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Titel: Es begann mit dem Zerfall der Sowjetunion

Datum: 14. Januar 2022 um 9:00 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Länderberichte, Lobbyismus und politische Korruption
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Das „autoritäre Regime“ in Kasachstan war dem Westen so lange genehm, wie es handzahm war. Gerade aus linksliberaler Sicht erschienen die sozialen Proteste dort legitim. Als diese zu bewaffneten Kämpfen eskalierten, rief Präsident Tokajew das Militärbündnis OVKS zu Hilfe. Dafür steht er nun vielfach in der Kritik. Dabei hat gerade der Westen im Siegesrausch des Kalten Krieges jene Entwicklungen forciert, die jetzt beklagt werden. Von Irmtraud Gutschke.

„Ich rufe zu einem Ende der Gewalt und zur Zurückhaltung auf“ – geradezu lächerlich wirkte der Appell von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angesichts der gefährlichen bewaffneten Auseinandersetzungen in Kasachstan. Realitätsblind auf eine für den Westen bezeichnende Weise, weil vornehmlich gegen die Macht im Land gerichtet. Ein Aufruf, den Unruhen ruhig zuzusehen, den Versuch eines Staatsstreiches hinzunehmen? Dass da ein „autoritäres Regime“ in der Kritik stand, hiesige Medienberichte versäumten kaum, darauf hinzuweisen. Dabei könnten die Proteste in der Ölarbeiterstadt Schangaösen gegen die Verdoppelung der Treibstoffpreise auch eine Warnung an die Regierenden hierzulande sein, wenn sich ein Teil der Bevölkerung die Verteuerung von Energie, Mieten und sonstigen Waren nicht mehr leisten kann.

Soziale Unruhen, bewaffnete Kämpfe

Dass soziale Unruhen sich irgendwann gegen die Macht im Lande richten, liegt in ihrer Natur. Dass sie auch dann eskalieren, wenn „von oben“ beschwichtigt wird – Präsident Tokajew ließ ja umgehend die Preise für Treibstoff und Grundnahrungsmittel einfrieren – hat sich auch anderswo in solchen Konfliktlagen gezeigt. Wie Ulrich Heyden in zwei Artikeln auf den NachDenkSeiten (hier und hier ) detailliert ausführte, haben die bewaffneten Kämpfe auf das ganze Land übergegriffen und bedrohten seine Infrastruktur. Dass namhafte russische Intellektuelle, unter ihnen die von mir verehrte Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, sich gegen eine russische Einmischung wandten, entspricht verbreiteten linksliberalen Denkmustern. Aus abgehobener Position im Namen hoher Werte macht man es sich leicht, die konkreten Konfliktfelder zu übersehen, die sich zwischen schöner Utopie und hässlicher Realität auftun. Im Sinne von Wertepolitik wird mitunter Schlimmes in Kauf genommen. Und auch wer hierzulande von radikalen Aktionen träumt, möchte in Kasachstan wohl nicht dabei gewesen sein.

Ursache der Proteste in Kasachstan sei der Kapitalismus. Damit hat der Schriftsteller Sachar Prilepin, der zur Führung der Partei Gerechtes Russland gehört, wohl recht. Wobei dieser „Kapitalismus“ kasachischer Prägung feudale Strukturen in sich aufgenommen hat. Und nicht nur das: Was wir als „Vetternwirtschaft“ verurteilen, entspricht in Zentralasien der Tradition einer Stammes- und Clan-Struktur, die geradezu verpflichtet, die eigenen Leute zu unterstützen. Auch wenn sie mit einem Aufbegehren der Ärmsten beginnen, werden solche Aufstände auch immer wieder ausgenutzt durch konkurrierende Teile der Oberschicht, denen an einer Neuverteilung von politischem Einfluss und Reichtum gelegen ist. Sehr deutlich wurde das mehrmals schon in Kirgistan, wo hinter dem Anschein eines westlichen parlamentarischen Demokratiemodells solcherart Machtkämpfe immer wieder aufflammten. Per Referendum wurde am 5. Mai 2021 die Verfassung geändert. Die Macht des Präsidenten wurde gestärkt gegenüber der des Parlaments. Andere zentralasiatische Regierungschefs wappneten sich von vornherein mit diktatorischen Mitteln gegen jede Umsturzambition.

