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Titel: „Wir können einiges von Dänemark lernen“

Datum: 4. November 2021 um 9:53 Uhr
Rubrik: Interviews, Parteien und Verbände, Wahlen
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Erstmals seit 68 Jahren sitzt mit Stefan Seidler wieder ein Vertreter des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW) im Bundestag, Als Partei der dänischen Minderheit ist der SSW durch das Wahlgesetz von der Fünf-Prozent-Hürde bei Bundestagswahlen befreit. Der SSW muss nur so viele Stimmen erringen, wie bei der Sitzverteilung für die Zuteilung des letzten Mandates notwendig sind. Bei den Bundestagswahlen am 26. September wären das 40.000 Stimmen gewesen, der SSW, der nur in Schleswig-Holstein kandidierte, erhielt über 55.000 Stimmen. Doch was will diese „Dänen-Partei“ eigentlich erreichen und wofür steht sie? Rainer Balcerowiak sprach mit Stefan Seidler.

Herr Seidler, mit Ihnen gehört erstmals seit 68 Jahren wieder ein offizieller Vertreter der dänischen und friesischen Minderheit dem Deutschen Bundestag an. Warum hat Ihre Partei diese Möglichkeit in den vergangenen Legislaturperioden nicht genutzt?

Wir haben uns mit dieser Frage sehr lange intern auseinandergesetzt. Lange war es einfach so, dass wir wenig Chancen hatten, die für ein Mandat im Bundestag notwendigen Stimmen zu erreichen. Ohnehin haben wir uns immer als Regionalpartei verstanden und sind sowohl in vielen Kommunen als auch im Landtag von Schleswig-Holstein eine stabile politische Kraft und waren zwischen 2012 und 2017 auch an einer Landesregierung beteiligt (zusammen mit SPD und Grünen). In den letzten Jahren haben wir aber gemerkt, dass die Unterstützung für den SSW wächst, und das nicht nur im eigentlichen Siedlungsgebiet der dänischen Minderheit in Südschleswig, sondern im ganzen Bundesland. Das ist sozusagen die rechnerische Überlegung. Wir haben aber gerade als Regionalpartei auch immer wieder die Erfahrung gemacht, dass vieles, was unsere Region betrifft, über unsere Köpfe hinweg entschieden wird und Schleswig-Holstein in vielerlei Hinsicht benachteiligt wird. Daher haben wir uns diesmal entschieden, für den Bundestag zu kandidieren, um sowohl der dänischen und friesischen Minderheit als auch dem ganzen Bundesland eine vernehmbare Stimme auf Bundesebene zu geben.

Welche Rolle können Sie als einzelner, fraktionsloser Abgeordneter im Bundestag spielen? Ihre Arbeits- und Wirkungsmöglichkeiten als „Einzelkämpfer“ sind ja recht limitiert, etwa Rederecht, Ausschussarbeit und Zugriff auf Ressourcen betreffend. Würde es da nicht Sinn machen, sich formal einer nahestehenden Fraktion anzuschließen, bei Wahrung Ihrer politischen Unabhängigkeit?

Entsprechende Angebote haben wir von allen anderen demokratischen Parteien bekommen, mit denen wir uns ja auch auf Landes- und Kommunalebene immer im konstruktiven Dialog befinden. Aber dadurch, dass ich als Abgeordneter unabhängig bleibe, bleibt mir auch die notwendige Flexibilität. Vor allem kann ich ohne Rücksicht auf Fraktionsdisziplin und Debattenregie immer meine Stimme erheben und den Finger in die Wunden legen, wenn es um die für uns wichtigen Themen geht. Das betrifft zum einen die Minderheitenpolitik, aber auch infrastrukturelle und wirtschaftliche Probleme meines Bundeslandes. Natürlich gibt es Beschränkungen für Einzelabgeordnete, etwa bei der Redezeit. Aber wir sind es als Norddeutsche ja gewohnt, uns immer sehr kurz zu fassen. Und natürlich werde ich im Bundestag auch den regen Austausch und die Kooperation mit Kollegen aus den anderen demokratischen Parteien suchen.

Auf seinem Parteitag nach der Bundestagswahl hat der SSW seine Erwartungen und Forderungen an die künftige Bundesregierung formuliert. Die Rechte nationaler Minderheiten in Deutschland spielen dabei eine zentrale Rolle, dabei beziehen Sie sich sowohl auf Dänen und Friesen, aber auch auf Sorben in Brandenburg und Sachsen. Warum spielen andere, zahlenmäßig sehr bedeutende nationale Minderheiten, wie etwa türkischstämmige Bürger, keine Rolle bei diesen Überlegungen?

