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Titel: Ratlos

Datum: 22. Februar 2022 um 11:22 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Wertedebatte
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Die Entscheidung Putins in Bezug auf die beiden Republiken in der Ostukraine, die militärische Intervention, die voll auf Kalten Krieg umschaltende Diskussion im Westen, die dabei sichtbar werdende Militanz und Aggressivität gegen die Wenigen, die wie zum Beispiel Sahra Wagenknecht gegen den Mainstream aufmucken, der erkennbare Abschied von der Idee einer gemeinsamen Sicherheit in Europa und die immer wieder durchschimmernde Bereitschaft, Krieg als möglich zu denken, die Bereitschaft, harte Sanktionen zu erlassen, die vor allem die normalen Menschen dort im Osten wie auch bei uns mit teuren Heizkosten treffen kann – das alles lässt einen ratlos zurück. Das muss ich zugeben. Trotzdem mit dem Versuch der Verständigung und Versöhnung auch mit Russland weitermachen? Trotzdem jedenfalls auf lange Sicht darüber nachdenken und planen, dass wir alle in der Welt guter Nachbarschaft besser leben als in einer Welt der Feindseligkeiten? Albrecht Müller.

Zwischendurch hier der Link auf die Rede Putins.

Ist es ausgeschlossen, dass in der westlichen Politik und in den westlichen Medien mal wieder Menschen nach oben kommen, deren Weltbild nicht geprägt ist von der Vorstellung, zu den Guten zu gehören und deshalb mit missionarischem Eifer andere zu verfolgen? Ist es ausgeschlossen, dass sich der Gedanke von Verständigung und Freundschaft wieder durchsetzt? Ich klammere mich an zwei Ereignisse und Erfahrungen in meinem langen Leben:

  1. Die Nachkriegsphase war geprägt von den Eindrücken der Kriegsopfer und ihrer Erfahrungen, der Ausgebombten und der heimkehrenden Kriegsgefangenen, der zerstörten Städte und einem aus all diesen Erfahrungen geborenen Bekenntnis: Nie wieder Krieg. Ich erlebte dann als Schüler in meinem Heidelberger Gymnasium den ideologischen Aufbau einer westlichen Gesinnung einschließlich der NATO-Zugehörigkeit, die Abkehr vom „Nie wieder Krieg“, den Einzug der (heute wieder gängigen) Parolen von Abschreckung und Politik der Stärke. Mein sympathischer Lehrer für Deutsch und Geschichte, katholisch und voll integriert in die westliche Gesellschaft, war die Inkarnation dieser neuen Aufbau-Ideologie der Bundesrepublik Deutschland-West. Das schon oft erwähnte Plakat mit dem finster dreinschauenden Rotarmisten und der Schlagzeile „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“ war das Symbol des neugewonnenen Feindbildes und der damit verbundenen geistigen und militärischen Aufrüstung.
  2. Im Juni 1968 hatte ich als Redenschreiber des damaligen Bundeswirtschaftsministers Professor Karl Schiller in Bonn angeheuert. Damals war die neue Ostpolitik vom Außenminister der Großen Koalition, Willy Brandt, in ersten Schritten eingeleitet worden. Zur Spitze des BMWi gehörte auch der Parlamentarische Staatssekretär Klaus-Dieter Arndt, ein hochgewachsener, schlacksiger Ökonom aus Berlin, später Präsident des DIW. Auf ihn und ein Gespräch mit ihm von aktueller Bedeutung war ich hier schon einmal zu sprechen gekommen. Ich komme darauf zurück, weil der damalige Vorgang Bedeutung für heute haben könnte: Am 21. August 1968 war ich bei Klaus-Dieter Arndt im Büro zu einem Gespräch über eine geplante Rede des Ministers. In dieses Gespräch wurde von Arndts Sekretärin eine Tickermeldung gereicht: die Sowjetunion hatte in Prag militärisch interveniert. Das war ein Schlag, der das schnelle Ende der begonnenen Ostpolitik hätte bedeuten können. Aber Klaus-Dieter Arndt wie die meisten anderen damals verantwortlichen Politikerinnen und Politiker reagierten anders: Wir machen weiter. Wir machen weiter mit dem Versuch der Verständigung und der Zusammenarbeit, in seinem konkreten Fall auch mit dem Ausbau des Handels mit der DDR, dem sogenannten innerdeutschen Handel, für den er jenseits seiner Tätigkeit als Parlamentarischer Staatssekretär im BMWi verantwortlich war.

Das war eine andere Welt. Damals waren andere Personen in der Politik tätig. Vor allem hatten alle noch Kriegserfahrung oder jedenfalls unmittelbar vermittelte Erfahrung von der Gewalt und der Menschenverachtung von Kriegen.

Und heute?

Das Wort Krieg wird federleicht in den Mund genommen. Es gibt unter den politisch Verantwortlichen und medial Verantwortlichen kaum noch Menschen, die persönlich erlebt haben, was Krieg bedeutet. Seit Beendigung der Wehrpflicht müssen sich junge Menschen auch nicht mehr mit der Frage auseinandersetzen, ob sie sich an kriegerischen Handlungen beteiligen würden. Die Abschaffung der Wehrpflicht war eine massiv wirkende Entscheidung zu Lasten jeder Friedensbewegung. Die Mehrheit der Medien ist offensichtlich viel mehr als in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt vom westlichen, vom atlantischen, vom US-amerikanischen Denken. Wir müssen nüchtern feststellen, dass die USA, die NATO und die westliche Ideologie die Personalpolitik der Printmedien wie auch der Öffentlich-Rechtlichen wesentlich bestimmt hat. Offensichtlich haben wir auch die Wirkung einer auf Egozentrik setzenden Erziehung unterschätzt. Gibt es noch viele Mütter und Väter, die ihrem kleinen Jungen dann, wenn er erzählt, Franz habe ihn heute in der Schule geschlagen, raten: Red’ doch mal mit ihm! – Viele, viel zu viele Erziehungsberechtigte werden sagen: Schlag halt zurück. – Wir haben unterschätzt, welche Auswirkung diese Art von Erziehung auf die Friedens- bzw. Kriegsbereitschaft haben würde.

So ist die Lage und es wird ausgesprochen schwierig sein, die Lage zum Besseren zu wenden. Es wird ausgesprochen schwierig sein, jetzt vorzuschlagen, wir sollten auf die frühere Idee zurückkommen, am gemeinsamen Haus Europa zu bauen und wir sollten Russland in dieses gemeinsame Haus aufnehmen.

Auf dem Weg dahin ist unglaublich viel Porzellan zerschlagen worden. Deshalb die Ratlosigkeit.


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