NachDenkSeiten – Die kritische Website

Titel: Neues von Abed Shokry aus Gaza

Datum: 17. Mai 2021 um 14:47 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Militäreinsätze/Kriege, Wertedebatte
Verantwortlich:

Am Wochenende veröffentlichten wir einen Brief von Dr. Abed Shokry, der in Gaza lebt und unseren Lesern einen erschreckenden Einblick in die Situation vor Ort gab. Dazu erhielten wir auch vereinzelte kritische Leserzuschriften. Wir seien zu einseitig und sollten doch auch die israelische Perspektive wiedergeben. Dazu sehen wir jedoch angesichts der überwältigen Dominanz, mit der die israelische Perspektive in nahezu allen größeren Medien und auch von der deutschen Politik tagein, tagaus wiedergekäut wird, keinen Grund. Um sich ein Bild zu machen, sollte man vielmehr beide Seiten zu Wort kommen lassen und wir freuen uns, dass wir Ihnen heute einen weiteren Brief von Dr. Shokry präsentieren können, der Sie hoffentlich als Ergänzung zu den Informationen und Sichtweisen, die Sie aus anderen Medien finden können, in die Lage versetzt, sich ein eigenes Bild machen zu können.

Sehr geehrte Damen und Herren, Liebe Freundinnen und Liebe Freunde,

Gaza am 16 Mai 2021

In mir wächst die Wut, die Unruhe, die Trauer und die Ohnmacht bzw. die Hilflosigkeit. Natürlich muss jeder Mensch/Staat das Recht haben, auf Selbstbestimmung und Selbstverteidigung und das gilt für ALLE Menschen weltweit, unabhängig von Hautfarbe, Religion, ethnischem Hintergrund. Wenn es aber um uns Palästinenser geht, dann gesteht uns die Weltgemeinschaft dieses Recht leider NICHT ZU. Diese Frage möchte ich dem Bundesaußenminister stellen, warum? Sind wir keine ebenbürtigen Menschen!!! Verdienen wir nicht auch, mit Respekt und Würde behandelt zu werden?

Die zweite Frage: Wie rechtfertigt der Staat Israel mit amerikanischer und deutscher Unterstützung, Zivilisten kaltblütig zu ermorden, indem man ihre Häuser mit F 35 Flugzeugen nachts bombardiert, während sie geschlafen haben und ohne sie vorzuwarnen. Stell(t)en diese Familien eine Gefahr für die Sicherheit des Staates Israels dar? Oder waren sie im Schlaf an aktiven Handlungen gegen Israel beteiligt? Oder wurden Raketen von diesen Häusern abgefeuert? Oder gehen die Tunnel der Widerstandsbewegungen durch die fünfte Etage oder 14. Etage?

Das Dilemma ist, dass die Weltgemeinschaft diesen israelischen Lügen Glauben schenkt. Was ist mit den Zerstörungen des Arbeitsministeriums und des Ministeriums für soziale Entwicklung (Sozialamt)? Was ist mit den Zerstörungen von Straßen, Schulen, Moscheen, Postämtern, Banken?

Bringen diese Zerstörungen ihnen und uns Frieden??? Gestern waren 200 Flugzeuge im Einsatz, nach israelischen Angaben….

Mein Sohn (11 Jahre alt) fragte mich, warum können wir nichts gegen diese Zerstörungsflugzeuge unternehmen??? Ich habe ihm gesagt, wir haben NICHTS….

Angesichts all der Lügen und Ungerechtigkeiten fühle ich mich total niedergeschlagen.

Die Medienmacher stellen Fakten und Tatsachen umgedreht dar. Sie verwechseln Täter und Opfer, Besatzer und Besetzte. Diese einseitige Parteinahme schockiert mich und macht mich einfach nur traurig. Wie ich gelesen habe, stellt sich sogar die Kanzlerkandidatin der Grünen absolut einseitig auf die Seite von Israel. Ich hatte von einer dynamischen jungen Politikerin mehr Wissen in Bezug auf die Situation und auf die Geschichte erwartet, mehr Sinn für Gerechtigkeit, mehr Mut, eine Position zu beziehen, die sich vom allgemeinen Mainstream in Deutschland unterscheidet, die einfach auf mehr Fairness beruht. Aber auch sie nutzt den von der Kanzlerin Angela Merkel geprägten Begriff der „Staatsräson“ für Israel. Damit hat sich Deutschland im Grunde als Vermittler selbst ausgeschlossen. Zeigt man seine absolute Einseitigkeit, KANN man kein fairer Vermittler sein.

