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Titel: Nachdenken über Afghanistan

Datum: 25. Dezember 2021 um 9:00 Uhr
Rubrik: Innen- und Gesellschaftspolitik, Wertedebatte
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Es muss darum gehen, dass dieses Land nicht in eine besondere Form des Vergessens gerät. Noch bis zum Sommer dieses Jahres schien es so, als sei Afghanistan bei den meisten Deutschen in Vergessenheit geraten. Dann wendete sich jäh das Blatt, als die Taliban Mitte August nach vorangegangenen verheerenden Niederlagen der staatlichen afghanischen Sicherheitskräfte (Polizei und Armee) ohne nennenswerten Widerstand siegreich in die Metropole Kabul einrückten. Jetzt geriet das Land am Hindukusch als Fiasko eines vom Westen verlorenen Krieges in den Blickpunkt politischen Versagens, nachdem bereits drei Jahrzehnte zuvor das Debakel der Roten Armee in dem Land mitverantwortlich für die wenig später einsetzende Implosion der Sowjetunion und von Afghanistan war. In Deutschland, so argumentiert Michael Daxner in diesem Beitrag, setzen wir das Versagen der Politik fort, hüllen das Vergessen in Schicksalsnebel und lassen Zapfenstreiche Lügen, „Missverständnisse“ und Inhumanität gegenüber Schutz- und Asylsuchenden und deren Familien mit großem Brimborium übertönen. Daxner, emeritierter Professor für Hochschuldidaktik und Soziologie und u.a. Präsident der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (1986-98), hat sich seit Jahren in unterschiedlichen Funktionen und Zusammenhängen intensiv mit Afghanistan befasst und setzt sich gegenwärtig mit Verve für afghanische Flüchtlinge ein. Für die NachDenkSeiten hat Rainer Werning seinen Text redaktionell bearbeitet und mit Zwischenüberschriften versehen.

Gern hätte man sich Seehofer, Maas und ihre Untergebenen einmal auf der Flucht gewünscht

Undankbarkeit gegenüber früheren afghanischen Ortskräften und vergleichbaren Unterstützern seitens bundesdeutscher Militärs, Soldaten und Mitarbeitern diverser entwicklungspolitischer Organisationen sowie Missachtung aller im Bundestag vorgetragenen moralischen und gesellschaftlichen Prinzipien ragen mittlerweile wie auf romantischen Bildnissen heraus und erheben sich als Gipfel über die Wolken. Zu alledem gesellt sich der Zynismus von Schreibtischtätern, die sich bei einfachen Verwaltungsakten wie der Visaerteilung auf nichts anderes als auf ihre selbst fixierte Enge berufen – man wünschte sich Seehofer, Maas und ihre Untergebenen mal auf der Flucht oder im Untergrund.

Wie soll man jetzt über Afghanistan nachdenken, was soll man dazu sagen, wem ist man Antworten schuldig? Das „man“ deutet auf Diskurse, in denen es schwierig ist, „ich“ zu sagen (Daxner und Neumann 2012, 20). Nachdem ich aus mehreren Gründen nicht mehr nach Afghanistan reisen konnte und wollte, habe ich mich seit 2017 immer stärker auf die Diaspora, die Geflüchteten und die Abgeschobenen, die unmenschliche Pragmatik der deutschen, der europäischen, der US-amerikanischen und der globalen Flüchtlingspolitik konzentriert.

Wenn ich im Folgenden die USA als Schutzmacht deutscher Interventionspolitik kritisiere, entlastet das in keiner Weise die am afghanischen Debakel mitbeteiligten Staaten – allen voran Russland, Pakistan, in weiterer Folge Iran, China und die Golfstaaten. Das wiederum entlastet weder die USA noch Deutschland; zu oft sind die Zusammenhänge zwischen den Akteuren nicht eindimensional oder kausal.

Seit mehr als 50 Jahren ist Afghanistan ein Proxy gewesen, ein Statthalter für größere politische Prozesse. Und wahrscheinlich schon viel länger haben die afghanischen Regierungen und Regime sich in unterschiedlicher Distanz zu ihrer Gesellschaft an der Fragilisierung ebendieser Gesellschaft beteiligt (vgl. die gegenwärtige Analyse der oberen Klassen bei Spanta 2018). Das ist für alle Vereinfachungen, aber auch eine Lagermentalität, unerträglich. Es geht hier nicht zuletzt gerade auch um unsere deutschen, unsere politischen, kulturellen und moralischen Probleme [1].

