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Titel: Terror, den sie meinen oder Die Zerstörung der einst blühenden islamischen City of Marawi

Datum: 17. Oktober 2021 um 11:45 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Gedenktage/Jahrestage, Militäreinsätze/Kriege
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Vier Jahre nach der völligen Zerstörung der südphilippinischen Stadt Marawi in Folge des Kampfes gegen den „dschihadistischen Terror“ steht der Großteil der Zivilbevölkerung noch immer vor einem Trümmerhaufen oder fristet als Binnenflüchtlinge ein tristes Dasein in Ungewissheit und Verzweiflung. Von Rainer Werning.

Marawi City, im Zentrum der größten südphilippinischen Insel Mindanao gelegen, war bis zum 23. Mai 2017 eine vergleichsweise blühende Stadt mit etwa 250.000 Einwohnern. Sie ist gleichzeitig die Hauptstadt der Provinz Lanao del Sur und liegt idyllisch am nördlichen Ufer des Lanao-Sees in einer Höhe von 700 m über dem Meeresspiegel. Seit dem Frühjahr 1980 nennt sich die Stadt offiziell „Islamic City of Marawi“, da sie die einzige Stadt in den Philippinen ist, die mehrheitlich von Muslimen bewohnt wird, deren Anteil an der Bevölkerung 92 Prozent beträgt. Seit jeher war Marawi ein Wirtschafts-, Bildungs-, Kultur- und Politikzentrum der Provinz und zudem der Mittelpunkt des Islam im philippinischen Süden. Lange galt die Stadt als Hort von Toleranz und gegenseitigem Respekt, wo Moros (Muslime), Christen und Indigene friedlich zusammenlebten und zahlreiche renommierte Bildungseinrichtungen gemeinsamen Lernens und Lehrens unterhielten.

Schwarze Fahnen über Marawi

Offensichtlich von mehreren Geheimdiensten des Landes unbemerkt war es dem auf der südlich von Mindanao gelegenen Insel Basilan agierenden Führer der Abu-Sayyaf-Gruppe (ASG) und selbsternannten Emir des Islamischen Staates (IS), Isnilon Hapilon, gelungen, sich mit einigen Vertrauten im Frühjahr 2017 nach Marawi durchzuschlagen. Dort nahmen sie Kontakt zu Omarkhayam Maute und dessen Brüdern auf, die mit eigenen Gefolgsleuten ebenfalls den Treueeid auf den IS geschworen und sich bereits ein Jahr zuvor in anderen Gemeinden der Provinz Lanao del Sur Gefechte mit Einheiten der philippinischen Streitkräfte (AFP) geliefert hatten.

Bei dem Versuch, den international als Topterroristen gesuchten Hapilon durch einen AFP-Überraschungsangriff am Morgen des 23. Mai 2017 gefangen zu nehmen, schlugen kombinierte Einheiten der ASG und der Maute-Gruppe zurück und durchstreiften Straßen im Stadtzentrum Marawis mit den schwarzen Fahnen des IS, um sich schließlich in mehreren Gebäuden – darunter auch Moscheen – samt zwischenzeitlich als Geiseln genommenen Zivilisten zu verschanzen. Laut Augenzeugen, darunter auch der Sultan von Marawi, Abdul Hamidullah Atar, zählten die Kämpfer der Abu Sayyaf und Maute-Gruppe maximal 50 Mann.

Noch am selben Tag (23. Mai 2017) erklärte der Sprecher der AFP, Brigadegeneral Restituto Padilla, man habe keinerlei Kenntnis darüber, dass sich auf Mindanao oder landesweit IS-Kämpfer aufhielten. Gleichzeitig versicherte Generalstabschef Eduardo Año in mehreren Interviews besorgten Medienvertretern, dass in Marawi „alles unter Kontrolle“ sei und „kein Grund zur Besorgnis“ bestehe, zumal die Zahl der „Aufständischen“ nur „zirka 50 Mann“ betrage.

Doch nur wenige Stunden nach dieser Erklärung verhängte Präsident Duterte, der sich zu der Zeit auf einer Russlandreise befand, mit der Proklamation Nr. 216 unverzüglich das Kriegsrecht über den gesamten Süden der Philippinen und setzte die Habeas-Corpus-Akte außer Kraft, ein Erlass, der mehrfach verlängert wurde. So hochumstritten dieser Akt war, so widersprüchlich waren die Erklärungen seitens der Regierung. Um bei alledem noch Öl ins lodernde Feuer zu gießen, entschloss sich die Staatsführung, ab dem 3. Juni 2017 FA-50-Kampfflugzeuge einzusetzen und das Stadtzentrum systematisch unter Beschuss zu nehmen.