Kasachstan galt bislang als relativ stabil. Mit einer Größe von 2.724.900 km² das reichste Land Zentralasiens, konnte es vor allem von Bodenschätzen wie Erdöl, Gas, Steinkohle, Uran, Zinn, Blei, Zink, Bauxit, Eisen, Gold, Silber, Phosphor, Mangan, Kupfer profitieren. Dass dies vornehmlich wenigen zugutekam, liegt in der Logik einer geschichtlichen Entwicklung, die schon vor 30 Jahren begann.

Zerfall der Sowjetunion als geopolitische Katastrophe

Michail Gorbatschow streckte die Waffen, weil die UdSSR dem Wettrüsten im Kalten Krieg nicht mehr gewachsen war und aus Gründen ihrer inneren Struktur in einer ökonomischen Krise steckte. Er träumte von einer friedlichen Welt, von einer stabilen internationalen Friedensordnung unter Einschluss der einstigen sowjetischen Republiken, die auf freiwilliger Basis einen neuen Unionsvertrag schließen sollten. Mit dem Austritt der baltischen Staaten aus der Union 1990 begann es, mit Jelzins Sieg im Augustputsch 1991 setzte es sich fort und mit dem Vertrag von Belowesch am 8. Dezember 1991 war das Ende der UdSSR beschlossen, das mit dem Einholen der Staatsflagge am 31.12. nur noch symbolisch besiegelt wurde. Als Wladimir Putin im April 2005 in seiner Rede zur Lage der Nation den Zerfall der Sowjetunion „die größte geopolitische Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts nannte, ist das im Westen vielfach als Aussage eines Nostalgikers belächelt worden. Aus einer verbreiteten naiven Sicht war nun der Weg doch frei zu Selbstbestimmung der Völker, demokratischen Verhältnissen und freier Marktwirtschaft.

In Kasachstan übernahm am 16. Dezember 1991 Nursultan Nasarbajew die Macht. Ein Mann aus der sowjetischen Nomenklatura: Von 1984 bis 1989 war er Vorsitzender des Ministerrats der Kasachischen SSR und von 1989 bis 1991 Generalsekretär der Kommunistischen Partei dort gewesen. Am 24. April 1990 wurde er durch den Obersten Sowjet der Kasachischen SSR zum Präsidenten der Sowjetrepublik gewählt. Übergangslos behielt er das Amt auch nach der Unabhängigkeit. Über die Jahre ließ er sich immer wieder darin bestätigen, ehe er am 19. März 2019 seinen Rücktritt ankündigte und die Geschäfte am Kassym Schomart Tokajew übergab. Als Vorsitzender des Sicherheitsrates Kasachstans zog er im Hintergrund indes weiterhin die Fäden.

Dass er aus diesem Amt nach Beginn der Unruhen von Tokajew entlassen worden sei, hieß es. Der 81-Jährige widersprach: Freiwillig habe er den Posten geräumt und sei auch nicht geflohen. Schließlich ist in der Verfassung seit 2010 seine Position als „Führer der Nation“ verankert. Ihm und seinen nächsten Angehörigen ist lebenslange Immunität vor Strafverfolgung gewährt. Laut Wikipedia wurde das Vermögen des Nasarbajew-Clans bereits 2010 auf sieben Milliarden US-Dollar geschätzt. Dass trotz seiner konstant hohen Wahlergebnisse über die Jahre Unmut in der Bevölkerung gärte, ist nur allzu verständlich. Und in der Führungsriege gab es Neider genug.