Langjährig Spielball globaler Akteure

Alle von der Staatsräson ausgehenden globalen und lokalen Politiken tappen in die Falle, die wesentlichen Strukturen aller Gesellschaften zu vernachlässigen oder zu verfehlen: Dazu gehören vor allem kulturelle, soziale und ökonomische Realitäten, mitsamt ihren Traditionen und Zukunftsvisionen. Ich bezeichne dies als Folge des „Glokalismus“ [2]. Andererseits kann man, wie das etliche NGOs machen, nicht einfach alle externen politischen Akte bottom-up gestalten, weil man damit die Distanz zur herrschenden Elite (top-down) und zur sogenannten Realpolitik gleichermaßen überdehnt. Der wesentliche Ansatz der Ablösung des Wir-Sie-Verhältnisses scheint mir zu sein, dass die Rückwirkungen der Politik des Anderen und mit dem jeweils Anderen auf die eigene Gesellschaft, u.a. Familie, Partei, Sozialisation, Kultur, untersucht werden. Und es gilt, die Politik und Handlungen der jeweiligen Regierungen und Staatsinstitutionen als intervenierende Variablen, nicht aber als Fokus und Kernpunkt der Probleme zu betrachten.

Afghanistan war nicht immer ein Objekt kontroverser Interventionen durch globale Akteure, die meiste Zeit im 19. und 20. Jahrhundert allerdings doch. Die Hoffnungen auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, die unter König Amanullah (1892-1960, regierte von 1919 bis 1929) keimten, wurden so wenig dauerhaft erfüllt, wie die Großmachtinteressen immer wieder auflebten, Afghanistan als wesentliches Instrument zu nutzen – oder in die arme Unbedeutsamkeit abzudrängen. Das hat auch auf die kulturellen und sozialen Strukturen gewirkt und sicherlich das komplizierte ethnische, religiöse und traditionelle Machtgeflecht innerhalb der Staatsgrenzen stark beeinflusst.

Aber es war die meiste Zeit über nicht so, dass externe Einflüsse sich auf das kulturelle Leben, überwiegend in den großen Städten, aber nicht ausschließlich, unmittelbar auswirkten – sichtbar je nach der autoritären Zwangslage oder temporärer liberaler oder kultur-gleichgültiger Inseln. Jedenfalls gab und gibt es dieses Leben, mehr oder weniger wahrnehmbar und mehr oder weniger im Austausch mit der afghanischen Diaspora, die ja nicht nur durch Flucht entstanden ist, sondern gleichermaßen durch gezielte Auswanderung und bisweilen durch Pendeln zwischen Afghanistan und dem Exilland. Betrachtet man die Migrationswellen der letzten 60 Jahre, so entsteht ein äußerst komplexes Muster, das m.E. von den Taliban nach 1995 empfindlich deformiert, aber auch von den intervenierenden Akteuren nach 2001 wenig bis gar nicht zur Kenntnis genommen wurde.

Für die folgenden Überlegungen ist es wichtig, dass die intervenierenden Westmächte, voran die USA und etliche NATO-Mitglieder, einen Krieg verloren haben und deshalb nicht beliebig mit ihren Ressourcen auftrumpfen können, die eine Verhandlungsbasis mit den Taliban schüfen [3]. Dass die EU mit den Taliban als Vorspann zur Wiederaufnahme von diplomatischen Vertretungen ohne Anerkennung des Regimes Gespräche einleitet (3.-4.12.2021), ist ein gesichtswahrender und pragmatisch vertretbarer, aber nicht souveräner Schritt. Dass die USA und viele EU-Staaten gegen die Menschenrechtsverletzungen der Taliban protestieren [4], wäre glaubwürdiger, wenn vor allem die USA die analogen Verletzungen der Menschenrechte durch ihre Interventionstruppen anerkannten, und davor die Sowjets die der ihren usw. Hier geraten wir in die komplizierte völkerrechtliche Situation postkolonialer Diskurse, die gesondert betrachtet werden muss. Dass zahlreiche „Ortskräfte“ auch von Deutschen noch im Juni und Juli hätten gerettet werden können, lastet als Menschenrechtsverletzung und Skandal auch an der deutschen Regierung.