„Wir Maranaos (die dominante ethnolinguistische Bevölkerung in den beiden Provinzen Lanao del Sur und Lanao del Norte – RW) haben seit jeher unsere eigenen Formen von Konfliktbewältigungen“,

erklärte Abdul Hamidullah Atar in einem ersten Gespräch mit diesem Autor am 18. September 2018,

„doch uns wurde keine Chance gegeben, um sich in den Konflikt einzuschalten. Durch die ebenso rasche wie gänzlich unnötige Erklärung des Kriegsrechts waren Leute wie ich sowie Stadtobere von Marawi City kaltgestellt. Alles wurde nunmehr dem Militär überlassen. In extremen Fällen – bei Konflikten, die zu eskalieren drohen, oder Clanfehden (Rido) – greifen Maranaos auch schon mal zu den Waffen. Aber Bomben einzusetzen und damit sehenden Auges dermaßen große Zerstörungen und Verwüstungen in Kauf zu nehmen, war die demütigendste Erfahrung, die wir in unserem Leben jemals machen mussten – begangen von den eigenen Landsleuten!

Die fünfmonatige Belagerung der Islamic City of Marawi hat zur schweren Traumatisierung der Bewohner der Stadt und anderer nahegelegener Gemeinden geführt. Und gleichzeitig enorme Angst, Trauer, Furcht und Ratlosigkeit in den Herzen und Köpfen seiner Bürger geschürt. Weit über tausend Menschen starben, Zehntausende wurden über Nacht zu Flüchtlingen – obdachlos und ohne Lebensgrundlage. Der Krieg zerstörte das zentrale Geschäftsviertel der Stadt und hinterließ Sachschäden in Milliardenhöhe sowie verlorene wirtschaftliche Chancen.

Die Verhängung des Kriegsrechts über den gesamten Süden machte die gesamte Situation noch schlimmer und komplizierter. Tatsächlich wurde seitens der Sicherheitskräfte exzessive Gewalt angewendet, um die militante Gruppe zu eliminieren. Auf Kosten der Besitztümer einfacher Menschen: nicht weniger als 8.000 Häuser, 32 Moscheen, 21 Krankenhäuser und Privatschulen sowie Dutzende von arabischen und Koranschulen und andere öffentliche und private Einrichtungen wurden vollständig zerstört.“ [*]

Fluchtbewegungen & Wiederaufbau im Schneckentempo

Während der Belagerung flohen annähernd 360.000 Menschen aus Marawi und den benachbarten Gemeinden. Als Präsident Duterte am 17. Oktober 2017 offiziell das Ende der Kampfhandlungen verkündete, waren über eintausend Tote zu beklagen – 163 Regierungssoldaten, 47 Zivilisten sowie 847 „Aufständische“ samt Sympathisanten. Zu den Toten gehörte neben den Maute-Brüdern auch Isnilon Hapilon, deren Leichen am 16. Oktober gefunden wurden.

„Es scheint, dass die Regierung gänzlich ungeeignete Maßnahmen verfolgt“,

klagt noch heute der Sultan von Marawi mit verbittertem Unterton,

„um den Wiederaufbau zu beschleunigen und die Situation der Geflüchteten entscheidend zu verbessern. Der verzögerte Wiederaufbau wird militanten Gruppen einen Nährboden bieten; sie können junge Menschen rekrutieren, die unter der Belagerung gelitten haben. Dies wird in Zukunft zu einem veritablen Problem werden. Darüber hinaus sind die finanziellen Hilfen aus der Staatskasse und aus dem Ausland bei den meisten Menschen überhaupt nicht angekommen – von mangelnder Transparenz und Rechenschaftspflicht über deren Verbleib ganz zu schweigen. Eine umfassende Untersuchung dessen, was genau bei der Belagerung von Marawi geschah, wurde von der Regierung nie angestrengt und somit das legitime Recht der Opfer auf Zugang zu umfassenden Informationen und lückenlose Aufklärung hintertrieben.“

Nach der Belagerung wurde qua Präsidialverfügung die Task Force Bangon Marawi gegründet und mit dem Regierungsauftrag betraut, einen Wiederaufbau-, Gesundungs- und Entwicklungsplan zu erstellen. Doch bis dato hat die Regierung ihr Versprechen, die am stärksten betroffenen Gebiete in Marawi wiederaufzubauen, nicht erfüllt. Darüber hinaus wollen die Gerüchte nicht verstummen, die AFP hätten ein vitales Interesse daran, in Stadtnähe oder sogar in der Innenstadt auf Dauer Militärcamps zu errichten. Würde das tatsächlich in die Realität umgesetzt, verfügten die AFP über ein bedeutsames logistisches Zentrum im Herzen Mindanaos, um von dort aus den „Kampf gegen den Terror(ismus)“ zu dirigieren.

