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Titel: Infektionsschutz-Gesetz: Warum fehlen die Unternehmen? Von Werner Rügemer

Datum: 25. November 2020 um 9:00 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Gesundheitspolitik, Lobbyorganisationen und interessengebundene Wissenschaft
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Auch im Dritten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 19.11.2020 fehlen die Unternehmen. Gehören also die abhängig Beschäftigten, die weiter arbeiten – von den 45 Millionen mindestens 37 Millionen, die weiter direkt an ihren Arbeitsplätzen in den Betrieben arbeiten – also nicht zur schützenswerten Bevölkerung? Herrscht also in den Unternehmen keine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“?

Das SPD-geführte Bundesarbeitsministerium plante mit Beginn der Pandemie Arbeitsschutzregeln für die Betriebe. Doch das Ministerium ließ sich durch die Arbeitgebervertreter in Ausschüssen für Arbeitsschutz blockieren. Erst im Juli erstellte das Arbeitsministerium einen ersten Entwurf für eine Verordnung zum Arbeitsschutz. Die Unternehmerlobby mit BDA und Gesamtmetall forderte dagegen, „bestehende Dokumentationspflichten zu verringern“. Auch das Klischeeargument „zu viel Bürokratie“ wurde ins Feld geführt. So stellte die Süddeutsche Zeitung fest:„Auch sechs Monate nach Ausbruch der Pandemie in Deutschland fehlen Vorschriften zum Infektionsschutz im Job. Arbeitgebervertreter wehren sich gegen verbindliche Regeln.“ Auch der DGB beklagte, mitsitzend in den Ausschüssen, dass die Arbeitgeber „mehr Beinfreiheit“ fordern, ging aber nicht selber in die Offensive.[1] Die Kapitalseite war erfolgreich, der Entwurf blieb Entwurf.

Obwohl in den Unternehmen der Lockdown nicht durchgeführt wurde, wurden – außer in den Hotspots wie der Fleischindustrie – so gut wie keine weiteren Infektionen oder gar Tote gemeldet. Zum Stichtag 14.8.2020 gab das Robert Koch-Institut 5.824 Infektionen am Arbeitsplatz bekannt, dazu zählten überwiegend lediglich die katastrophisch bekannt gewordenen Infektionen in der Fleischindustrie, angefangen mit den 1.553 Infizierten im Tönnies-Schlachtbetrieb Rheda-Wiedenbrück.

SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel

Erst im August 2020 beschloss das Arbeitsministerium eine verwässerte, untergesetzliche „Regel“. Sie ist nicht einmal eine Verordnung, sondern nur eine Regel, die rechtlich einen untergeordneten Status hat. Die Regel heißt „SARS-Cov-2-Arbeitsschutzregel“. Sie wurde – hat es jemand bemerkt? – am 20.8.2020 im Gemeinsamen Ministerialblatt, herausgegeben vom Innenministerium, veröffentlicht.

Es gibt lediglich Soll-Regeln zum Maskentragen und Umorganisieren der Betriebsabläufe – aber es gibt keine Sanktionen. Und es gibt keine Kontrolle. Schon vor Corona war die Aufsicht über den Arbeitsschutz weitgehend ausgedünnt oder zur Komplizenschaft pervertiert worden, auch in den besonderen Risikobereichen wie der Fleischindustrie. Übrigens: Unter der deutschen Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, der jetzigen Präsidentin der Europäischen Kommission, war die Aufsicht über die Berufsgenossenschaften weitgehend stillgestellt worden.

Wenn die Soll-Regeln kontrolliert werden sollten, müssten die Gewerbeaufsicht, die Gesundheitsämter, die wenigen betriebsärztlichen Stationen aufgestockt werden – nichts dergleichen wird gemacht.

Ich habe übrigens sowohl während des ersten Lockdowns wie auch jetzt im November zahlreiche Straßen- und Haus-Baustellen aufgesucht – nirgends Masken (außer wenn ein Chef mal persönlich vorbeikommt, dann hat der pflichtgemäß eine Maske auf), nirgends Kontrollen.

Wir veröffentlichen im Folgenden aus dem jetzt erschienenen Buch von Werner Rügemer „Imperium EU: ArbeitsUnrecht, Krisen, neue Gegenwehr“ einen weiteren Auszug zum Klassencharakter der Corona-Maßnahmen. Das Kapitel wurde gekürzt, Quellenangaben wurden weggelassen.

Die herrschende Virologie : Soziale Erblindung

Die EU und die Mitgliedsstaaten ließen sich wie die Trump-Regierung durch die oberste wissenschaftliche Autorität des Westens in Sachen Gesundheit, die Johns Hopkins University, in Sicherheit wiegen. Die Gesundheits-Institute dieser privaten US-Elite-Universität werden von den Privatstiftungen superreicher Unternehmer wie Michael Bloomberg, William Gates und Stavros Niarchos finanziert. Sie hat mehr Mittel als die Weltgesundheitsorganisation WHO.