Unsensibilität und Unwissen gegenüber einer intervenierten Gesellschaft sind häufige, im Fall von Afghanistan gravierende Defizite der politischen Kommunikation und Aktion. Ich habe seit 2003 lernen müssen, dass und wie sich dies auf die deutsche Politik (Bundeswehr, Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit) auswirkte und teilweise die Legitimation der Intervention verzerrte. [Das kann man am Beispiel der so genannten Fortschrittsberichte des Auswärtigen Amtes, die spät genug 2010 begannen [5], exemplarisch nachverfolgen. Doch es trifft von Anfang an zu – mit gewichtigen Ausnahmen, die meist persönlich waren und (allzu) wenig Einfluss auf die tatsächliche Politik hatten, soweit diese souverän war und nicht unter dem Diktat der USA und NATO stand. Die Ausnahmen belegen, dass es sich nicht um notwendige, sondern fahrlässige Ignoranz gehandelt hat.] Ich kann auch sarkastisch sagen, dass ähnlich wie bei Corona die Stimme der Wissenschaft in wichtigen Fällen marginalisiert wurde und wird.

Modernisierungsschübe machen ein Land nicht automatisch fortschrittlicher. Andererseits sind Hoffnungen, die durch Ereignisse oder Konfrontationen geweckt werden, ein entscheidender Treibsatz für Kulturentwicklung, Austausch und neue Horizonte. Das kann man gut für die Zeit nach den Mujaheeddin und vor allem nach den Taliban ab 2001 belegen. Persönlich habe ich das nach 2003 über 15 Jahre lang erfahren. Nun bin ich weder Künstler noch Kulturkritiker, aber als Wissenschaftler wenigstens mit einem Arm in der Kultur. Und wenn sich der andere an der Politik klammert, entsteht schon ein solides Spektrum, das sich über diesen Zeitraum entwickelte.

Kulturelle Dynamiken mit produktiven Rückwirkungseffekten

Das Musikfestival von Bamyan hatte mich überrascht. [6] Die komplizierte Verbindung von Befreiung aus dem scheinbar religiösen Zwang durch die Taliban, der Geschichte der Hazara, innenpolitischer Konkurrenz und Opposition bereits unter Karzai haben seltsame, keineswegs „exotische“ Ergebnisse kultureller Dynamik erbracht. Weniger überrascht war ich davon, wie die Kulturarbeit der Kulturinstitute, nicht nur Goethe, sofort produktive Ergebnisse, Austausch- und Rückwirkungseffekte bewirkten, die sich oft kontrovers der Klassenhierarchie ebenso entzogen wie einer traditionellen Kultur.

Und dann lernt man von der Geschichte des Films und des Kinos, von Freiheiten und Beschränkungen unter den Sowjets, von frühen Austausch- und Barrierenerzählungen, von vielen kulturellen Strukturen, die mit der meist ungewollten postkolonialen Politik der Intervenierenden – aller Intervenierenden [7] – zusammenhingen. Das hat auch mit den importierten und mit Hürden versehenen Veränderungen im Bildungs- und Studiensystem, mit der etwas freieren Luft von Kunstschaffenden und Medien gegen die religiöse Engführung zu tun. Überdies hat es zu tun mit der Einführung von Handys und der innerafghanischen Kommunikation durch eine erheblich ausgebaute, nicht zuletzt militärisch zugerichtete Infrastruktur (Straßenbau etc.).

Auswirkungen auf und Konsequenzen für die afghanische Diaspora

Wir sehen, wie sich bei multi-ethnischen Treffen afghanische Geflüchtete von anderen Gruppen absondern oder mit ihnen kommunizieren, wie sich die in Deutschland endlich sicher wähnenden Afghanen um den Nachzug ihrer Familien kümmern, wie die Asyl- und Visapolitik zum Teil unverständlich grausam, oft irrational und mitunter schlicht unverschämt ist und was man in Deutschland nach immerhin zwei Jahrzehnten aktiver Interventionsbeteiligung noch immer nicht wissen will.

