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Titel: „Es ist unfair, Politiker an ihren Wahlversprechen zu messen“ (Franz Müntefering)

Datum: 17. März 2022 um 8:49 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, PR, Strategien der Meinungsmache
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Erinnern Sie sich noch an diesen Satz von Franz Müntefering? Er bezieht sich auf die Wahlperiode von 2005 bis 2009. Damals hatten wir eine Große Koalition aus SPD und CDU/CSU. Die CDU hatte im Wahlkampf angekündigt, die Mehrwertsteuer von 16 auf 18 Prozent zu erhöhen. Die SPD hatte das abgelehnt. „Keine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Nicht in nächster Zeit und nicht in der kommenden Legislaturperiode“ (Franz Müntefering, Sächsische Zeitung, 19. August 2005). Das war eine der zentralen Wahlaussagen der SPD. Der „Kompromiss“ in der Regierung dann: Die Mehrwertsteuer wurde auf 19 Prozent erhöht. Mit anderen Worten: Beide Parteien hatten ihre Wahlversprechen gebrochen. Möglicherweise wird demnächst ein noch viel wichtigeres Versprechen gebrochen, nämlich dass es keine Impfpflicht geben wird. Zeit, mal über das Thema „Lügen und Wahrheit in der Politik“ nachzudenken. Unser Autor Udo Brandes hat dafür in zwei Klassiker der politischen Theorie geschaut.

„In dieser Pandemie wird es keine Impfpflicht geben“

Das ZDF berichtete am 13. Juli letzten Jahres, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Corona-Impfpflicht in jeder Form ablehne. Ebenso äußerte sich der damalige Bundesgesundheitsminister Spahn: „In dieser Pandemie wird es keine Impfpflicht geben

Am 21. November 2021 berichtete die Neue Zürcher Zeitung dann Folgendes:

„Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte noch im Juli erklärt, ‚Es wird keine Impfpflicht geben‘. Davon rücken die künftigen ‚Ampel‘-Koalitionäre ab und bereiten gemeinsam mit den Ländern eine ‚einrichtungsbezogene‘ Impfpflicht vor. So steht es im Beschluss der Bund-Länder-Gespräche vom vergangenen Donnerstag. Vor diesem Hintergrund sorgt die Bundesregierung (gemeint ist die abgewählte, aber noch geschäftsführende Regierung Merkel; UB) mit einer neuen Sprachregelung für Aufregung. Sie entfernte von ihrer Website die Aussage, ‚Eine Impfpflicht wird es nicht geben. Nachrichten und Beiträge, die etwas anderes behaupten, sind falsch’“

Schlussfolgerung: Was heute politisch wahr ist, darf unter Umständen schon morgen nicht mehr wahr sein. Oder anders formuliert: Was heute eine böswillige Unterstellung von bösen Querdenkern ist, kann schon morgen offizielle Politik der Regierung sein. Für alle Funktionäre in diversen Apparaten ein echtes Problem. Es erfordert äußerste Flexibilität bei der eigenen Positionierung, um nicht ins politische Abseits zu geraten.

Schadet es Politikern, Wahlversprechen zu brechen?

Aber wenn Politiker regelmäßig Wahl- und sonstige Versprechen brechen: Schadet ihnen dies? Könnte dies ihre Macht gefährden? Der Schriftsteller, Diplomat und politische Philosoph Niccolò Machiavelli (1469-1527) meint in seinem berühmten Werk „Der Fürst“, dies sei kein Problem:

„Denn die Menschen sind so einfältig und gehorchen so sehr dem Eindruck des Augenblicks, dass der, welcher sie hintergeht, stets solche findet, die sich betrügen lassen.“

Als Beispiel führt Machiavelli Papst Alexander VI. an:

„Alexander VI. tat nichts anderes als zu betrügen, sann auf nichts anderes und fand immer solche, die sich betrügen ließen. Nie besaß ein Mensch eine größere Fertigkeit, etwas zu beteuern und mit großen Schwüren zu versichern, und es weniger zu halten. Trotzdem gelangen ihm alle seine Betrügereien nach Wunsch, weil er die Welt von dieser Seite gut kannte“ (Beide Zitate aus „Der Fürst“, Kapitel XVIII, „Inwiefern die Fürsten ihr Wort halten sollen“).

