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Titel: Moskau: Festnahmen von linken Oppositionellen nach Protesten gegen Unregelmäßigkeiten bei der Duma-Wahl

Datum: 6. Oktober 2021 um 10:06 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Länderberichte, Wahlen
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Nach den Duma-Wahlen, bei denen die Regierungspartei Einiges Russland mit 49 Prozent der Stimmen siegte, gab es in Moskau und anderen Städten Proteste gegen mutmaßliche Wahlfälschungen. Über 100 Oppositionelle aus KP und anderen linken Organisationen wurden festgenommen oder wegen „unerlaubter Versammlungen“ zu zehntägigen Haftstrafen verurteilt. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.

Das politische Russland kommt nicht zur Ruhe. Mit dem Vorwurf der „Organisation von nichtangemeldeten Kundgebungen“ wurden in Moskau nach Angaben der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) 100 Partei-Mitglieder – darunter zahlreiche Abgeordnete und Kandidaten – kurzzeitig festgenommen oder zu einer Haftstrafe von zehn Tagen verurteilt.

Der Vorwurf gegen die Festgenommenen lautet: Teilnahme an oder Organisierung von unerlaubten Kundgebungen. Nach Angaben der KPRF fehlt für Festnahmen und Haftstrafen gegen Abgeordnete das nötige Einverständnis des Generalstaatsanwaltes.

Am 20. und 25. September beteiligten sich 300 bzw. 1.300 Menschen auf dem Moskauer Puschkin-Platz an Kundgebungen gegen Wahlfälschungen. Gefordert wurde auch die Annullierung der Ergebnisse der umstrittenen Moskauer Online-Wahl.

Die Kundgebungen wurden organisiert als „Treffen mit KPRF-Abgeordneten“. Ob derartige Treffen in Corona-Zeiten legal sind, ist rechtlich umstritten.

KPRF-Vorsitzender Sjuganow: „Wir sind bereit zur konstruktiven Mitarbeit“

Der KPRF-Vorsitzende Gennadi Sjuganow, für dessen Partei bei den Duma-Wahlen nach offiziellen Angaben 18,8 Prozent der Wähler stimmten, hat den russischen Präsidenten Wladimir Putin am Montag in einem Offenen Brief aufgefordert, strenge Maßnahmen gegen die russischen Beamten zu ergreifen, welche mit der Festnahme von KPRF-Mitgliedern und -Abgeordneten „ihre Amtsvollmachten überschritten“ haben.

Mit Festnahmen und Haftstrafen von zehn Tagen wollte der Kreml offenbar eine sich anbahnende Protestwelle wegen Unregelmäßigkeiten bei der Duma-Wahl aufhalten. Die Protestwelle scheint jetzt vorläufig gestoppt.

Der KPRF-Vorsitzende Sjuganow fordert nicht zu weiteren Straßenprotesten auf. Er bietet dem Kreml weiter konstruktive Mitarbeit „bei allen Maßnahmen, die zur Stärkung Russlands dienen“, an. Das sei „besonders wichtig, angesichts der wachsenden Gefahr eines Hybrid-Krieges gegen Russland vor dem Hintergrund einer weltweiten System-Krise.“

Zugleich bleibt Sjuganow bei seiner schon am Wahlabend formulierten Position, nach der die drei Tage dauernde Duma-Wahl und die Online-Wahl in sieben russischen Gebieten – darunter auch Moskau – „früher oder später die Stabilität in der Gesellschaft sprengt“, weil sie das Vertrauen der Menschen in den Wahlprozess untergräbt.

Sjuganow vergisst in seinem Brief nicht zu erwähnen, dass sich „der Großteil der entwickelten Staaten“ von dreitägigen Wahlen und Online-Abstimmungen längst „verabschiedet hat“.

Strafen gegen KPRF-Abgeordnete wegen „unerlaubter Versammlungen“

In Moskau wurden nicht nur KPRF-Mitglieder festgenommen. Die Moskauer Polizei versuchte die Ausarbeitung von Klagen wegen Unregelmäßigkeiten bei den Duma-Wahlen zu behindern. Am 28. September blockierte die Moskauer Polizei das Büro des stellvertretenden Duma-Vorsitzenden Iwan Melnikow, der auch hoher KPRF-Funktionär ist. In dem Büro bereiteten Juristen der KPRF Klagen gegen Unregelmäßigkeiten bei den Duma-Wahlen vor. Der KPRF-Jurist Muchamed Bidschew wurde wegen „Teilnahme an einer nichtgenehmigten Versammlung“ zu zehn Tagen Haft verurteilt.