Ich verstehe, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte mit großer Schuld fertig werden muss. ABER wenn Israel das Völkerrecht (z.B. Siedlungen), die Menschenrechte (z.B. Ungleichbehandlung, Besatzung) gesetzlich verankert, ständig mit Füßen betritt, dann kann doch Deutschland trotz aller Schuld nicht schweigen. Es kann doch nicht einfach zusehen, wenn Israel mit der eigenen schrecklichen historischen Erfahrung seine Wut darüber an UNS skrupellos auslässt. WIR haben die jüdischen Einwanderer nicht vertrieben. Wir Palästinenser wurden vertrieben mit Unterstützung, mindestens mit schweigendem Zusehen der am Krieg beteiligten Mächte. Palästinensische Dörfer wurden niedergebrannt, Menschen mussten fliehen. Ich habe Ihnen schon einmal geschrieben, dass meine Familie von nördlich der „Grenze“ nach Gaza vertrieben wurde. Man kann die Geschichte nicht rückgängig machen. Das meine ich nicht, aber man kann, ja, man muss wenigstens in der Gegenwart fair bleiben.

Ja, ich und alle Palästinenser, wir hätten gern gewählt. Die Wahl wurde abgesagt. Darüber sind die beiden bzw. alle Seiten wahrscheinlich froh. Was wäre denn, wenn die Fatah gewonnen oder verloren hätte? Ich meine, MUSS man nicht auch mit dem „Feind“ verhandeln? Will man eine kriegerische Auseinandersetzung beenden, muss man verhandeln. Die an den Kämpfen Beteiligten, die Feinde müssen miteinander verhandeln. Aber es kann auch gut sein, dass gar kein Frieden gewollt ist, dass man gar keine dauerhafte Lösung will. Ein Waffenstillstand ist der erste Schritt, aber wenn es keine dauerhafte Lösung gibt, wird es immer wieder zum Krieg kommen.

In der israelischen Tageszeitung Haaretz von heute steht, dass niemand in Israel dem Krieg widerspricht. Es lohnt sich übrigens, ab und zu Haaretz im Netz zu lesen. Dort kann man die Stimmen von Israelis lesen, die es zum Glück auch gibt. Menschen die ebenso wie wir Frieden wollen. Immer wieder denke ich, warum hassen die meisten Israelis uns und nicht die Deutschen, die ihnen vor ca. 80 Jahren Leid angetan haben?

Das alles macht mich traurig, gerade weil ich mich Deutschland so verbunden fühle.

Wir werden so dargestellt als wären wir die Schuldigen. Wir, die eingesperrten Einwohner in Gaza. Wir, die wir fast 70% Arbeitslosigkeit haben, in jedem Lebensbereich (Wasser, Strom usw.) auf das „Wohlwollen“ der Besatzer angewiesen sind. Das ist es, was mich sehr bedrückt, und mich ohnmächtig macht.

Meine Mail ist etwas lang geworden. Ich habe einfach aufgeschrieben, was mir durch den Kopf geht. Ich hoffe so sehr, dass meine Familie, dass wir alle in Gaza die unfassbare Übermacht des israelischen Militärs überleben. Ich wünsche allen Menschen, auch den friedlichen Menschen in Israel, dass wir alle im Anderen, in unserem Gegenüber den Menschen erkennen, der nichts Anderes will als in Frieden mit seiner Familie ein normales Leben zu leben.

Mit der Hoffnung, dass dieser Alptraum möglichst sehr bald endet, verbleibe ich

Mit traurigen und hilflosen Grüßen
Abed
Ass. Prof. Abed Schokry, Gaza Stadt, Gaza Streifen, Palästina

Titelbild: Zurijeta/shutterstock.com


Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/

Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=72495