-München und den EuroNight Stockholm-Berlin-Budapest von Lübeck über Bad Kleinen und Schwerin zu führen. Dafür müssen aber noch eine Oberleitung gelegt und eine Verbindungskurve in Bad Kleinen gebaut werden. Es ist das Übliche: Ein Prestigeprojekt hier – viel Stückwerk da. Anstatt eine Infrastruktur als Gesamtplanung anzugehen, wie es die Schweiz vormacht.

Die Schweiz gilt ja als das große Vorbild eines funktionierenden Taktverkehrs. Wie weit ist der versprochene „Deutschland-Takt“, mit dem sich laut Bundesregierung die Fahrgastzahlen bis 2030 verdoppeln sollen, von diesem Ideal weg?

Ungefähr so weit wie das deutsche Telefonnetz von einem flächendeckenden Breitbandausbau, der ja in die Verantwortung desselben Ministeriums fällt. Aber Polemik beiseite und um es kurz zu machen: Für einen flächendeckenden Integralen Taktfahrplan (ITF) braucht es viele Bahnsteigkanten und unabhängige Zulaufgleise und für eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen außerdem noch viele zusätzliche Züge und Personal. Davon ist Deutschland leider weit entfernt.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Bei den S21-kritischen „Ingenieuren 22“ kann man sich in die Thematik gut einlesen. Wenn man sich die „Fahrplanrosette“ anschaut, die Prof. Dr. Wolfgang Hesse – Mitglied bei „Bürgerbahn statt Börsenbahn“ – anhand des BMVI-Zielfahrplans 2030 für Stuttgart erstellt hat, dann sieht man angesichts der ziemlich gleichmäßig über die 60 Minuten verteilten Ankünfte und Abfahrten, dass hier das Gegenteil eines ITF geplant ist. Das kommt dabei heraus, wenn ohne Sinn und Verstand, aber mit politischer Schlagseite und Sympathie für Tunnelbohrmaschinenhersteller und Baufirmen entschieden wird. Die Schweiz hingegen hat andersherum geplant: Da hat man erst den Fahrplan entworfen und dann analysiert, wo welche Baumaßnahmen nötig sind, um die für einen ITF sinnvollen Fahrzeiten zwischen den Knoten zu erreichen.

Es heißt ja, aus Fehlern lernt man. Müsste die Bundesregierung, die ja schon seit sieben Jahren die gleiche ist, deshalb nicht besonders viel Verbesserungspotenzial in Sachen Bahn-Politik haben?

Zu einem Lernprozess gehört ja eigentlich, Fehler zu erkennen und zu benennen. Aber da hapert es gewaltig, von der Bahnprivatisierung über den Börsengang und die unvernünftigen Bauprojekte bis hin zu den Nachtzügen. Die wurden bekanntlich wider besseres Wissen abgeschafft. Der damals für Personenverkehr zuständige Bahnvorstand UIrich Homburg hatte Anfang 2015 gegenüber dem Verkehrsausschuss des Bundestages über die Nachtzüge gesagt: „Stabile Nachfragesituation. Die Züge sind gut gebucht.“ Damit gab er zu, dass die Bahn die Öffentlichkeit – und ihren Eigentümer – mit ihrem jahrelangen Gerede von angeblich sinkender Nachfrage und einer aussterbenden Nische belogen hatte. Dabei lagen Zahlen vor, die das Gegenteil bewiesen, und die von der DB 2015 in Kraft gesetzten Änderungen am Nachtzugkonzept führten 2016 sogar noch zu einem Anstieg der Fahrgastzahlen um über zehn Prozent, in einigen Bereichen von über 50 Prozent. Jeder zusätzliche Wagen, den die DB in die Nachtzüge einbaute, war in Windeseile und dauerhaft ausgebucht!

Trotzdem kam im Dezember 2016 das Aus für die Sparte. Bahn-Vorstand Ronald Pofalla begründete das seinerzeit so: „Nachtzüge sind total unwirtschaftlich.“