Das berührt die Frage, was man unter nationalen Minderheiten versteht. Das sind eigentlich nur die, die in den betreffenden Regionen schon lange ansässig waren. Südschleswig gehörte sehr lange Zeit zu Dänemark und die Friesen haben in der Küstenregion auch schon immer gelebt. Auch die Sorben können auf eine lange Siedlungsgeschichte in Mitteldeutschland zurückblicken. Sinti und Roma würde ich ebenfalls als nationale Minderheit sehen. Eine Volksgruppe, die schon lange in Deutschland und anderen Teilen Europas ansässig ist und eigentlich immer schweren Diskriminierungen ausgesetzt war. Den Status dieser vier nationalen Minderheiten und die damit verbundenen Rechte würden wir auch gerne im Grundgesetz verankert sehen. Das heißt natürlich nicht, dass wir uns nicht auch für die Belange anderer Minderheiten einsetzen wollen, wie auch die der türkischen Bürger, die hier zugewandert sind.

Kann bzw. sollte man Parteien überhaupt ethnisch definieren? Auch der SSW wird ja viele Mitglieder und Unterstützer haben, die nicht aus Dänemark stammen oder dänische bzw. friesische Eltern haben.

Die dänische Minderheit hat in dieser Region ja immer gelebt. Und so war es nach dem 2. Weltkrieg auch ein Anliegen der Siegermächte, dass deren Rechte sowohl in dem Bundesland als auch in der neu gegründeten Bundesrepublik garantiert werden. Später, 1955, gab es zu dem Komplex noch die Bonn-Kopenhagener Erklärungen als eine der Voraussetzungen dafür, dass Deutschland wieder eine eigene Armee aufbauen durfte.

Für uns ist diese Region einfach unsere Heimat. Und wenn es da schlecht läuft, betrifft das natürlich auch die Mehrheitsbevölkerung. Ich würde das aber nicht unbedingt ethnisch definieren. Natürlich haben wir eine besondere Verbindung zu Dänemark, zur dänischen Kultur und Lebensart. Und auf unseren Parteiversammlungen werden viele Reden auch auf Dänisch gehalten. Aber unsere Minderheit schottet sich ja nicht ab. Im Gegenteil: Zum Beispiel die dänischen Schulen und Kindergärten, die es hier gibt, erfreuen sich weit über unsere eigene Gemeinschaft hinaus großer Beliebtheit. Und die Zahl unserer Wähler und Unterstützer in anderen Bevölkerungsteilen hat ja auch stetig zugenommen.

Wir sind eine Regionalpartei, Direktkandidaten für den Landtag stellen wir nur in unseren Siedlungsgebieten auf, aber mit der Landesliste sind wir in ganz Schleswig-Holstein präsent. Und streiten dann auch für die gesamten Interessen dieses Bundeslandes, das in vielen Bereichen, etwa bei der Verkehrsinfrastruktur, den Strompreisen und der Krankenhausfinanzierung, deutlich benachteiligt wird. Und so sehen wir uns im Bundestag nicht nur als Stimme der dänischen und friesischen Minderheit, sondern für das gesamte Bundesland.

Allgemein fordert der SSW von der Bundesregierung, sich von pragmatischen und vernünftigen Lösungsvorschlägen aus Skandinavien inspirieren zu lassen, um gesellschaftliche Probleme zu lösen. Sowohl was den Wohlfahrtsstaat und die gesamte öffentliche Daseinsvorsorge betrifft, als auch den Umgang mit den Bürgern vor Ort. Wie sähe denn Ihr skandinavisch inspiriertes Modell für die Bundesrepublik konkret aus?

Da gibt es viele Beispiele. Wir fordern zum Beispiel eine Bürgerversicherung, was in Dänemark und den skandinavischen Ländern ja längst Realität ist. Oder auch eine armutsfeste Grundrente. Das betrifft ferner den Bildungsbereich, etwa die Kultur des lebenslangen Lernens. Und ganz akut lohnt sich der Blick nach Norden natürlich in Bezug auf die Digitalisierung, wo uns diese Länder um Lichtjahre voraus sind. Da gibt es den Breitbandanschluss tatsächlich an jeder Milchkanne im kleinsten Dorf. Die haben für den gesamten Bereich der Behörden und des Bildungswesens nur einige wenige Plattformen, die dann auch miteinander kompatibel sind, während in Deutschland fast jede Institution mit ihrer eigenen Plattform rumwerkeln muss. Und die haben dafür gesorgt, dass das Fachpersonal in Behörden und Schulen auch entsprechend ausgebildet ist.

