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Titel: Die andere Wahlbilanz. Oder: die Menschen sind weiter als „die Politik“.

Datum: 30. September 2021 um 13:49 Uhr
Rubrik: Stuttgart 21, Umweltpolitik, Verkehrspolitik, Wahlen
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Am vergangenen Sonntag, dem 26. September 2021, gab es zwei in vielerlei Hinsicht historische Wahlen, über die kaum berichtet wird. An diesem Tag sprachen sich in der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland 56 Prozent für eine Enteignung der großen Wohnungskonzerne aus. Und warum gab es diesen Erfolg? Von Winfried Wolf.

Weil Millionen Menschen das Recht auf bezahlbares Wohnen als Grundrecht sehen und weil bis zu 2000 Aktive diese Kampagne in der Hauptstadt mit enormem Engagement getragen haben.

Am selben letzten Sonntag wurde in der Hauptstadt der Steiermark, in Graz, Elke Kahr zur Oberbürgermeisterin gewählt. Frau Kahr ist Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs. Sie geht auch heute weiter davon aus, dass „die lohnabhängigen Menschen der bewussteste Teil der Gesellschaft“ sind. [1]

Und warum hatten Elke Kahr und ihr Team diesen Erfolg? Sicher nicht, weil sie Kommunisten sind. Sondern vor allem, weil sie mit ihrer konkreten bescheidenen Lebensweise als Vorbild gesehen werden, weil sie sich seit Jahrzehnten insbesondere für die Interessen von Mieterinnen und Mietern stark machen und weil sie einen umfassenden öffentlichen Wohnungssektor fordern. Das gefällt natürlich denen nicht, die im Bündnis mit Miethaien und Wohnungskonzernen stehen. Die Schlagzeile in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lautete: „Willkommen in Leningraz“.

Doch wenden wir uns dem zu, worüber breit berichtet wird – der Bundestagswahl in Deutschland. Die Ergebnisse, über die in der folgenden Klarheit ebenfalls fast nirgendwo berichtet wird, lauten:

9,7 Millionen Menschen im wahlberechtigten Alter – rund eine Million mehr als vor vier Jahren – durften nicht zur Wahl gehen, weil sie keinen deutschen Pass haben.

14,3 Millionen oder ein knappes Viertel der Wahlberechtigten – also der Menschen mit deutschem Pass – ging erst gar nicht zur Wahl. 400.000 Menschen wählten ungültig. Weitere 4 Millionen – das entspricht 8,6 Prozent – machten ihr Kreuz bei Kleinparteien, deren Ergebnis jeweils unter der undemokratischen Fünf-Prozent-Hürde blieb. Sie verschenkten mehr oder weniger bewusst ihre Stimme.

Sodann erhielt die Wahlsiegerin SPD 11,9 Millionen Stimmen, was 25,7 Prozent der Wählerinnen und Wähler entspricht. Das sind aber zugleich nur 19 Prozent der Wahlberechtigten. Es entspricht sogar weniger als 15 Prozent der Bevölkerung im wahlberechtigten Alter.

Nochmals dürftiger waren die Ergebnisse von CDU/CSU, Grünen und FDP.

Und diese Gesamtveranstaltung bezeichnete der Grüne Cem Özdemir am Wahlabend bei „Anne Will“ dann als „das Hochamt unserer Demokratie“. [2]

Nein, ich mache mich keineswegs über die Wahlen lustig. Es ist gut, dass es sie als einigermaßen freie gibt. Und selbstverständlich habe ich (die LINKE) gewählt. Vor allem, weil das die einzige Partei ist, die sich gegen Militarisierung und Auslandseinsätze stellt. Auf die Gründe, warum die LINKE fast völlig abgeschmiert ist, ist zurückzukommen.

Grundsätzlich müssen die Verhältnisse analysiert werden, wie sie sind. Wobei das, was jetzt nach der Wahl stattfindet, nochmals erbärmlicher ist als die nackten Ergebnisse. Der Zweitplatzierte – dieser Leichtmatrose aus Aachen – will eine „Zukunftskoalition“ mit FDP und Grünen bilden. Die beiden kleineren Parteien erklären noch am Wahlabend, dass sie eine Regierung mit der Union der Verlierer nicht ausschließen.

