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Titel: Debatte um NATO-Osterweiterung. Ein Nebenkriegsschauplatz

Datum: 9. Februar 2022 um 16:58 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Europapolitik
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Die Debatte über das, was 1989 und 1990 in Sachen NATO-Osterweiterung versprochen worden sei, ist wichtig, aber zugleich die Debatte auf einem Nebenkriegsschauplatz. Die viel wichtigeren Fragen sind: Warum hat man nicht am Projekt „Gemeinsame Sicherheit“ in einem vereinten Europa einschließlich Russlands weitergearbeitet? Warum hat man Russland quasi aus Europa hinausgeworfen? Warum musste die NATO überhaupt bestehen bleiben? Warum betreibt man in diesen Tagen rücksichtslos und in nahezu allen Sendungen von ARD und ZDF sowie in den meisten Zeitungen den Aufbau eines neuen und grellen Feindbildes Russland? Warum wurde das Versprechen Willy Brandts „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“ entsorgt? Warum können wir uns nicht mit allen Völkern verstehen? Brauchen wir Feinde? Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Brauchen wir überhaupt Feinde?

Frankreich war unser Feind. Die Briten und die Holländer, die Belgier, die Polen und die Norweger waren unsere Feinde. Jetzt sind wir Freunde. Warum sind wir mit den Russen nicht genauso freundschaftlich und wohlwollend umgegangen und so mit Ihnen verbunden? Auch wir Europäer haben Russland quasi aus Europa hinausgeworfen. Wir pflegen weiter das Russland-Feindbild. Das ist doch nicht normal. Jetzt behandeln wir die Ukrainer, die mit Ausnahme des rechten, faschistischen Teils auch in der Nazizeit unsere Feinde waren, als Freunde. Warum nur sie und nicht auch ihren russischen Nachbarn? Das ist schon alles sehr komisch. Aber die wichtigsten Gründe für diese sonderbare Trennung in Freund und Feind liegen auf der Hand:

Erstens: Unser Verbündeter oder Besatzer oder Partner in der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft, die USA, wollen nicht, dass wir mit Russland Frieden machen.

Zweitens: Die Rüstungswirtschaft war 1990 verzweifelt. Denn sie braucht Feindschaften. Andernfalls müssten die Völker nicht so viel aufrüsten. Und aufrüsten gehört wie die zugrunde liegenden Feindschaften zum Geschäft. Der Heidelberger Grafiker Klaus Staeck hat das in einer 1981 geschaffenen Grafik treffend festgehalten – siehe oben.

Die USA haben intern schon spätestens 1991 zu erkennen gegeben, dass ihre imperialen Vorstellungen mit den Vorstellungen vom gemeinsamen Haus Europa einschließlich Russlands nicht in Einklang zu bringen sind. Sie hatten und haben imperiale Absichten. Das ist ja bekannt. Es gibt genügend Veröffentlichungen von sogenannten amerikanischen Wissenschaftlern, die die ideologische Basis für den Expansionsdrang und die militärischen Absichten der USA geschaffen haben. Das war nicht nur graue Theorie. Schon 1990 gab‘s den Irakkrieg und dann unentwegt weitere Kriege – mit Millionen Toten.

Dass die USA die Russen aus Europa hinauskomplimentieren wollen, wurde immer wieder deutlich. Gut bekannt ist eine Veranstaltung des State Departments und des American Enterprise Instituts im slowakischen Bratislava im Jahre 2000. Davon hat der frühere Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Willy Wimmer, in einem Brief an den im Jahr 2000 amtierenden Bundeskanzler Gerhard Schröder berichtet. Kernbotschaft war mit der Zeichnung einer Linie verbunden – von Finnland bis zum schwarzen Meer und klar erkennbar mit der Ukraine im Westen und Russland östlich dieser Linie.

Ein ganzes Stück früher bin ich Zeuge dieses Bruchs der Versprechen von 1990, gemeinsame Sicherheit in Europa schaffen zu wollen, geworden. Zum Kontext: Wie schon mehrmals erwähnt hatte die SPD am 20. Dezember 1989 im Berliner Grundsatzprogramm (!) beschlossen: „Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen.“ Auch mit der NATO sollte es Schluss sein.

Damals war ich Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion und Sprecher der Parlamentarischen Linken (PL). In dieser Funktion habe ich zusammen mit Egon Bahr an der Schlussversion dieses Berliner Programms gearbeitet. Wenig später, schon 1991, musste ich erleben, dass damals wichtige Personen der SPD von den für unser Thema entscheidenden Passagen des Berliner Programms nichts mehr wissen wollten. Des Öfteren berichteten Außenpolitiker der Fraktion auf Fraktionssitzungen von Treffen mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern, gerade auch von Sozialdemokraten und Sozialisten: Man habe kein Verständnis für die deutsche Enthaltsamkeit. Deutschland müsse endlich auch ein normales Land werden. „Normal“ bedeutete: bereit sein für militärische Auslandseinsätze.