Wie leben die Afghanen, die seit einigen Jahren hier sind, und die, die unter den Taliban gelebt haben und jetzt vor ihnen geflohen sind? Zunächst: Es bedarf besonderer Umstände, sozusagen Katalysatoren, dass wir das überhaupt wahrnehmen. Ich gebe ein konkretes Beispiel: Das Kunst- und Kreativquartier Potsdam, das Rechenzentrum RZ also, hat eine afghanische Serie veranstaltet:

10.11.2021: Robert Mensing – Bilder aus einem Sommer in Kabul 2012
bis 1.12.2021: Maria Hoseini-Habibi: Ausstellung inVisible
24.11.2021: Till Ansgar Baumhauser: Vortrag zur gegenwärtigen Teppichkunst
1.12.2021: „True Warriors“, Film von Ronja v. Wurmb-Seibel

Die Serie wird fortgesetzt und verknüpft mit Überlegungen zur Situation der Hochschulen und der Kunstwissenschaften unter den Taliban nach deren Machtübernahme. Die letzte Veranstaltung hat mich bestärkt, dass es gilt, auf die „richtigen“ Aspekte einer Situation zu schauen. Es geht vor allem nicht um die Ablösung einer unfähigen und korrupten Regierung durch ein diktatorisches Regime, sondern um die Windungen, Kämpfe, Hoffnungen und Frustrationen des Überbaus, um nicht zu sagen des Geistes über den Regimen. Nach der Vorführung von True Warriors [8] war ein Zeitzeuge gegenwärtig, Homan Wesa [9], der auch am Film mitgewirkt hatte und nunmehr endgültig in Deutschland lebt – nach einigen Hin- und Rückfahrten. Was mich aber besonders beeindruckte, war seine Interpretation der Rolle der Kultur, nicht bloß als Widerständigkeit, sondern als Bindemittel für die Gesellschaft – ohne ihre Dynamik würde sie zerfallen.

Humanitäre Ambiguität und westliche Verhandlungsmasse

Wir kommen hier nicht ohne die Theorie der Hysteresis aus. Die ist kompliziert, aber wenn wir sie verstanden haben, sagt sie auch etwas über uns aus. Zunächst kommen wir zu den Afghanen in der Diaspora, vor allem denen, die erst vor kurzem und nach großen Schwierigkeiten hier angekommen sind, ohne „angekommen“ zu sein.

Die einfachste, verkürzte Definition:

„Bourdieu (1987) bezeichnet mit dem Begriff des Hysteresis-Effekts die Stabilität des Habitus eines Menschen und meint damit eine Form von Trägheit, die den Habitus dauerhaft stabilisiert. Der Habitus ist ein System von implizit oder explizit durch Lernen erworbenen Dispositionen“ [10].

Die Frage, ob und wie jemand hier in Deutschland seinen/ihren afghanischen Habitus mitgebracht, modifiziert oder versteinert haben kann, ist etwas, das den meisten Integrationsdebatten abgeht. Einfacher gesagt: Ich bin, der ich war. Und der ich hier bin, bin ich nicht geworden. Klingt zu einfach, aber wenn man vor Ort, also hier, das Verhalten dieser Migranten sieht, dann weiß man auch ohne Bourdieu, was vor sich geht: Erinnerung ohne den Abschied von sich selbst im sozialen, kulturellen, oft auch wirtschaftlichen und politischen Kontext – „man“ hat „sich“ verloren.

Bevor ich zu den Deutschen komme, die das beobachten oder reflektieren, die daraus Handlungsdruck oder politische Stellungnahmen ableiten, zunächst zu den Afghanen. Denn wenn wir hier, in Deutschland, mit den Afghanen Kontakt haben, kommunizieren oder handeln, dann wissen wir bestenfalls um das Dass der Hysteresis, nicht unbedingt um das Wie.