Gelingt dem Bankenfreund Olaf Scholz am Ende die Bildung einer Regierung, dann wird derjenige Kanzler, der 2020 in zwei SPD-internen Wahlgängen um den Parteivorsitz unterlag – und dessen Politik von einer Mehrheit der SPD-Mitglieder als wenig sozial und nicht ökologisch ausgerichtet angesehen wird. [3]

Drei Dinge sind damit ausgemacht:

Erstens ist offenkundig, dass es sich bei der neuen Regierung um eine politisch schwache Regierung handelt, bei der die Gemeinsamkeit im Wesentlichen darin besteht, dass alle Beteiligten an die Futtertröge wollen. Nach 16 Jahren mit relativ stabiler Merkel-Regierung nähert sich unser Land auf diesem Gebiet dem EU-Normalmaß. Für die Europäische Union, in der bislang die zentrifugalen Kräfte durch eine relative starke deutsche Regierung und eine Achse Berlin-Paris von Merkels Gnaden zusammengehalten wurden, kann dies dramatische Folgen haben. Eine neue EU-Krise, wie es eine solche 2010-2012 gab, könnte sich als Sprengsatz für die gesamte Konstruktion dieses Blocks und erst recht für die Währung Euro erweisen.

Zweitens liegt auf der Hand, dass diese Regierung einen grundsätzlich unsozialen Charakter haben wird. Sie verfolgt in jedem Fall das Ziel „Einhaltung der Schuldenbremse“. Sollte sie erkennen, dass Mehrausgaben – beispielsweise für Klimaschutz – notwendig werden, wird sie die entsprechenden Gelder nicht bei den Besserverdienenden und den hochprofitablen Unternehmen, sondern bei den kleinen Leuten holen – über „Rentenanpassung“, höhere Sozialbeiträge, steigende Energiepreise oder eine Mehrwertsteuererhöhung. Die beiden wichtigen Elemente, für die Olaf Scholz im Wahlkampf stand und die seiner Wahlkampagne einen gewissen sozialen Anstrich gaben, werden bereits jetzt als absehbares No-Go einer neuen Regierung identifiziert. Die FAZ schrieb dazu: „12 Euro Mindestlohn und stabile Rente: Diese Versprechen aus dem Wahlkampf erschweren Ampel-Verhandlungen.“ [4]

Drittens ist klar erkennbar, dass diese Regierung in keiner Weise den Aufgaben, die sich ihr stellen, gewachsen sein wird. Beschränken wir uns auf zwei Bereiche – den Klimaschutz und die Bahnpolitik.

Zum Klimaschutz: Alle relevanten Player einer neuen Bundesregierung setzen auf rein marktwirtschaftliche Mechanismen zur Reduktion der Treibhausgase. Von einer „Entfesselung der Marktkräfte“ schwärmt Laschet. Von einer „industriellen Modernisierung“ schwadroniert Scholz. Für Baerbock gibt es „einen Weg der Klimaneutralität, den die Industrie bereits eingeschlagen hat“. [5]

Tatsächlich wirken die Marktmechanismen in die entgegengesetzte Richtung. Das ist so bei einer Konzentration auf eine CO2-Bepreisung. Diese muss dann als Alibi dafür herhalten, dass verzichtet wird auf wirksame Sofortmaßnahmen wie Besteuerung von Kerosin, Wegfall der Dienstwagensubventionierung, Streichung der Diesel-Subventionierung und vor allem auf einen Beschluss zu wirksamen Tempolimits von 120 km/h auf Autobahnen, von 80 km/h auf allen anderen Fernstraßen und von 30 km/h in allen Wohngebieten.