Besonders interessant war der folgende Vorgang: Der SPD-Spitzenkandidat für Rheinland-Pfalz, Rudolf Scharping, hatte den Landtagswahlkampf 1991 auch mit der Parole bestritten: “Wir wollen nicht weiter der Flugzeugträger der USA in Deutschland sein”. Das war eine klare und für damalige Verhältnisse auch radikale Forderung: Schluss mit den US-Militärbasen in Deutschland. Dann wurde Scharping zum Ministerpräsidenten gewählt. Im November 1991 reiste er in die USA und kam quasi umgedreht wieder zurück. Ein Dokument zu diesem Vorgang findet sich hier. Scharping hatte unter den Lobbyisten in Washington einen Vertreter für das Land Rheinland-Pfalz in Washington engagiert. Mein Freund Norman Birnbaum, Professor in Washington, hat das damals so kommentiert: Das ist das 1. Mal, dass ein fremdes Land den Lobbyisten, den die USA bei ihm platziert haben, auch noch selbst bezahlt.

Das ist aber nur eine eher erheiternde Randbemerkung. Wichtig war dann für die Einschätzung der Bedeutung des Berliner Grundsatzprogramms und seiner Aussagen zur gemeinsamen Sicherheit auch mit Russland folgender Vorgang:  Die rheinland-pfälzischen Bundestagsabgeordneten trafen sich regelmäßig zusammen mit der saarländischen Landesgruppe in einer der beiden Landesvertretungen. So auch nach der Reise von Rudolf Scharping nach Washington im November oder Dezember 1991. Scharping schwärmte von den USA. Seine knallharten Aussagen im Landtagswahlkampf über das notwendige Ende der Flugzeugträger-Rolle von Rheinland-Pfalz waren verflogen. Ich fragte ihn, ob nicht mehr gelte, dass wir die militärischen Basen der USA in unserem Land loswerden wollten, wie er es im Wahlkampf gefordert hat und wie es das SPD-Grundsatzprogramm vom 20. Dezember 1989 in Aussicht stellte. Scharping daraufhin offensiv und glatt: Das sähe ich richtig. Diese früheren Einlassungen seien überholt.

Da war mir klar: Alles was wir erarbeitet hatten, um Schluss zu machen auch mit dem westlichen Bündnis, war überholt. Die vereinbarte Sicherheitspartnerschaft, die Idee vom Gemeinsamen Europäischen Haus, die Vorstellung von Zusammenarbeit von Lissabon bis Wladiwostok – alles vorbei. Die NATO bleibt. Die NATO rüstet auf. Dass sie dann bis an die Grenze Russlands ausgedehnt worden ist, ist nur noch eine zusätzliche Missachtung der ursprünglichen Idee vom Gemeinsamen Europäischen Haus.

Dass Russlands Präsident Putin, obwohl er diesen frühen Schwenk der westlichen Welt weg von gemeinsamer Sicherheit und hin zu neuer Feindschaft eigentlich mitbekommen haben muss, trotzdem noch im September 2001 im Deutschen Bundestag eine insgesamt freundliche Rede hielt und dass er sogar noch im November 2010 für eine „Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok“ warb – siehe seinen Beitrag für die Süddeutsche Zeitung am 25. November 2010 – ist erstaunlich und Zeichen großen Willens zur Verständigung und Zusammenarbeit.

Dass der Westen in der Zeit von 1991 bis heute immer wieder gegen Russland polemisierte und Russland aggressive Absichten unterstellte, ist ein Zeichen völlig veränderter Welten im Westen. Die friedenspolitische Linie wurde untergebuttert, die an militärischen Einsätzen und auf jeden Fall an Aufrüstung interessierten politischen und ökonomischen Kräfte haben Oberwasser. Und die Tugend, sich im Interesse des Friedens auch in die Lage des Partners oder des ausersehenen Feindes versetzen zu können, ist gegen Null geschrumpft.

Zum Abschluss komme ich noch einmal zur Eingangsfrage zurück: Die Erinnerungen daran, dass Russland die Zusage hatte, dass die NATO nicht bis an seine Grenzen ausgedehnt werde, sind berechtigt. Ich will diese Bemühungen nicht in ein schlechtes Licht bringen. Aber wir sollten dabei die Grundsatzfrage nicht vergessen: Brauchen wir wirklich Feinde? Das gilt übrigens auch für den neu belebten feindseligen Umgang mit China.


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