Täglich erreichen uns (auch mich persönlich) Hilferufe aus Afghanistan. Zum einen verhungern die Menschen dort, bis zu 25 Prozent der Bevölkerung sind bedroht [11]. Der Komplex der Hysteresis wird aufgespalten in solche Information und direkte Kommunikation – z.B. mit der Familie, die noch „dort“ ist und die man heraus, hierher haben möchte – und in allgemeine Nachrichten, die das gleiche Schicksal unabhängig von persönlichen Bindungen übermitteln: So verteilt Pro Asyl Hilferufe der folgenden Art:

„The Taliban killed my husband and my father-in-law for working with the German army. Please save our children and especially my daughter.“

oder

„Ich war Journalistin in Kabul und bin wegen Morddrohungen nach Deutschland geflohen. Jetzt mache ich mir große Sorgen um meine Mutter und meine kleinen Geschwister.“ [12]

Hier entstehen zwei nicht deckungsgleiche Rückblicke auf die verlassene Heimat – die soziale und die politische Not – zu der sich noch als dritter Rückblick die im Land gefassten Zukunftsprognosen gesellen, deretwegen man schon vorher fliehen wollte. Dieses Zurückblicken hat gegenwärtig noch eine besondere Variante dort, wo nicht unmittelbar bedrohte Personen mit für das Regime wichtigen Qualifikationen offenbar an der Ausreise gehindert werden, selbst wenn sie ein Visum bekämen. Während andererseits bestimmte Künstler und Intellektuelle auch dann leichter das Land verlassen können – oder auch nicht – wenn sie nicht unmittelbar mit dem Tod bedroht werden [13]. Diese humanitäre Ambiguität gehört offensichtlich zur westlichen Verhandlungsmasse, die den Taliban Ausreise- und Hilfsmaßnahmen abhandeln wollen. Deshalb bin ich besonders zurückhaltend in der Bewertung von Rückblicken durch Menschen, die sich hier in Sicherheit befinden.

Bedeutsame Themen ausgeblendet

Nun zu den Deutschen und einer speziellen Übertragung bzw. Modifikation des Hysteresis-Problems. Es gibt zu wenige verlässliche Untersuchungen darüber, wieweit eine intensivere oder auch nur längere Aufenthaltsdauer in Afghanistan den Habitus verändert hat und ob und wie es Erscheinungen von Hysteresis gibt. In Einzelfällen, vor allem bei Solitären aus der NGO-Welt, habe ich das beobachtet, kann und will es aber nicht individuell verallgemeinern. Am besten ist das bei einer sozialen Gruppe möglich (nämlich Bundeswehrangehörigen), die seit 2002 in Afghanistan in unterschiedlichen Funktionen Dienst getan hat, deren Mitglieder also im strengen Sinn „Veteranen“ sind – selbst „Veteraninnen“ sind anzutreffen. Zu diesem Thema haben wir (ich und einige wenige andere) in den letzten Jahren geforscht. Ein Thema, das lange Zeit von der Bundeswehr und der Politik heruntergespielt oder nicht gesehen wurde, jetzt – im Nachhinein – freilich von großem Interesse ist (Daxner and Mann 2016, Daxner, Näser-Lather et al. 2018).

Unsere Vorarbeiten zum Thema wurden jedenfalls politisch und in der Friedensforschung kaum aufgegriffen. Wir haben eher einen veränderten Habitus bei den Einsatzrückkehrern festgestellt, als er beschworen wurde, etwa beim Zapfenstreich für die zu spät aktiv gewordenen Rettungseinheiten nach der Machtübernahme der Taliban [14]. Hier findet eine Verschiebung statt, von Veteranen zur aktiven Truppe, also gerade nicht vom intensiven langfristigen Erleben, sondern von der kurzfristig angespannten Situation. (Es geht mir hier nicht um die heftige Kontroverse über das fragwürdige Zeremoniell des Zapfenstreichs an sich, sondern um die mögliche Repräsentation eines durch Afghanistan veränderten Habitus). Die Habitus-Varianten, die wir 2016 vorläufig gefunden und später erweitert haben, wurden zwar bisweilen aufgegriffen, haben aber noch keinen festen empirischen und analytischen Untergrund.