Das wird besonders deutlich beim Elektroauto-Wahn, für den es nicht zufällig eine große Koalition, bestehend aus Union, SPD, Grüne, FDP und dem Verband der Autoindustrie gibt. Wobei sich Scholz und Laschet beim Lob für das neue Tesla-Werk in Grünheide zu übertrumpfen versuchen.

Stichwort Paris: Es ist lehrreich, dass hierzulande das Thema Tempo 30 in allen Wohngebieten nicht durchsetzbar erscheint, dass jedoch diese elementare Forderung vor wenigen Wochen in Paris umgesetzt wurde. Für Gesamt-Paris gilt inzwischen Tempo 30 – die Stadtautobahn Peripheriqie ausgenommen. Wobei die Franzosen nicht viel weniger autoverliebt sind als die Deutschen. Offensichtlich herrscht dort zumindest derzeit mehr Vernunft.

Zur Politik im Bereich Schiene: Die neue Bundesregierung und die Deutsche Bahn AG werden am Projekt Deutschlandtakt festhalten. Das klingt ja auch gut: bundesweiter Integraler Taktfahrplan; Vorbild angeblich die Schweiz. Und all dies als eine zentrale Maßnahme für den Klimaschutz. Doch es ist genau nicht die Schweiz, die da Vorbild ist – das Negativ-Vorbild ist die Politik der Deutschen Bahn selbst. Konkret: Man will, unter der Tarnkappe „Deutschlandtakt“, in den nächsten 10 bis 15 Jahren mehr als 75 Milliarden Euro vor allem in falsche, oft zerstörerische Großprojekte investieren. Man will, so auf einer neuen Verbindung Hannover – Bielefeld, erneut, wie im Fall Stuttgart – Ulm, eine Bolzstrecke für viel Geld und mit einem Energiefresser-Tempo 300 bauen.

Interessant dabei ist: In den Kreisen, die für den Deutschlandtakt trommeln, werden die neuen absurden Großprojekte, die ja eigentlich zur Stuttgart21-Tradition zu rechnen sind, damit begründet, dass hier alles „ganz anders als in Stuttgart“ sei. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatte vor ein paar Wochen einen Seite-1-Artikel mit einem Loblied auf den neu projektierten Frankfurter Fernbahntunnel mit der Überschrift: „KEIN Stuttgart 21 am Main“. Dort heißt es u.a.: „Alle oberirdischen Gleisanlagen im Frankfurter Hauptbahnhof bleiben erhalten – dank zusätzlicher Bahnsteige in 35 Metern Tiefe […] Mit Stuttgart 21 hat dies mithin wirklich nichts zu tun.“ [6]

Dass das Projekt fragwürdig ist, zeigt allein schon die Zeitvorgabe. Hierzu nochmals die FAZ:

„Selbst wenn die Bürger nicht auf die Barrikaden klettern […] so wird es mindestens zwei Jahrzehnte dauern, bis die ersten Züge unter der (Frankfurter) Innenstadt hindurchrauschen.“

In Zeiten einer aufziehenden Klimakatastrophe, bei der das nächste Jahrzehnt entscheidend sein wird, plant man einen Betonbahn-Tunnel, der frühestens 2041 in Betrieb gehen würde. Im Übrigen gab es Ende der 1990er Jahre das Projekt Frankfurt21. Dies war Teil der 21er Projekte mit dem Kern Stuttgart21, die der damalige Bahnchef Heinz Dürr angeschoben hatte und die primär von den Interessen der Immobilienspekulation gespeist waren. Gegen das Projekt Frankfurt21 bildete sich vor Ort ein breites Bündnis mit der Bezeichnung Frankfurt22, in dem der Bahnfreund und Regisseur Klaus Gietinger führend aktiv war. Dieses Bündnis obsiegte; Frankfurt21 musste in die Tonne getreten werden. Und es kam zu einer Alternativplanung, die vom damaligen Bahnchef Hartmut Mehdorn, von der damaligen hessischen CDU-FDP-Landesregierung und von der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth gemeinsam getragen wurde. Diese konkret ausgearbeitete Alternativplanung sah eine Optimierung des Gleisvorfelds des Frankfurter Hauptbahnhofs vor, mit der die Effizienz des Bahnknotens Frankfurt um rund ein Drittel gesteigert worden wäre. Knapp zwei Jahrzehnte später ist so gut wie kein Element dieser Alternativplanung umgesetzt worden. Stattdessen wird ein Teil der alten Frankfurt21er-Planung als neues Projekt präsentiert und dabei – bislang erfolgreich – auf die Vergesslichkeit der Medien spekuliert.

