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Titel: Staatsschulden als permanente Einnahmequelle

Datum: 8. November 2010 um 9:58 Uhr
Rubrik: Finanzen und Währung, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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„Seit Jahren hat in Deutschland die Kreditfinanzierung öffentlicher Ausgaben eine miserable Presse. Die Kampagne hat zumindest in formaler Hinsicht Früchte getragen: Das Grundgesetz enthält seit 2009 (anscheinend) strikte Vorschriften, um Budgetdefiziten einen Riegel vorzuschieben. Jedoch empfiehlt sich ein weniger verkrampfter Umgang mit Staatsschulden, denn sie erfüllen nicht nur eine wichtige Funktion im Wirtschaftskreislauf, sondern sie erhöhen bei vernünftigem Gebrauch auch die Wohlfahrt der Bevölkerung.“
Zu diesem interessanten Text von Prof. Dr. Fritz Helmedag, Lehrstuhlinhaber an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Technischen Universität Chemnitz, schickte uns NachDenkSeiten-Leser G.K. die folgenden Anmerkungen.

Prof. Dr. Fritz Helmedag schreibt weiterhin:

„Es erhebt sich überdies die Frage, ob dem Staat in Depressionsphasen nicht direkt der Zugang zu Notenbankkrediten offen stehen sollte. Aktuell wird im Euroraum – anders als etwa in den USA – eine besonders irrationale Form der Liquiditätsversorgung praktiziert. Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise erhalten die Geschäftsbanken im Rahmen eines Mengentenders mit Vollzuteilung jedes gewünschte Volumen an Zentralbankgeld für 1% Zins. Unterdessen ist es sogar erlaubt, Staatspapiere mit gesenkter Bonitätseinstufung als Sicherheit zu bieten. Damit kauft die Zentralbank auf dem Sekundärmarkt Titel, die sie aber nicht unmittelbar vom Emittenten erwirbt. Dies ist ein Bankenbereicherungsprogramm allererster Güte: Die Kreditinstitute decken sich mit höherverzinslichen Staatsanleihen ein, die sie zur preisgünstigen Refinanzierung an die Notenbank weiterreichen; ein Geschäft ohne Risiko. Vor diesem Hintergrund sollte es der Europäischen Zentralbank erlaubt sein, den Ländern etwa in Proportion zur Unterbeschäftigung unmittelbar zinsgünstige Darlehen zu gewähren. In der Literatur wird sogar an negative Zinsen gedacht.“

Quelle: TU Chemnitz [PDF – 174 KB]

Der Beitrag Fritz Helmedags zeigt an Hand konkreter Zahlen anschaulich die volkswirtschaftlichen Auswirkungen, die aus den Finanzierungssalden (Finanzüberschuss oder -defizit) der Privathaushalte, der Unternehmen, des Staates und des Auslands (Leistungsbilanzsaldo) resultieren. Fritz Helmedag: “Offenbar spiegelt ein Finanzierungsplus bei den Privaten ein Defizit des Staates oder des Auslands wider. Die verstärkte Geldvermögensakkumulation der Haushalte (die definitorisch mit der Ersparnis übereinstimmt) und der Unternehmen korrespondiert mit der Steuer(senkungs)politik nach der Jahrtausendwende. Überdies zeigt die Kreislaufanalyse, dass Fehlbeträge im Budget den Profiten zugute kommen. Der öffentliche Kredit bzw. die Nettoexporte haben in den letzten Jahren sogar zunehmend die expansive Aufgabe der Unternehmen übernommen. Seit geraumer Zeit verzeichnet dieser Sektor positive Finanzierungssalden, weil die nicht ausgeschütteten Gewinne regelmäßig die Investitionen übertreffen. Eine dem Gemeinwohl verpflichtete Wirtschaftspolitik würde für umgekehrte Verhältnisse sorgen, d.h. Steuersätze erhöhen und Abschreibungsmöglichkeiten verbessern.

Fällt der Fiskus als systematischer Schuldenmacher weg, kommen theoretisch (noch) höhere Ausfuhren in Betracht, um das Niveau der ökonomischen Aktivität und damit der Geldvermögensbildung zu halten. Dies dürfte jedoch praktisch schon am erforderlichen Volumen scheitern, insbesondere wenn im Ausland ebenfalls Sparprogramme aufgelegt werden.”