Ramponiertes Präsidentenimage

Der Post-Marawi-Konflikt hinterließ nicht nur immense physische und materielle Schäden, er hat sich mehr noch tief in die Seele und Gefühlswelt der Menschen hineingebohrt. Die Regierung mag den eigentlichen Kampf, nicht aber die Herzen und Hirne der vom Konflikt Betroffenen gewonnen haben. Vor allem hat der Präsident selbst, der in Personalunion Oberkommandierender der AFP ist, einen immensen Imageschaden erlitten.

Zwar ließ er sich während der fünfmonatigen Belagerung Marawis mehrmals in Kampfuniform bei seinen Soldaten blicken. Doch seine abfällige Bemerkung, die Stadtbewohner seien selbst schuld am Unheil, weil sie „Terroristen“ in ihrer Mitte geduldet hätten, brachte bei den meisten Maranaos das Blut in Wallung.

Die vollständige Wiedereingliederung der Geflüchteten in Marawi ist eine kollektive Aufgabe, die sämtliche Interessengruppen von der Planung bis zur Realisierung des Wiederaufbaus der Stadt einbezieht. Solche Position vertrat der Sultan von Marawi mit gleichgesinnten Mitstreitern von Anfang an.

„Wollen die Behörden erfolgreich sein“,

so der Sultan von Marawi,

„müssen sie unbedingt auf die Stimmen der Geflohenen hören. Nichts geht letztlich ohne sie. Ein Regierungsplan, der kein ›Gefühl der Zugehörigkeit‹ aufweist, wird scheitern. Wie es ein Philosoph einst formulierte: ›Wenn du schnell gehen willst, geh’ alleine. Willst du weit gehen, dann geh‘ mit anderen zusammen‹. Daher müssen die Menschen befähigt werden, sich vollumfänglich an der Rehabilitation Marawis zu beteiligen, um eine offene und partizipative Regierungsführung, einen integrativen Prozess, einen zuvörderst auf die Bedürfnisse der Geflüchteten ausgerichteten, auf den Menschenrechten basierenden und kulturell sensiblen Wiederaufbau zu gewährleisten.“

Geostrategische und außenpolitische Kalküle

Die Zerstörung der „Heiligen Stadt Marawi“ bedeutete auch eine radikale Kehrtwende in der Außenpolitik des philippinischen Präsidenten. Hatte Duterte in seinem Wahlkampf im Frühjahr 2016 zur Einlullung der linken Kräfte im Lande noch gelobt, als Gegengewicht zu den USA als einstiger Kolonialmacht (1898–1946) ein Bündnis Manila-Peking-Moskau zu schmieden, so hat ihn letztlich doch seine natürliche Nähe zum seelenverwandten Donald Trump in die Arme der USA getrieben, die das Land weiter als regionalen Umschlagplatz nutzen wollen.

Denn mit dem im Herbst 2017 ausgearbeiteten, jedoch erst Anfang 2018 publik gewordenen Plan „Operation Pacific Eagle-Philippines“ (OPE-P) verfolgt Washington das Ziel, Duterte bei der Unterdrückung der Opposition in Inneren zu unterstützen und dafür im Gegenzug die Philippinen auf unbestimmte Zeit als Basis und Sprungbrett für eventuelle Militäraktionen gegen die Volksrepublik China zu nutzen. Auf diese Weise soll die Sicherheit eines verbündeten Landes gewährleistet werden, das Ex-US-Präsident Trump wiederholt als „erstklassige Immobilie“ bezeichnet hatte.

Der Plan sieht den Einsatz von Spezialeinheiten der USA und den AFP zur Zerschlagung sogenannter extremistischer Gruppierungen in einer zeitlich unbegrenzten Mission vor. Konzipiert als Erweiterung des Kampfes gegen den „Islamischen Staat“ und den mit ihm in Südostasien liierten Kräften, hat OPE-P fortan zur Folge, dass US-geführte Spezialkommandos AFP-Truppen bei allen ihren militärischen Operationen begleiten, insbesondere auf Mindanao. Für diese Mission, der eine ähnliche Priorität zugemessen wird wie zuvor der – mittlerweile allerdings auf ganzer Linie gescheiterten – „Operation Enduring Freedom“ in Afghanistan, werden erhebliche Summen zur Verfügung gestellt.