Zwei Namen aus seinem Umfeld tauchen im Zusammenhang mit den Ereignissen in Kasachstan auf. Muchtar Abljasow, der mit seiner BTA Bank von erheblichen Kreditmitteln westlicher Großbanken profitierte und 2009 auf Grund des Vorwurfs von Veruntreuung und der organisierten Kriminalität ins Ausland floh, und Karim Masimow, der jetzt von Präsident Tokajew als Vorsitzender des Inlandsgeheimdienstes (KNB) entlassen wurde und dem ein Prozess wegen Hochverrats droht. Abljasow hat sich vom Ausland aus dazu bekannt, die Unruhen organisiert zu haben. Masimow wird beschuldigt, sie zumindest ermöglicht zu haben. Dabei war Letzterer unter Nasarbajew jahrelang Premierminister gewesen und hatte beim Weltwirtschaftsforum 2016 in Davos verstärkt um ausländische Investoren geworben.

Ist die Macht der Oligarchie zu brechen?

Das war in Nasarbajews Sinne. Indem er ausländische Investoren von Steuern befreite, brachte er vor allem die profitable Öl- und Gasindustrie zu großen Teilen in fremde Hand. Dass er und seine Vertrauten selber von derlei Geschäften profitierten, ist anzunehmen. Persönliche Bereicherungssucht und Korruption hatten in den sowjetischen Machtstrukturen zumindest eine Bremse; schließlich hatte der Kreml immer auch seine Getreuen vor Ort. Mit der Unabhängigkeit bildeten sich neue, oft umkämpfte Herrschaftsverhältnisse. Es war ein Grundmuster der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation im postsowjetischen Raum, die schon in der Amtszeit Gorbatschows vorbereitet wurde. Indem dieser den ökonomischen Strukturen mehr Eigenständigkeit zugestand, wuchsen persönliche Begehrlichkeiten. Eine einflussreiche Schicht durfte den Zusammenbruch der UdSSR mit persönlichem Nutzen verbinden. Niemand hinderte sie, sich das einstige Volkseigentum unter den Nagel zu reißen oder zu verscherbeln. War nicht Privatisierung angesagt? So wurde die Oligarchie geboren, die fortan auch politische Macht gewann.

Was Russland betrifft, hat Jelzin mit seiner Politik der Privatisierung nach westlichem Muster das Land an den Rand des ökonomischen Ruins geführt. Putin hat das Erbe der Oligarchie von Jelzin übernommen und begonnen, damit aufzuräumen, was nur unter straffer staatlicher Leitung möglich ist. Werden die rund 10.000 Verhaftungen in Kasachstan – Tag für Tag scheinen es mehr zu werden – die Lage im Land beruhigen? Oder dreht sich die Spirale der Gewalt nur weiter?

Interessanterweise hat Präsident Tokajew jetzt angekündigt, nicht nur die Großindustrie, sondern auch einzelne vermögende Personen zur Finanzierung eines Sozialfonds zu verpflichten. Womit er gewiss auch den Nasarbajew-Clan meint. Dass es dafür eines erheblichen staatlichen Drucks bedarf – mit demokratischen Mitteln ist eine solche Reichensteuer, wie man hierzulande sieht, schwierig durchzusetzen – liegt auf der Hand. Sollte dieses Vorhaben nicht erst jetzt entstanden sein, hätten die Pläne zu einer weitreichenden Umverteilung (wobei Kasachstan noch weit davon entfernt sein dürfte, Chinas Beispiel zu folgen) ein ausreichender Grund für einen Umsturz gewesen sein können.

Auch das ausländische Kapital musste gewarnt sein und könnte Interesse an einem Staatsstreich gegen Tokajew gehabt haben. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich mögliche Ergebnisse vorzustellen, gibt es doch weltweite Erfahrungen, was unter dem Motto „Gott hat einen Plan, die USA setzen ihn unter seiner Aufsicht um“ in der Welt angerichtet worden ist. Nach dem Abzug in Afghanistan wäre eine US-Militärbasis in Kasachstan doch für Washington ein Traum gewesen, zumal Usbekistan in dieser Hinsicht zögerte.