Nun ist zusätzlich zu fragen, ob und wieweit Angehörige der Sicherheitskräfte, der Auslandsvertretungen, der Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen durch ihre Tätigkeit im Land sich so in ihrem Habitus verändert haben, dass ein Hysteresis-Effekt eintreten konnte bzw. ein solcher beobachtbar ist und erklärt werden kann. Es ist besonders schwierig darzustellen, wieweit dieser Effekt mit den Habitus-Veränderungen der hier bei uns lebenden Afghanen in Wechselwirkung tritt und was das gegebenenfalls für Folgen hat. Mir ist bewusst, dass das ein Forschungsprogramm ist, das wohl erst unter der neuen Regierung eine Chance hat, verwirklicht zu werden, da sich BMI, AA und BMVg bis dato beharrlich einem koordinierten Vorgehen verweigerten und den engen Zusammenhang von afghanischer Situation, dem Habitus der Rückkehrer und der hierher Migrierten und die Fehleranalyse der deutschen Politik missachteten.

Das ist eine schwierige und frustrierende Situation. Wenn ich bei dem Prinzip bleibe, mich über die Gesellschaft der jetzigen Situation zu nähern, muss ich weiterhin staatliches Handeln, z.B. die Verhandlungen der EU und Deutschlands mit den nicht-anerkannten Taliban, ausklammern; ich weiß schon, wie wichtig die sind und welche gesellschaftlichen Auswirkungen sie haben können. Aber ich bin mir auch sicher, dass sie am Habitus der unterdrückten, hungernden, notleidenden und zukunftslosen Afghanen kurzfristig nichts ändern werden. Und dass die in Deutschland lebenden Afghanen, ob sie nun schon in der Diaspora mental angekommen sind oder nicht, dies wissen – und deshalb sowohl ihre irreparable und nicht umkehrbare Rückbindung an eine verlorene Heimat als auch unsere deutsche Rückbindung an die von uns im Stich gelassenen Menschen dort (nicht nur Ortskräfte) für längere Zeit das Verhältnis zu und mit den Afghanen prägen wird. Es gibt hier einen vielfach verknoteten Wechselbezug zwischen beiden Gruppen, den die Politik, also der Staat in diesem Fall, nicht kennenlernen will bzw. fast gewaltsam verdrängt – weil sie sonst heftiger Kritik und eigenen Fehlern ein breites Glacis böte. Bleibt dieser Diskurs aber im kulturellen Raum und in der sozialen Integrationsdynamik eingehegt, erfahren beide Seiten zwar die Wirkungen von Habitus und Hysteresis – was befriedigend und aufklärend, oft aber auch schmerzhaft ist – doch ihre Übersetzung ins Politische wird schwierig.

„Nur wer vergessen will, darf sich erinnern“

Das ist auch schwierig für mich, vor allem wieder auf den Boden einer Realität zu kommen, die von Politik wie Integration ungefähr gleich weit entfernt ist. Die Muster des Zusammenlebens der afghanischen Geflüchteten lassen sich nicht bruchlos fortsetzen oder aus bloßem guten Willen verändern – anpassen oder desintegriert zu bleiben. Auch die staatlichen Maßnahmen – karitativ und/oder restriktiv – sind meist unverständlich – beileibe nicht nur für die Betroffenen. Und die Gewöhnung an diesen Zustand führt zugleich zu dem, was ich seit Monaten befürchtet und dann unterbrochen hatte – dass Afghanistan in eine besondere Form des Vergessens gerät.

Dagegen hilft nur Praxis. Meinetwegen, mit Bourdieu, „theoretische Praxis“ (Bourdieu 1994) und mit Hannah Arendt „Handeln“ (Arendt 2002). Ich will das nur so weit ausführen, da weder Empathie oder eine ethische Norm unsere Praxis allein bestimmen können noch unser Handeln allein aus der Motivation oder einem „korrekten“ Diskurs resultieren soll. Um etwas über das Leben der Afghanen bei uns zu wissen, damit wir mit ihnen kommunizieren können und etwas „für sie“ und „mit ihnen“ tun können, müssen wir sehr viel mehr über uns im Kontext wissen (nicht nur fühlen oder ahnen, Intuition hat ihre Grenzen). Das gilt übrigens auch für diese Afghanen, die ohne ihre Flucht- und Asylgeschichten ja nicht hier wären.