Wir können auch immer wieder konstatieren, dass die skandinavischen Modelle des Wohlfahrtsstaats auf großes Interesse bei den anderen Parteien stoßen und in Debatten oft als positive Beispiele benannt werden. Und natürlich wollen wir auch die politische Kultur des Pragmatismus, die in Dänemark und Skandinavien stark verankert ist, hier voranbringen. Also lösungsorientiertes Herangehen an Probleme, über Partei- und Lagergrenzen hinweg.

Zurück zu Ihrer regionalen Verortung, allerdings auch mit Bundesbezug. Der phasenweise sehr unterschiedliche Umgang mit der Corona-Pandemie hat ja nicht nur, aber besonders in Grenzregionen wie der deutsch-dänischen zu einigen Irritationen, Verwerfungen und Konflikten geführt. Wo sehen Sie denn die wichtigsten Unterschiede zwischen der deutschen und der dänischen Corona-Politik und wie bewerten Sie den derzeitigen Stand?

Generell kann man sagen, dass in Dänemark das Vertrauen der Bürger in Behörden wesentlich größer ist als in Deutschland. Es gibt dort die allgegenwärtige Erfahrung, dass Behörden schneller und effektiver arbeiten, als das hierzulande oftmals der Fall ist. Es gibt das Grundgefühl, dass Behörden tatsächlich für die Bürger da sind, um Probleme zu lösen, und nicht, um neue zu finden, wie es hier oft wahrgenommen wird. Dänemark hat nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie schnell und vor allem transparent reagiert. So wurde etwa ein von der EU zugelassener Impfstoff, bei dem es gewisse Häufungen von schweren Nebenwirkungen gab, komplett vom Markt genommen – Maßnahmen, mit denen man Vertrauen schafft. Als es dann darum ging, erst eine Test- und dann eine Impf-Infrastruktur aufzubauen, ging das auch sehr schnell und vergleichsweise reibungslos. Da gab es kein Kompetenzgerangel, wer denn eigentlich zuständig sei. Das gilt auch für die Restriktionen, die es phasenweise in der Pandemie auch in Dänemark gab.

Inzwischen hat Dänemark fast alle Corona-Restriktionen wieder zurückgenommen. Konzerte, Restaurants, Kinos, Clubs, Versammlungen – eigentlich fast alles wieder wie vor der Pandemie. Fühlt man sich da als Bewohner einer Grenzregion nicht wie in einer anderen Welt, wenn man auf die andere Seite geht? Und vor allem, wenn man wieder zurückkommt.

Ja, so kann man das beschreiben. Wenn ich nach Dänemark zum Einkaufen fahre, muss ich mir immer selber auf die Finger hauen, damit ich nicht automatisch zur Maske greife, wenn ich ein Geschäft betrete. Das ganze Leben ist dort einfach wieder normal geworden. Das liegt vor allem daran, dass die Impfquote in Dänemark wesentlich höher ist, besonders bei den gefährdeten Gruppen und beim Gesundheits- und Pflegepersonal. Da sind die Auffrischungsimpfungen jetzt in vollem Gange. Und man guckt in Dänemark schon länger eben nicht wie in Deutschland in erster Linie auf die Inzidenzzahlen. Auch da steigt derzeit die Zahl der Neuinfektionen wieder an, vor allem bei Kindern, aber auch bei Geimpften. Doch die Krankheitsverläufe sind in der Regel bei diesen Gruppen nicht so dramatisch. Indikator ist die Belastung der Kliniken und besonders der Intensivstationen. Das behält man genau im Blick, sieht aber bislang keinen Anlass, wieder restriktiver zu agieren. Da können wir in Deutschland einiges von Dänemark lernen. Man könnte – zumindest regional – wesentlich flexibler und präziser mit der Pandemie umgehen.

Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg für Ihre Arbeit im Deutschen Bundestag.

Titelbild: Kira Kutscher / shutterstock.com


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