Übrigens: Das im Zusammenhang mit dem Deutschlandtakt genannte Ziel einer Verdopplung der Zahl der Bahnreisenden ist auch so ein Bluff. Eine Verdopplung bringt für das Klima dann rein gar nichts, wenn alle anderen motorisierten Verkehrsarten weiter munter wachsen. Dann haben wir ein CO2-Plus aus dem Flugverkehr, ein solches aus dem Autoverkehr und ja auch ein solches auf dem Bereich Schiene. Ein Plus auf der Schiene macht nur Sinn, wenn die anderen motorisierten Verkehrsarten drastisch reduziert werden. Doch genau das ist bei keiner der Parteien, die eine neue Regierung bilden wollen, Programmbestandteil.

Abstoßendes Berufspolitikertum

Ein wesentlicher Faktor für den mangelnden Enthusiasmus des Wahlvolks besteht in der Politiker-Müdigkeit. Und ich meine es so, wie formuliert; die Rede ist nicht von „Politik-Müdigkeit“. Die Erfahrungen der Menschen mit der offiziellen Politik sind schlichtweg abstoßend. Auch hier zwei Beispiele:

Beispiel Krieg & Frieden: Es gab mehr als ein Jahrzehnt lang in der Bevölkerung eine deutliche Mehrheit gegen den Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Im Bundestag stimmten jedoch immer gut 80 Prozent für die Verteidigung der Freiheit Deutschlands am Hindukusch. Und wie reagierte jüngst „die Politik“ auf den Kollaps von Nato und USA in Kabul? Man müsse jetzt den Aufbau einer EU-Armee beschleunigen, um autonom Auslandseinsätze durchführen zu können.

Olaf Scholz tönte: „In dieser Legislaturperiode haben wir den größten Aufwuchs für die Bundeswehr […] geschafft – ein Zuwachs von 36 Prozent. Das ist etwas, was ich aus tiefster Überzeugung für richtig halte.“ [7]

Allein diese Aussage ist ein Offenbarungseid für einen potentiellen Bundeskanzler und insbesondere für einen Sozialdemokraten: 14 Prozent der Kinder in diesem Land leben in Hartz-IV-Haushalten. Millionen Existenzen sind wegen (berechtigter) Pandemie-Maßnahmen bedroht. Weit mehr als 100.000 Stellen fehlen im Bereich Krankenhäuser. Im Schienenverkehr fehlen zehntausende Beschäftigte, darunter gut 2000 Lokführer.

Doch bei all diesen Themen heißt es, es gebe „kein Geld“. Und vor diesem Hintergrund sagt dann der Kanzler in spe, er halte immense Steigerungen der Rüstungsausgaben „aus tiefster Überzeugung für richtig“. Bei einem solchen Verhalten MUSS der mündige Bürger den Eindruck haben, dass das Kreuzchenmachen in der Wahlurne relativ wenig bewegt.

Beispiel Stuttgart 21: Der grün-schwarze Koalitionsvertrag für Baden-Württemberg wurde erst vor einem halben Jahr, im Mai 2021, vorgelegt. Darin wird festgehalten: Ergänzend zu Stuttgart 21, dem Tiefbahnhof mit acht Durchfahrgleisen, wird ein Kopfbahnhof mit sechs bis acht Gleisen als notwendig erachtet, ebenfalls im Untergrund befindlich und irgendwie angeflanscht an den eigentlichen S21-Tiefbahnhof.

Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 interpretierte dies korrekt als das Projekt eines „zweiten Stuttgart 21“.