Die Universität erstellt den Welt-Index für Gesundheitssicherheit (Global Health Security Index). Die aktuelle Ausgabe bewertet die Gesundheitssysteme der 193 UNO-Staaten. Die Gesundheitssysteme der USA und Großbritanniens stehen auf Platz 1 und 2: Sie gelten gegen Pandemien als „am besten vorbereitet“! Und die Gesundheitssysteme der EU-Staaten wie Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland gelten in den vorderen Rängen als „gut vorbereitet“!

Auch deshalb wiegten sich nicht nur die US-Regierung unter Präsident Trump, sondern auch die EU und die Regierungen der EU-Staaten in Sicherheit. Die Regierungsberater und Gesundheitsminister Jens Spahn behaupteten noch Ende Februar 2020: Keine Gefahr! Sie ergriffen die Gegenmaßnahmen erstens unvorbereitet, zweitens zu spät, drittens aus der Sicht der herrschenden Klasse.

Kollektive Selbsterblindung der Virologen und Epidemiker

Virologen und Epidemiker der Johns Hopkins University, des Robert Koch-Instituts und der Charité sind vermutlich subjektiv nicht korrupt. Sie sind aufgestiegen im privatisierten Gesundheits- und Forschungssystem, haben staatsnahe, systemrelevante Funktionen. Sie werden gelobt, gut bezahlt, bespendet. Man bestätigt sich, wie bei den mainstream-Ökonomen, jahrzehntelang gegenseitig. So entsteht die kollektive Selbsterblindung der herrschenden Elite, ihrer MittäterInnen und ihres Hilfspersonals, auch im Wissenschaftsbetrieb.

Sozial- und umweltblinde Pandemien-Wissenschaft

Die Menschen werden von den herrschenden Virologen nur als biologische Wesen betrachtet, die Virus-Infektion als nur biologisches Geschehen. Deshalb haben die Pandemie-Maßnahmen allgemeinen Charakter, treffen (scheinbar) alle Bürger gleichmäßig – also möglichst alle, statt die besonders Gefährdeten besonders zu schützen, vorrangig zu testen und zu behandeln, wie es etwa in Südkorea und China gemacht wird.

Deshalb forderte Ende März 2020 das Robert Koch-Institut dazu auf, dass bei „Corona-Toten“ nicht die Rechtsmedizin eingeschaltet wird. Das ist gegen geltendes Recht: Bei Todesfällen, ungewöhnlichen sowieso, muss ein amtlicher Totenschein ausgestellt werden: Was ist die wichtigste Todesursache? Also: Welche Rolle spielte das Virus? Todesursache oder nur zufälliger Beifang oder etwas dazwischen?

Die Regierungs- und Kapital-Virologen gestehen bestenfalls auf der biologischen Ebene ein: Ja, die Alten, die über 80Jährigen mit ihren zwei oder drei Vorerkrankungen, sind eine Hoch-Risikogruppe. Aber gerade in den Altersheimen wurde nicht getestet. Und die Wirklichkeit sieht noch ganz anders aus.

Höchste Risikogruppen: Die Mehrfach-Unterklassen

Das Alter ist nur ein Risikofaktor. Und noch die ungefragte Frage: Woher kommen altersübliche Vorerkrankungen, wie werden sie an einem Ort, in einem sozialen Milieu verstärkt, an einem anderen nicht? Sind Fettleibigkeit, Diabetes und Herzkrankheiten bei arm und reich gleich verteilt? Nein – aber auch dem gingen die Robert Koch- und Charité-Virologen nicht nach. Bei Medizinsoziologen keimte am Rande des Wissenschaftsbetriebs eine Einsicht – die gelangte aber nicht in Regierungsnähe.

Viele Corona-Tote sind jung. Das zeigte sich auch in den USA: Afroamerikaner sind schon früh viel öfter chronisch krank, sind viel öfter arbeitslos, leben kürzer, wohnen enger, werden seltener medizinisch behandelt, werden in niedrigen Diensten unterbezahlt und verachtet. Sie sind körperlich und seelisch angeschlagen – sie starben bei Corona im ersten US-hot spot, in New York, sechsmal häufiger – aber wurden noch weniger getestet als Weiße.

Working poor = working sick

Die ausgebeuteten Afroamerikaner, „illegale“ Latinos, Migranten aus Nepal und Bosnien in den großen Fleischfabriken von Smithfield Foods, Tyson Foods & Co waren überproportional häufig infiziert und starben besonders häufig. Im ersten Anlauf erwiesen sich 16 Prozent der 3.700 Beschäftigten im 3-Schicht-Fleischbetrieb von Smithfield in South Dakota als infiziert. Working poor ist verbunden mit working sick: Extrem ausgebeutet, extrem krank.