Am 29. September verließ die Fraktion der KPRF im Moskauer Stadtparlament aus Protest gegen die umstrittenen Online-Wahlen die Stadtratssitzung.

Am 30. September wurde Jekaterina Jengalytschewa, Abgeordnete der KPRF-Fraktion im Moskauer Stadtrat, kurzzeitig festgenommen. Vier Tage später wurde sie wegen „Organisierung einer unerlaubten Versammlung“ zu einer Geldstrafe von 2.900 Euro verurteilt. Sie hatte an der Protestkundgebung am 25. September nicht teilgenommen, aber auf Facebook eine Ankündigung zu dieser Veranstaltung veröffentlicht.

Am 1. Dezember wurden der Leiter der Fraktion der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KRPF) im Moskauer Stadtrat, Nikolai Subrilin, und der Leiter der Protest-Abteilung der KPRF-Parteigliederung Moskau, Pawel Iwanow, festgenommen. Gegen die beiden Festgenommenen wurden wegen Teilnahme an einer „ungesetzlichen Versammlung“ Geldstrafen in Höhe von 345 beziehungsweise 230 Euro verhängt.

Haftstrafe für den bekannten Soziologen Boris Kagarlitsky

Auch unabhängige Linke waren von Haftstrafen betroffen. Zu zehn Tagen Haft verurteilt wurden die Leiter der Linken Front, Sergej Udalzow und Leonid Raswosschajew.

Am 30. September wurde Boris Kagarlitsky, ein bekannter Soziologe und Chefredakteur der Internetplattform Rabkor.ru, festgenommen. Der 63-Jährige, der schon 1982 wegen Gründung einer sozialistischen Studentengruppe über ein Jahr in Haft saß, wurde direkt vor der Schanin-Universität verhaftet, wo er eine Vorlesung über „Marxismus und die internationalen Beziehungen“ halten wollte.

Kagarlitsky wurde zum Moskauer Sawjolowski-Bezirksgericht gefahren, wo er „wegen Organisierung einer nichtgenehmigten Veranstaltung“ zu einer zehntägigen Haftstrafe verurteilt wurde. Für die Verurteilung reichte aus, dass der Soziologe auf seiner Facebook-Seite eine Bekanntmachung eines KPRF-Abgeordneten über ein Protest-Meeting mit KPRF-Abgeordneten gepostet hatte.

Umstrittene Online-Wahlen

Um zu verstehen, warum gegen Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen protestiert wurde, hier nochmal ein Rückblick, wie die Duma-Wahlen in Moskau abliefen. Von 7,5 Millionen eingetragenen Wählern in Moskau hatten sich zwei Millionen für die Online-Abstimmung registriert. Bei der Abstimmung an der Urne siegten in acht Moskauer Wahlkreisen Direktkandidaten der KPRF und einige Liberale.

In den acht Wahlbezirken, in denen Kommunisten und Liberale als Direktkandidaten siegten, veränderte sich nach der Hinzurechnung der Online-Stimmen das Bild. Alle Oppositionskandidaten verloren ihren Siegerplatz. Sieger wurden in allen Moskauer Bezirken Direktkandidaten der Regierungspartei Einiges Russland.

Die Auszählung der Online-Stimmen dauerte überraschend zehn Stunden, was bei kritischen Beobachtern das Misstrauen gegen die Online-Wahl verstärkte.

Soziologe Kagarlitsky: „Keine geheime Wahl“

Kagarlitsky hatte drei Tage vor seiner Verhaftung einen Artikel veröffentlicht, in dem er ausführlich begründete, warum eine Online-Wahl keinen demokratischen Standards entspricht.

Die bei der Moskauer Online-Wahl mögliche Praxis, seine Wahlentscheidung zu korrigieren, sei eine Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen, die an der Wahlurne wählen.