Jetzt gab es seither ja nicht nur die Hochwasserkatastrophe in NRW und in Rheinland-Pfalz. Es gab im ersten Halbjahr 2021 auch zwei Mal Hochwasser in der Stuttgarter Innenstadt, wobei bei einem Mal die bestehenden und in Betrieb befindlichen Untergrund-Stadtbahnen bzw. S-Bahnen für mehrere Stunden ausfielen.

Erinnert sei an Frei Otto? Das war einer der beiden S21-Architekten; der zweite neben dem S21-Profiteur Christoph Ingenhoven. Frei Otto stieg 2010 aus dem S21-Projekt aus. Er sagte damals, er müsse „aus moralischer Verantwortung“ seine Unterstützung für S21 aufgeben. Er erkannte die Gefahr, dass der Bahnhof in der gigantischen, tief in den Boden versenkten Betonwanne – ich zitiere – „von den umgeleiteten Wasserströmen überschwemmt“ werden könnte – oder dass das Gegenteil passiert und er aus der Erde „aufsteigt wie ein U-Boot aus dem Meer“. [8]

Die S21-Planer sehen diese Gefahr durchaus. Deshalb haben sie in die beiden gewaltigen Betonwände, die den S21-Trog seitlich begrenzen, riesige senkrechte Schlitze eingelassen. Diese werden dann geöffnet, wenn diese „umgeleiteten Wasserströme“ – der Nesebach, der durch den Düker, der unter dem Trog hindurchführt, nochmals gestaut wird – drohen, den S21-Trog aufsteigen zu lassen. Das heißt im Klartext: Man plant konkret für einen solchen Fall, den S21-Bahnhof zu fluten.

Nun kann man zwar ohne allzu große Kosten einen Straßentunnel fluten – wie z.B. den Tunnel in Köln, der zwischen Rhein und Kölner Dom verläuft. Da muss man nach einer Flutung „nur“ das Wasser wieder abpumpen und Dreck und Schlamm herausholen. Danach können die Autos den Tunnel wieder nutzen.

Flutet man jedoch den S21-Bahnhof – dann sind davon Hightech-Elektronik und vielfältige sensible und ausgesprochen wertvolle Bahnhofs-Infrastruktur betroffen. Das heißt: Nach einem solchen Vorgang ist ein Hauptbahnhof Stuttgart für Wochen, wenn nicht für Monate komplett lahmgelegt.

Bis vor einiger Zeit erschien all das vielen wie übertriebene Kassandra-Rufe. Doch spätestens seit der Hochwasserkatastrophe 2021, spätestens seit den regelmäßigen Starkregen-Vorkommnissen, ist klar: diese Gefahren sind absolut realistisch. Es ist bereits aus diesem Grund absurd, das S21-Projekt weiter zu betreiben. Es ist dann doppelt absurd, wenn eine grün angeführte Landesregierung und wenn demnächst wohl ein Bundesverkehrsminister mit grünem Parteibuch, sei es Cem Özdemir oder Anton Hofreiter, dieses zerstörerische, jeder Klimapolitik hohnsprechende Projekt weiter betreiben.

Der Politik müde sind die Menschen nicht unbedingt. Am 24. September waren erneut Zehntausende Fridays-for-Future-Jugendliche auf den Straßen, um für eine wirksame Klimapolitik zu werben.

Ein paar Tausend Bahnbeschäftigte zeigten vor wenigen Wochen, wie wirksam Streiks sein können. Die Kolleginnen und Kollegen der GDL konnten sich nach drei Streiks fast in Gänze durchsetzen, was am Ende allen Bahnbeschäftigten zugute kommen wird.

In Berlin stimmten die erwähnten 56 Prozent für eine ENTEIGNUNG der großen Wohnungskonzerne – obgleich die SPD-Spitzenkandidatin „Enteignung“ als „rote Linie“ brandmarkte.