Ähnlich ist es in den mit armen Afroamerikanern, Latinos und armen Weißen übervölkerten Massengefängnissen. Aber die höchste Infektions- und Sterberate traf die Gemeinschaften der indianischen Ureinwohner. Auch darunter viele Junge. „Jahrzehnte der Verachtung, Diskriminierung, Ausgrenzung“ bestimmten hier den körperlichen und seelischen Gesundheitszustand, verbunden mit Arbeitslosigkeit und besonders schlechtem Gesundheitssystem, so die New York Times in einer ausführlichen Reportage.

Verleugnete Infektionsumstände

Wenn die Bekämpfung der Pandemie wissenschaftlich angelegt worden wäre, hätte man so vorgehen müssen: Sofort mit Beginn die gesundheitlich angeschlagenen Risikogruppen identifizieren – nach Arbeits-, Lebens-, Wohn-, Umwelt-, Alters- und Gesundheitsverhältnissen; diese Gruppen möglichst vollständig testen; die Rechtsmedizin auf breiter Ebene einsetzen; danach die Maßnahmen mit Behandeln, Schutzmaßnahmen, Quarantäne ausrichten. Dieses Vorgehen wäre umso mehr nötig, wenn das Gesundheitssystem schlecht vorbereitet ist und die Mittel knapp sind.

Aber gerade das wurde nicht getan. In den Altenheimen, Fleischfabriken, sozialen Brennpunkten usw. wurde weder in den USA noch in der EU getestet – oder eben erst dann, als von dort katastrophisch die Infektionen sich auch in der Umgebung ausbreiteten wie in der Fleischindustrie und beim Iduna-Zentrum in Göttingen, einem heruntergekommenen Plattenbau, in dem von Amtswegen 700 Migranten, Arbeitslose, Obdachlose, Drogensüchtige auf engstem Raum zusammengepfercht werden.

Fleischarbeiter als Risikogruppe

So kamen unterdrückte Risikogruppen auch in Deutschland wie in den USA nur katastrophisch, „überraschend“ und spät zutage: So auch die vielfach infizierten migrantischen Arbeiter der Fleischindustrie.

Innerhalb weniger Tage wurden hohe Infektionsraten bekannt: Beim Westfleisch-Konzern in NRW, bei Müller Fleisch in Baden-Württemberg, bei Vion in Schleswig-Holstein usw. Und dann, besonders lange verzögert, beim Marktführer Tönnies im größten Schweineschlachthaus Europas, in Rheda-Wiedenbrück, am 24. Juni mehr als 1.500 Infizierte.

Erst dann ließen die Behörden die Arbeiter testen. Vorher hatten Bundes- und Landesregierungen die Fleischproduktion – wie Präsident Trump in den USA – für „systemrelevant“ erklärt: Die Wanderarbeiter wurden unkontrolliert und ungeschützt zu noch mehr Sonderschichten getrieben. Clemens Tönnies, Eigentümer der Tönnies Holding, konnte in der Unternehmerpostille Handelsblatt stolz verkünden: „Meine Mitarbeiter“ schieben jetzt zusätzlich 16-Stunden-Schichten am Wochenende.

Keine Corona-Regeln für die Unternehmen

Die Polizei, die in der städtischen Öffentlichkeit Deutschlands mit hoher Präzision das Abstandsgebot in Parks, Straßen, Spielplätzen und Geschäften kontrolliert und Bußgelder verhängt – sie kam in keinen Schlachtbetrieb. Ebenso der Zoll, die Gewerbeaufsicht (zuständig für die Arbeitssicherheit), die Gesundheitsämter – keiner kam. Keine aus dem Dutzend für Arbeitsrechte zuständigen EU-Agenturen kam: Sie kümmerten sich vielmehr darum, dass auch unter Corona-Bedingungen die Arbeitsmigration weiterging: Nicht nur in der Fleischindustrie, sondern auch beim Bau, im Speditionsgewerbe, in der privaten Altenpflege, in der Saisonarbeit der Landwirtschaft. Gewerkschaften mussten z.B. gegen die Gesundheitsgefährdung in den US- und auch europäischen Fullfillment Centers von Amazon streiken, um ein Minimum an Gesundheitsschutz zu bekommen – keine nationale oder EU-Arbeitsschutz-Agentur schritt ein.

Werner Rügemer: Imperium EU – ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr. Papyrossa Verlag Köln 2020, 320 Seiten, 19,90 Euro

Titelbild: Billion Photos / Shutterstock


[«1] DGB: Arbeitgeber verzögern Corona-Schutzregeln, Pressemitteilung 27.7.2020


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