Koordinierte „Aufstandsbekämpfung“

Die angebliche Anwesenheit IS-naher Elemente auf Mindanao und den Nachbarinseln wird von Manila und Washington gleichermaßen als Rechtfertigung dafür herangezogen, dass sich das US-Militär dort etabliert, um den Streitkräften und den Polizeieinheiten des Landes dabei zu helfen, „Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus“ im Land Einhalt zu gebieten. Im Verbund mit dem seit Anfang 2017 existierenden philippinischen Aufstandsbekämpfungsplan „Kapayapaan“ (Frieden) soll auch und gerade sichergestellt werden, dass die USA sukzessive eine direkte Rolle bei militärischen Operationen gegen den nunmehr 53 Jahre währenden Aufstand der Kommunistischen Partei der Philippinen (CPP) und ihrer Guerillaorganisation, der Neuen Volksarmee (NPA), übernehmen.

Nach dem Scheitern der Friedensgespräche zwischen Manila und dem linken Untergrundbündnis der Nationalen Demokratischen Front der Philippinen (NDFP) im Frühsommer 2017 in den Niederlanden hat Duterte die Mitglieder und Sympathisanten der CPP, NPA und NDFP für vogelfrei erklärt und diese Organisationen als „terroristisch“ gebrandmarkt, die er am liebsten noch während seiner offiziell bis Ende Juni 2022 währenden Amtszeit „ausgemerzt“ sähe.

Dutertes theatralisch inszenierter „Anti-Amerikanismus“ in den ersten Wochen seiner Amtszeit erwies sich schon deshalb als hohl, weil die Spitzen seiner Generalität eine urwüchsige Nähe zur alten Kolonialmacht USA besitzen und die meisten von ihnen an dortigen Militärakademien ihre Ausbildung und ihr Training genossen haben.

Auch hat Duterte entgegen früheren Erklärungen keinen der mit den USA bestehenden Militärverträge angetastet. Allein das am 28. April 2014 bilateral ausgehandelte und unterzeichnete „Abkommen über erweiterte Verteidigungskooperation“ (EDCA) gestattet US-Truppen auf Rotationsbasis und zeitlich unbefristet wie kostenlos, die Militäreinrichtungen der AFP zu nutzen. So sind und bleiben die Philippinen für die USA eine Art unsinkbarer Flugzeugträger im westpazifischen Raum, der sich gegen jede aufstrebende imperiale Macht richtet, die die USA wirtschaftlich und militärisch herausfordert.

Die wieder festgezurrten US-philippinischen Beziehungen wurden im November 2017 in recht lächerlicher Manier bekräftigt. Da trällerte Duterte in Manila für seinen geladenen Staatsgast Donald Trump ein philippinisches Liebeslied – mit dem ausdrücklichen Hinweis, dies geschehe „auf Anordnung des Obersten Befehlshabers der Vereinigten Staaten“. Das Lied enthielt solch innige Lyrik wie: „Du bist das Licht in meiner Welt, eine Hälfte dieses meines Herzens.“

Militarisierung und Faschisierung

Während sich Duterte anfangs „überrascht“ zeigte, dass während der Zerstörung Marawis überhaupt US-Soldaten vor Ort operierten, wurde zunehmend klarer, dass deren Einsatz sich nicht nur auf logistische und nachrichtendienstliche Unterstützung für die AFP beschränkte, sondern dass sie in direkte Kampfeinsätze einbezogen waren. Für Einheiten der AFP, die eher für eine Kriegführung in Dschungeln ausgebildet sind, war „die Schlacht um Marawi“ eine neue Herausforderung, da dort in urbanem Milieu ein erbitterter Häuserkampf geführt wurde.

Seitdem haben denn auch in Manila mehr denn je jene (Ex-)Militärs das Sagen, die einen stramm proamerikanischen Kurs favorisieren und jedweden Dialog mit der NDFP ablehnen. Mindestens 60 Ex-Offizieren aus Armee und Polizei hat der Präsident Posten in Bürokratie und Verwaltung sowie im diplomatischen Korps zugeschanzt – Tendenz steigend. Überdies wurden zum Jahresbeginn 2018 die Gehälter für Armee- und Polizeiangehörige verdoppelt.