Wenn dann die LINKE, die in der Hauptstadt als Einzige diese Kampagne – wenn auch nicht mit voller Kraft – unterstützte, nur 14 Prozent der Stimmen erhält, dann wird auch hier just dieser Widerspruch deutlich: Man traut der offiziellen Politik aus guten Gründen nicht über den Weg. [9] Schließlich ist bislang die LINKE Teil eines rot-rot-grünen Senats, der beispielsweise die Berliner S-Bahn zerschlagen und privatisieren will. [10]

Eine entscheidende Lehre aus den Wahlen vom letzten Sonntag lautet: Eine große Zahl von Menschen weiß: Auf die eigene Kraft, auf Basismobilisierung, auf Streiks kommt es an! Gegen einen abgehobenen Bahnvorstand! Gegen die Hambacher-Forst-Zerstörer! Gegen Mietenhaie! Gegen das Monsterprojekt Stuttgart 21! Gegen neue Großprojekte dieser Art wie den Frankfurter Fernbahntunnel oder in Hamburg die Verlegung des Bahnhofs Altona nach Diebsteich. Und damit für eine menschenwürdige Zukunft!

Anmerkungen:

[«1] FAZ vom 28. September 2021. Überschrift: „Willkommen in Leningraz“.

[«2] Anne Will, ARD, 26. September 2021.

[«3] Im ersten Wahlgang erhielt das Duo Scholz – Geywitz 22,7 Prozent, im zweiten waren es 45,3 Prozent – gegenüber 53,1 Prozent, mit denen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans als Parteivorsitzende gewählt wurden.

[«4] Dietrich Creutzburg und Manfred Schäfers, Die roten Linien der SPD, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. September 2021.

[«5] Von einer „Entfesselung der Marktkräfte“ schwärmt Laschet. Von einer „industriellen Modernisierung“ schwadroniert Scholz. Für Baerbock gibt es „einen Weg der Klimaneutralität, den die Industrie bereits eingeschlagen hat“. Baerbock-Aussage in der „Elefantenrunde“ vom 26. September 2021.

[«6] Manfred Köhler, Kein „Stuttgart 21“ am Main, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Juli 2021.

[«7] Interview in Welt am Sonntag vom 12. September 2021.

[«8] Zitiert bei: Winfried Wolf, abgrundtief +bodenlos – Stuttgart 21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands, 3. erw. Auflage, Köln 2019, S. 160.

[«9] Wie bereits bei früheren Wahlen gewannen erneut explizit linke LINKE-Kandidatinnen und Kandidaten deutlich, wohingegen eher angepasste LINKE-Kandidierende vielfach verloren. So erzielten bei den Berliner Wahlen zum Abgeordnetenhaus z.B. Jorinde Schulz im Neuköllner Wahlkreis 1 30 Prozent und Lucy Redler in Neuköllner Wahlkreis 2 26,6 Prozent der Erststimmen. Das waren jeweils deutliche Zuwächse – wohingegen die LINKE stadtweit (leicht) verlor.

[«10] Der rot-rot-grüne Senat will die S-Bahn Berlin aufspalten und einzelne Teile derselben zur Vergabe u.a. an private Betreiber ausschreiben. Dieses Privatisierungsvorhaben wird von der Stadtregierung noch dadurch gezielt begünstigt, dass im Vorfeld wichtige Infrastrukturelemente (wie Instandhaltung) mit Steuergeldern zusätzlich zu den bestehenden – im Besitz der S-Bahn Berlin befindlichen – geschaffen werden. Sie stünden dann, wenn Private den Zuschlag erhalten, diesen zur Verfügung. Die Behauptung, es gebe einen gesetzlichen Zwang zu dieser Ausschreibung, ist falsch. Denkbar wäre eine Direktvergabe der S-Bahn an die bestehenden öffentlichen Verkehrsbetriebe BVG oder an eine neuzubildende Gesellschaft in Landeseigentum. Es spricht viel dafür, dass auch die kommende Berliner Stadtregierung an dem Projekt festhält. Siehe dazu ausführlich den neuen Film von Klaus Gietinger. Film ansehen

Titelbild: Von Micra / shutterstock.com


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