Russische Sicherheitsinteressen

Die Grenze zwischen Kasachstan und Russland ist 7000 Kilometer lang und nicht etwa durch Mauern und Zäune gesichert. Stabilität im Nachbarland liegt im nationalen Interesse. Zumal auch andere Akteure bereitstehen, allen voran die Türkei, die alle turksprachigen Länder – auch Kirgistan, Usbekistan und Turkmenistan, die ebenso an Kasachstan grenzen – als Einflusssphäre betrachtet. Im Osten grenzt das Land an China und zwar an die Unruheregion Xinjiang, wo neben den muslimischen Uiguren rund 1,5 Millionen ebenfalls muslimische Kasachen leben. Präsident Xi Jinping hat Tokajew für sein hartes Vorgehen gelobt. Eine Ölpipeline führt direkt nach Xinjiang. Kasachstan ist zudem Mitglied der Shanghai Cooperation Organisation (SCO), einem 2001 von China initiierten Sicherheitsbündnis mit Russland und weiteren zentralasiatischen Ländern, motiviert durch die gemeinsame Angst vor wachsendem islamistischen Terror. Peking sieht seine Maßnahmen in Xinjiang bis heute als Teil dieses Kampfes gegen den Terrorismus. Auch Tokajew bezeichnet sein hartes Vorgehen gegen die Protestbewegung als „Anti-Terroreinsatz“ gegen eine sorgsam vorbereitete und organisierte Aggression unter Beteiligung gut geschulter Kämpfer aus zentralasiatischen Ländern und aus Afghanistan.

Wie vielerorts im postsowjetischen Raum kam zur immer tiefer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich eine Ideologie des Nationalismus, mit der sich die Herrschenden schützten, verbunden mit einer schleichenden Islamisierung. Wie überall in den einstigen Sowjetrepubliken wurde die russische Bevölkerung marginalisiert. Die rund 3,5 Millionen ethnischen Russen in den nördlichen Provinzen Kasachstans (Gesamtbevölkerung von rund 19 Millionen Menschen) haben keine politische Lobby mehr. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung noch das Russische beherrscht, steigt das Prestige der Nationalsprache. Wie anderswo greift Nationalismus auch auf das Bildungssystem über. Der Abschied von der kyrillischen Schrift im Kasachischen, von Tokajew zu verantworten, war ein deutliches Signal der Abkehr. Es wurde jetzt nicht etwa rückgängig gemacht, im Gegenteil: In die neue Regierung wurde Askar Umarow als Informationsminister berufen, ein nationalistischer Politiker, der durch seine Russophobie bekannt ist.

Dabei ist die Bedeutung Kasachstans für Russland kaum zu überschätzen. Es ist die größte und reichste ehemalige Sowjetrepublik in Zentralasien, die zusammen mit Russland und Belarus die Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion nach EU-Vorbild vorangetrieben hat. Kasachstan erbte von der Sowjetunion den Weltraumbahnhof Baikonur, den Russland für 115 Millionen US-Dollar im Jahr pachtet. Sowohl Nasarbajew als auch Tokajew haben immer die enge Beziehung zu Russland betont, aber auch nach Vorteilen Richtung Westen geschielt.

Feuertaufe für ein Militärbündnis

Auch jetzt äußerte Tokajew dezidiert sein Interesse an einer guten Zusammenarbeit mit der EU, betont aber immer wieder, dass es richtig war, das Militärbündnis OVKS zur Hilfe zu rufen, um einen Putschversuch zu vereiteln.

Aus russischer Sicht, so zitiert Ria Novosti Wjatscheslaw Nikonow, den stellvertretenden Vorsitzenden des Duma-Komitees für internationale Fragen, ist eine Beteiligung US-amerikanischer Geheimdienste plausibel – mit dem Ziel, im Vorfeld der bilateralen Verhandlungen die mit Russland verbundenen Länder zu destabilisieren. In anderen Staaten Chaos zu säen und eigene Machtpositionen aufzubauen, gar eine militärische Präsenz, ist ein probates Handlungsmuster. Wobei man im Gegenteil auch sagen kann: Die Feuertaufe des Militärbündnisses von Russland, Belorussland, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan – so schnell, so organisiert, und jetzt wurde auch schon mit einem Truppenabzug begonnen – ist auch eine Machtdemonstration gewesen: Bunte Revolutionen werden fortan in diesem Bereich schwerlich zu organisieren sein.

Quellen:

Titelbild: danielo / Shutterstock


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