So lieferten die „Ereignisse“ in Marawi City letztlich auch die Blaupause für die Eskalation in- wie ausländischer „Aufstandsbekämpfung“ in Gestalt der Pläne „OPE-P“ und „Kapayapaan“. Bereits in Marawi hatte sich gezeigt, dass die Präsenz von US-Spezialeinheiten, die Ausstattung der AFP mit modernster US-amerikanischer und israelischer Kriegstechnologie sowie der Einsatz von Drohnen maßgeblich dazu beitrugen, bewaffneten dschihadistischen Gruppen das Rückgrat zu brechen.

Anfang September 2018 reiste Duterte als erster Präsident der Philippinen eigens nach Israel, um der dortigen Regierung für deren Engagement „bei der Niederschlagung des Aufstands in Marawi“ zu danken. Neben „Galil“-Sturm- und „Galil Sniper“-Scharfschützengewehren bezog Manila aus Israel außerdem dort produzierte Präzisionsdrohnen vom Typ „Hermes 450“ und „Hermes 900“, die nach entsprechender Installierung und Unterweisung durch israelische Militärexperten vor Ort auch im Süden der Philippinen eingesetzt werden.

Bitteres Fazit

Vier Jahre nach der Belagerung und Zerstörung Marawis konstatiert Abdul Hamidullah Atar, Sultan von Marawi, bitter:

„Eine große Zahl von Binnenflüchtlingen ist noch immer unterversorgt. Über 25.000 Familien leben in Evakuierungszentren, bei Verwandten oder in einer Übergangsunterkunft, wo sie auf die Rückkehr nach Hause warten, um ihr Leben wieder halbwegs zu normalisieren. Ihre Häuser, Geschäfte und Lebensgrundlagen in den am stärksten betroffenen Gebieten der Stadt wurden durch die Belagerung und Plünderungen (auch seitens der AFP) völlig zerstört, die Überreste von Bomben und anderen nicht explodierten Sprengsätzen und Kampfmitteln bleiben eine akute Bedrohung.

Die Regierung hat den Bewohnern von ‚Ground Zero‘ bis heute das Recht auf Rückkehr und Zugang zu ihren Grundstücken verweigert! Von den 27.000 Familien mit mehr als 7.000 Häusern, die während des Konflikts teilweise oder vollständig beschädigt wurden, hat die Regierung nur mehr als hundert erlaubt, ihre Häuser wieder aufzubauen. Viel wurde versprochen und nur wenig eingehalten. Und das Wenige droht durch widerstreitende politische Interessen im bereits angelaufenen Wahlkampf zu zerrinnen. (Anfang Mai 2022 finden in den Philippinen die nächsten Präsidentschaftswahlen statt – RW)

Vier Jahre nach dem Ende der Kämpfe gewinnt der Plan der Regierung, die Stadt zu militarisieren, immer mehr an Konturen. Das Militär hat bereits die Enteignung von zehn Hektar Land innerhalb von Marawi City beantragt, um ein Militärlager zu errichten, abgesehen von eintausend Hektar Land außerhalb von Ground Zero. Normalerweise werden Militärlager weit entfernt von besiedeltem Gebiet errichtet. Nunmehr aber wird die anhaltend missliche Lage der Stadt genutzt, um zusätzliche Militärcamps zu errichten, die letztlich unser aller Sicherheit, Kultur und Zukunft unseres Volkes bedrohen.“ [**]

Titelbild: Cristina Menina/shutterstock.com

Dr. Rainer Werning, u.a. Ko-Herausgeber des im Frühjahr 2019 im Berliner regiospectra Verlag in 6. Auflage erschienenen Handbuch Philippinen, interviewte Abdul Hamidullah Atar, Sultan von Marawi, erstmalig Mitte September 2018 in Brüssel anlässlich der Tagung des Internationalen Tribunals der Völker über die Philippinen. Seitdem steht er regemäßig in Kontakt mit dem Sultan, der Werning dankenswerterweise erst vor wenigen Tagen Updates zur aktuellen Lage in und um Marawi City übermittelte.

Anmerkungen & Quellen


[«*] Abdul Hamidullah Atar, Sultan von Marawi, im Gespräch mit dem Autor am 18. September 2018 in Brüssel

[«**] E-Mail-Austausch zwischen Sultan Atar und dem Autor übers Wochenende vom 8. bis 11. Oktober 2021


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