Man muss sich das vorstellen: 2014 befragte die Bahn ihre Nachtzugkunden, was sie machen würden, wenn es den Nachtzug nicht gäbe. Drei Viertel sagten, fliegen, mit dem Auto fahren, gar nicht verreisen. Nur ein Viertel wollte oder konnte auf den ICE umsteigen. Bei ihrer damaligen „Zielgruppenanalyse“ diffamierte die Bahn Reisende, die umweltfreundlich reisen wollten oder aus medizinischen Gründen nicht fliegen durften, als „Flugphobiker und Eisenbahnnostalgiker“. Zugleich wurde die zahlungskräftigste und zeitsensibelste Kundschaft – Fernpendler, Businessreisende, Wissenschaftler und Politiker – völlig ausgeblendet. Die sind natürlich nicht auf die nächtlichen ICE umgestiegen, um zum Meeting oder zur Vorlesung zu reisen, sondern die waren glücklich, wenn ihre Strecke zu denen gehörte, auf der die Österreichischen Bundesbahnen, ÖBB, mit dem von der DB gekauften Wagenmaterial weitermachten. Ansonsten waren sie als Kunden weg. Der Eigentümer hätte einem Management, das derart gegen seine Kunden und seinen Auftraggeber operiert, schon viel früher auf die Finger hauen müssen. Die „Süddeutsche Zeitung“ kommentierte das mal mit dem Satz: „So dumm, den Vorstand einfach werkeln zu lassen, wäre kein privater Investor.“

Was lässt Sie hoffen, dass jetzt so etwas wie Sinn und Verstand in die Bahnpolitik einkehrt?

Die Zeiten haben sich geändert. Inzwischen suchen die ÖBB zur Deckung des Bedarfs und für die Erweiterung ihres Netzes händeringend gebrauchte Fahrzeuge, bis ihre Neubauflotte auf die Schiene kommt. Die Schweizer SBB wollen Schlaf- und Liegewagen anmieten, private Betreiber stampfen binnen Wochen einen Nachtzug von Sylt in die Alpen aus dem Boden und in den Medien finden sich seit Greta Thunberg und Fridays for Future erfreulich viele Beiträge zu Nachtzügen, bei denen wirklich recherchiert wurde, anstatt nur das DB-Sprech abzudrucken. Ich bin sicher, dass sich heute kein Herr Pofalla mehr hinstellen könnte, um die Nachtzüge für beendet zu erklären.

Aber wenn sich ausgerechnet ein Herr Scheuer hinstellt und plötzlich das Comeback der Nachtzüge verkündet, bleiben doch bestimmt ein paar Restzweifel?

Warten wir es ab. Im Kollegenkreis ging schon 2016 die sarkastische Bemerkung um, dass nach fünf oder zehn Jahren irgendwelche hochbezahlten externen Berater der DB ein total innovatives Konzept empfehlen würden: Schlafen im Zug! Und siehe da – es hat keine vier Jahre gedauert, bis die Bundesregierung wieder Nachtzüge einführen will. Wobei die Konstruktion natürlich spannend ist, denn es wird ja eine gemeinsame Betreibergesellschaft für diese internationalen Züge vorgeschlagen, die offen für andere Bahngesellschaften sein soll. Das geht schon in die Richtung der „United Railways of Europe“, wie sie Bernhard Knierim und Winfried Wolf in ihrem vor rund einem Jahr erschienenen Buch „Abgefahren“ skizziert haben.

Was wären die Vorteile?

Diese europäischen Züge sollen von der EU gefördert werden, weil an Fahrzeuge mit Zulassung für mehrere Strom- und Signalsysteme höhere Anforderungen gestellt werden als an Rollmaterial, das nur in einem Land fährt. Damit können aber auch höhere Stückzahlen wirtschaftlich produziert werden, weil dann zum Beispiel die dänischen und die spanischen Bahnen denselben EU-Schlafwagentyp ordern können wie die deutschen und die niederländischen Bahnen. Die anderen Länder, die anderen Bahnen, die Forderungen der Umweltbewegung und die hartnäckige Arbeit von großen und kleinen Organisationen – „Back on Track“ war mehrmals in Brüssel, hat etliche Konferenzen mit Bahnvertretern, Politik und Aktivisten auf die Beine gestellt und Aktionen in halb Europa organisiert – haben die bisherigen Bremser sozusagen dermaßen in Zugzwang gebracht, dass sie sich jetzt plötzlich die Förderung von europaweitem Bahnverkehr auf die Fahnen schreiben.

Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass das nicht nur schöne Worte und Skizzen auf Folien bleiben, sondern dass dieses Projekt vorangebracht und ausgebaut wird. Denn wie gesagt: Ein TEE pro Tag und Richtung macht noch keinen Taktverkehr und bis zum flächendeckenden Nachtzugnetz und einem einfachen Buchungssystem ist es noch ein weiter Weg.

Titelbild: Flystock / Shutterstock


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