Auf diese Weise treten beide Gesellschäften, beide Länder in einen konkreten politik- und kulturfähigen Zusammenhang. Soweit das Programm.

Für viele der hier lebenden Afghanen gilt auch und gerade der Satz meines Freundes Aron Bodenheimer: „Nur wer vergessen will, darf sich erinnern“. Dieser Satz gilt allgemein und je spezifisch. Hier geht es nicht nur um das Gedächtnis der Fluchtgeschichte und der Migrationsursachen und -gründe, sondern auch um das, was geschehen ist, damit diese Gründe zum Tragen kamen. Erst wenn wir die Rolle der Deutschen, der USA, der Intervenierenden, aber auch der afghanischen Kriegsherren, Regierungen, Mullahs etc. ausleuchten, wird klar, was vergessen werden kann. Aus diesem Wissen kann Integration entstehen, die sozusagen die modische Identitätsideologie überwindet. Das ist notwendig, um zu verstehen, dass ja die Geflüchteten ebenso wenig ein „richtiges“ Leben verlassen oder auch mit sich gebracht haben, wie wir es leben.

Nachsatz Mitte Dezember: Ich kann die Maßnahmen der neuen Bundesregierung, von denen einige nur indirekt bekannt werden, noch nicht einschätzen, deshalb verliere ich noch kein wertendes Wort dazu. Man darf auf Verbesserungen hoffen, aber noch ist keine Zuversicht empirisch angezeigt. (Ernst Bloch. Hoffnung ist nicht Zuversicht).

Titelbild: alexreynolds/shutterstock.com


Literatur:

Arendt, H. (2002). Vita activa. München, Piper.
Beck, U. (1997): Was ist Glokalisierung? Frankfurt am Main, Suhrkamp (Referenzen zu Z. Bauman u.a.)
Bourdieu, P. (1994). Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main, Suhrkamp.
Bundesregierung (2010). Fortschrittsbericht Afghanistan. Berlin.
Bundesregierung (2014). Fortschrittsbericht Afghanistan 2014. A. P. AA. Berlin, Bundesregierung.
Daxner, M. (2017): A Society of Intervention – An Essay on Conflicts in Afghanistan and other Military Interventions. Oldenburg, BIS.
Daxner, M. and R. C. Mann (2016). “Veteranen – eine neue soziale Gruppe.” Österreichische Militärische Zeitschrift 54 (5/2016): 624-633.
Daxner, M., M. Näser-Lather and S.-L. Nicola, Eds. (2018). Conflict Veterans. Newcastle, Cambridge Scholars Publishing.
Daxner, M. / H. Neumann (Hg. – 2012). Heimatdiskurs. Wie die Auslandseinsätze der Bundeswehr Deutschland verändern. Edition Politik. Bielefeld: transcript Verlag.
Keath, L. (2021): Aid official says Afghanistan’s crises ‘progressively getting worse’. Associated Press vom 14.10.2021
Münch, P. (2015): Resolute Support Light. Kabul, AAN.
Spanta, F. D. (2018). Neopatrimoniale Netzwerke in Afghanistan: Kulturelle und politische Ordnungsvorstellungen der afghanischen Eliten PhD, Free University (Dissertation)


Fußnoten:

[«1] Zur Vorbereitung empfehle ich Daxner, M. (2017): A Society of Intervention – An Essay on Conflicts in Afghanistan and other Military Interventions Oldenburg, BIS sowie derselbe: „Erst geschätzt, dann die kalte Schulter gezeigt“, NachDenkSeiten am 17.11.2021 https://www.nachdenkseiten.de/?p=78061. Unumgänglich ist überdies die regelmäßige Lektüre von Afghanistan Analysts Network (AAN) und Thomas Ruttigs zugehörigem Blog Afghanistan Zhaghdablai.

[«2] Der Begriff ist wichtiger als er scheint, zumal auch globale Politiken die Bodenhaftung immer erst lokal erfahren: https://de.wikipedia.org/wiki/Glokalisierung (1.12.2021); ich führe den Begriff auf Zygmunt Bauman zurück.