Beim Online-Wählen muss man sich per Blockchain einloggen. Das sei nicht so sicher wie in einem Wahllokal, wo man nicht nur physisch präsent ist, sondern auch seinen Pass vorzeigen muss.

Eine geheime Abstimmung sei beim Online-Wählen nicht gewährleistet. Der in eine Wahlurne geworfene Stimmzettel lässt sich nicht mehr mit der Person verbinden, die diesen Zettel ausgefüllt hat. Beim Online-Wählen ruft der User jedoch seinen Wahlzettel erneut auf, wenn er ihn korrigieren will. Wenn der User das kann, dann könnten das auch Personen, die sich interessieren, wer für welche Partei gestimmt hat, meint der Soziologe.

Wird es jetzt immer mehr Repressionen geben?

Da die Organisationen und Stäbe von Alexej Navalny verboten wurden und die sozialliberale Jabloko-Partei nur etwas über ein Prozent der Wählerstimmen bekam, wurde die KPRF in den letzten Monaten zum Bezugspunkt auch für Oppositionelle aus dem liberalen Spektrum. Der liberale, westlich orientierte Internet-Kanal „Doschd“ (Regen) berichtet ausführlich über die Repressionen gegen KPRF-Mitglieder und verzichtet auf Sticheleien gegen die Kommunisten. Dabei liegen zwischen „Doschd“ und KPRF ideologisch Welten.

Die Protestbewegung gegen Wahlfälschungen ist für Putin noch keine Gefahr. Allerdings ist fraglich, ob der Kreml es schafft, die Kritik an der Online-Wahl allein mit Kundgebungsverboten und Festnahmen in Schach zu halten.

Auffällig ist, dass der Kreml immer massiver versucht, mit der Klassifizierung als „ausländischer Agent“ Medien, kritische Journalisten und Aktivisten zur Räson zu bringen. Bisher sieht es so aus, dass die jugendliche Protestszene, aber auch die Abgeordneten der KPRF sich durch die Drohkulisse „ausländischer Agent“ nicht einschüchtern lassen.

Symptomatisch für die Stimmung unter Moskauer Links-Liberalen ist eine Äußerung des Soziologen Grigori Judin, der wie Kagarlitsky an der Schanin-Universität unterrichtet. Judin erklärte gegenüber dem Fernsehkanal „Doschd“, „wenn Sie folgende drei Fragen mit ‚Nein‘ beantworten, dann müssen Sie damit rechnen, dass Sie es mit der Staatsmacht zu tun bekommen. 1. Meinen Sie, dass Russland kurz vor der Eroberung und Versklavung durch ausländische Staaten steht? 2. Ist Putin der einzige Politiker, der Russland retten kann? 3. Sind Sie bereit, in der Öffentlichkeit über Ihre Ansichten zu schweigen?“

Von der „gelenkten Demokratie“ zur offenen Repression?

Kritische Beobachter in Moskau meinen, mit der „gelenkten Demokratie“ in Russland sei es jetzt vorbei. Nun beginne eine Etappe der Repression. Doch der Soziologe Kagarlitsky gibt zu bedenken, dass sich auch Repressionsmaßnahmen abnutzen, wenn sie nicht immer weiter gesteigert werden. Und wer wolle die Verantwortung für eine immer weitere Steigerung übernehmen? Verantwortliche könnten später zur Rechenschaft gezogen werden. Der Soziologe erinnerte an Nikolai Jeschow, der 1937/38 als NKWD-Vorsitzender die Massenrepressionen leitete, 1939 aber wegen eines angeblichen Umsturzversuchs verhaftet und erschossen wurde.

Bisher sieht es nicht so aus, als ob in Russland eine Massenbewegung auf der Straße entsteht. Kagarlitsky bemängelt, dass selbst die KPRF ein schwaches Mobilisierungspotential hat. Die Partei könne in Moskau mindestens 3.000 Mitglieder und Funktionäre mobilisieren. Aber offenbar sei die Bereitschaft der Parteimitglieder, auf die Straße zu gehen, begrenzt.

Das ist eigentlich kein Wunder, denn die KPRF war seit ihrer Gründung 1993 immer zu allererst eine Parlamentspartei. Straßenprotest spielte nie die entscheidende Rolle.

Titelbild: Alexey Borodin / Shutterstock


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