Den neoliberalen Propagandisten in Medien, Politik und “Wissenschaft”, welche die Höhe der Staatsverschuldung kritisieren und zwecks deren Reduzierung die angeblich ausufernden Sozialleistungen zusammenstreichen möchten, sei der von Heiner Flassbeck im Februar 2007 in der Frankfurter Rundschau veröffentlichte Beitrag “Schuldenverrechner” [PDF – 44 KB] empfohlen:

“Für Fernsehjournalisten ist das Ding unbezahlbar. Wann immer sie eine reißerische Reportage über Alterung und die Bürden derselben unter die Menschen bringen wollen, schicken sie schnell eine Kamera zum Büro des Bundes der Steuerzahler in Berlin, die dort ein paar Sekunden lang filmt, wie der Schuldenrechner der öffentlichen Hand in unglaublichem Tempo vor sich hin rennt und das ganze Volk früher oder später ins Verderben stürzt. (…) Deutschland hatte im vergangenen Jahr die niedrigste Steuerquote aller Zeiten. Warum wird gerade da der Schuldenrechner so häufig bemüht, statt zu sagen, es könne etwas im Lande nicht in Ordnung sein, wenn der Staat so große Aufgaben hat, sich aber ausgerechnet die Wohlhabenden im Land nicht mehr an deren Finanzierung beteiligen wollen? (…) Perfide wird die Sache aber dadurch, dass man die einzige Art und Weise, wie der Staat das Geld auf Zeit von denen zurückholen kann, auf das er durch seine Steuersenkung verzichtet hat, mit Mitteln wie der Schuldenuhr verteufelt. Dann bleibt „natürlich“ nur die Lösung, die kleinen Leute via Kürzung des Sozialhaushalts dafür sorgen zu lassen, dass der Staat die zukünftigen Generationen nicht belastet werden. Die Schuldenrechnerei ist besonders dümmlich, weil man ja nur eine Uhr daneben stellen müsste, die die Einkommen zählt, die dem Staat in den letzten Jahren durch seine unverantwortliche Steuersenkungspolitik entgangen sind, und schon würde das Tempo der Uhr erheblich relativiert. Das Beste wäre aber, neben die Schuldenuhr eine Uhr zu stellen, die den Vermögenszuwachs in jeder Sekunde in Deutschland misst. Unsere Topmanager wissen doch sonst so genau, dass man die Höhe von Schulden immer bewerten muss vor dem Hintergrund der vorhandenen Vermögenswerte. Dann würden die staunenden Fernsehzuschauer oder die staunenden Touristen vor dem Büro des Steuerzahlerbundes in Berlin aber sehen, dass die Vermögensuhr viel schneller läuft als die Schuldenuhr und würden sich vielleicht fragen, wieso das bei ihnen persönlich eigentlich nicht der Fall ist. Dann würden die Leute vielleicht auch fragen, was denn mit den Vermögen geschieht und warum die berühmten „Leistungsträger“, die den Staat über Jahre gedrängt haben, Steuern für sie zu senken, damit sie mehr leisten können, nun dem Staat das Geld in Form von Staatsanleihen zurückgeben. Viele von denjenigen, die vom Staat in den vergangenen Jahren so großzügig bedacht wurden, haben offenbar gar nicht gewusst, was sie mit dem Geld machen sollen, das da so unverhofft in ihre Taschen gespült wurde.”

In einem deutschen Radiokommentar zu den US-Zwischenwahlen hieß es, “nicht nur die Republikaner” kritisierten die “wirkungslosen US-Konjunkturprogramme” Obamas, welche die Staatsschulden nach oben getrieben hätten. Dies kann man nur als dreist bezeichnen. Zum einen: Die in Deutschland Heiligenstatus genießenden Exporte profitieren nicht unwesentlich von den US-Konjunkturprogrammen. Zum anderen: Obama hatte von der Bush-Administration bereits einen hochdefizitären Staatshaushalt übernommen. Bushs Kriege im Irak und in Afghanistan, die Steuergeschenke und die Klientelpolitik der Bush-Administration zu Gunsten der US-“Eliten” sowie die Folgen des neoliberalen US-Finanzkapitalismus tragen hierfür die Verantwortung. Auch die desaströsen Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise für den US-Staatshaushalt gehen ganz maßgeblich auf das Konto der von den Republikanern und ihnen nahestehenden Kreisen propagierten Finanz- und Wirtschaftspolitik. Und: Wer für den kräftigen Anstieg des US-Haushaltsdefizits die US-Konjunkturprogramme verantwortlich macht, unterschlägt unbewusst oder gar wissentlich, dass die US-Staatsverschuldung seit dem offenen Ausbruch der Krise ganz maßgeblich von den exorbitant teuren US-Bankenrettungspaketen nach oben getrieben wurde.


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