[«3] Vgl. Tuazon, Bobby: AFGHANISTAN [OPINION] War-torn Afghanistan’s future in the hands of Taliban. https://www.cenpeg.org/2021/09-SEP-2021/War-torn_Afghanistans_future_in_the_hands_of_the_Taliban.html (5.12.2021). Ich habe diesen Text ausgewählt, gerade weil er nicht aus einer gebräuchlichen lokalen Medienquelle stammt. Analoge Texte gibt es zuhauf.

[«4] Vgl. https://www.dw.com/de/sorge-%C3%BCber-exekutionen-in-afghanistan/a-60023941 (5.12.2021)

[«5] Bundesregierung (2010). Fortschrittsbericht Afghanistan. Berlin. Bis hin zu Bundesregierung (2014): Fortschrittsbericht Afghanistan 2014. A. P. AA. Berlin, Bundesregierung. Danach geht es eher um die Folgen und das Auffangen des Abzugs der ISAF und die Gestaltung von „Resolute Support“. Münch, P. (2015): Resolute Support Light. Kabul, AAN.

[«6] Aus vielen Quellen: 2014: https://slate.com/news-and-politics/2014/09/bamiyan-can-a-small-afghan-mountain-town-best-known-for-its-blown-up-buddhas-reinvent-itself-as-a-tourist-destination.html; 2018: http://www.aopnews.com/travel/bamiyan-hosts-famous-music-festival/ (alle 1.12.2021); noch 2019 wurde darüber ausführlich berichtet, nicht nur im Westen: http://www.xinhuanet.com/english/2019-08/25/c_138337045.htm (1.12.2021).

[«7] Das betone ich, denn es waren ja nicht die Amerikaner oder der „Westen“ allein, es waren ja zuvor die Sowjets und vor ihnen noch die Briten, immer wieder und heute erneut die Türken oder Chinesen. Gewiss: nach 2001 war der westliche Eintrag erheblich, nur dass Afghanistan eben nicht der Osten war und ist, weshalb auch Russland eher zum Westen zählt.

[«8] https://www.truewarriors.de/ (2.12.2021).

[«9] https://www.hfs-berlin.de/hochschule/person/homan-wesa/ (2.12.2021).

[«10] https://lexikon.stangl.eu/20576/hysteresis-effekt (2.12.2021). Hier ist es angebracht, darauf hinzuweisen, wie sehr ich mich seit Jahren der Theorie von Bourdieu, vor allem in Bezug des Habitus unterdrückter Ethnien, verbunden fühle (bei ihm war es vor allem Algerien, aber der Vergleich hält). Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede, Frankfurt 1987 (Suhrkamp): original 1979.

[«11] Vgl. Keath, L. (2021) “Aid official says Afghanistan’s crises ‘progressively getting worse’.” AP. Keath hat mehr wissenswerte Information über AP geteilt. Dieses ist nur ein Beispiel – typisch für die Selektivität der Verarbeitung von Informationen und die Rechtfertigung dafür, dass man dieses und jenes, aber nicht alles wissen kann.

[«12] Information und Spendenaufruf von Pro Asyl, Dezember 2021 (Förderverein), offenbar gezielt für bereits bekannte SpenderInnen. Hier ergibt sich eine wichtige Frage, die ich noch behandle: wieweit werden diese Informationen mit afghanischen Menschen im Umfeld der Spender geteilt? Über die Situation in Afghanistan erfährt man neben AAN und anderen Medien auch kurzzeitig retro viel von den in beiden Ländern aktiven Hilfsvereinen, wie z.B. dem Afghanischen Frauenverein e.V.: Afghanistan: Ihre Hilfe wirkt (Hamburg 2021).

[«13] Vgl. Esther Slevogt: Ein Schauspieler aus Afghanistan über die aktuelle Situation in seinem Land: Unvorstellbare Gefahr https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=19866:interview-ein-schauspieler-aus-afghanistan-ueber-die-aktuelle-situation-in-seinem-land&catid=53:portraet-a-profil&Itemid=83 (4.12.2021). Ich habe dies ausgewählt, weil die Kommentare bereits überleiten zum Problem der Verarbeitung der Situation in Deutschland.

[«14] https://www.bundestag.de/parlament/wehrbeauftragter/20211013-zapfenstreich-865618 (4.12.2021)


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