Wer in der Politik nicht alles für möglich hält, für den kann es bitter werden

Konkret sah dies dann wie folgt aus: Cesare Borgia, der Sohn Papst Alexanders VI., hatte 1502 als militärischer Oberbefehlshaber im Auftrag des Papstes verlorene Gebiete des Kirchenstaates zurückerobert – und sich dabei viele Feinde gemacht. Nun verschworen sich seine eigenen Condottieri (Heerführer) zusammen mit einigen anderen Adeligen gegen ihn und erzielten schnell einige militärische Erfolge. Cesare Borgia gewann jedoch wieder militärisch die Oberhand und konnte sie zur Aufgabe zwingen. Die Borgias gaben sich dann versöhnlich. Cesare lud vier der Verschwörer zu einem Versöhnungstreffen nach Senigallia ein. Der Historiker Volker Reinhardt – Autor des Buches „Machiavelli oder die Kunst der Macht“ – beschreibt das wie folgt:

„Die eben noch so aufmüpfigen Unterfeldherren trabten brav wie die Lämmchen ins Schlachthaus. Cesare Borgia brauchte sie nur noch einzusammeln. Vitellozzo Vitelli und Liverotto da Fermo ließ er noch in derselben Nacht erwürgen; Francesco und Paolo Orsini blieben als Geiseln am Leben – vorerst“ (Reinhardt, S. 111).

Cesare Borgia hatte die mentalen Schwächen seiner Feinde genau erkannt und eiskalt ausgenutzt. Der Historiker Volker Reinhardt kommentiert dies wie folgt:

„Im Falle der Condottieri bestanden diese Schwächen in ihrem schlechten Gewissen, der daraus resultierenden Halbherzigkeit und im Vertrauen auf die Ehrlichkeit des Papstes. Dieser letzte Fehler war tödlich. Selbst so hart gesottene Schlagetots wie Vitellozzo Vitelli und Liverotto da Fermo konnten sich nicht vorstellen, dass der Stellvertreter Christi auf Erden ein abgefeimter Betrüger war. Sie sahen die Welt, wie sie sein sollte, und nicht so, wie sie nun einmal war“ (Reinhardt, S. 113).

Mit anderen Worten: Sie liefen in ihr Verderben, weil sie die Welt nur aus ihrer eigenen Perspektive betrachteten. Weil sie glaubten, dass der Papst, der doch der Stellvertreter Gottes auf Erden war, niemals lügen und betrügen würde. Sie wurden also das Opfer ihrer eigenen Mythen und Illusionen. Genau diesen Fehler nicht zu machen und nicht Mythen und Illusionen zu erliegen – das ist es, was die Lektüre des über 500 Jahre alten Textes von Machiavelli noch heute lohnend macht. Denn die geschichtlichen Umstände mögen sich massiv verändert haben – aber die Menschen und ihre Natur nicht.

In der Politik ist Schein wichtiger als das Sein

Nach Machiavelli reicht es unter dem Gesichtspunkt der Machterhaltung vollkommen aus, wenn ein Fürst (heute müsste man sagen: Regierungschef, Parteichef, Konzernchef usw.) lediglich im Ruf steht, über moralische Tugenden zu verfügen:

„Ein Fürst muss also nicht alle oben genannten Tugenden besitzen, muss aber im Rufe davon stehen. Ja, ich wage es zu sagen, dass es sehr schädlich ist, sie zu besitzen und sie stets zu beachten; aber fromm, treu, menschlich, gottesfürchtig und ehrlich zu scheinen ist nützlich. Man muss nur sein Gemüt so gebildet haben, dass man, wenn es nötig ist, auch das Gegenteil vermag. (…) Daher muss er (der Fürst; UB) ein Gemüt besitzen, das sich nach den Winden und dem wechselnden Glück zu drehen vermag.“

Aber führt dies nicht zu Misstrauen gegenüber einem Herrscher? Machiavelli meint nein:

„Jeder sieht, was du scheinst, wenige fühlen, was du bist, und diese wagen es nicht, der Meinung der Menge zu widersprechen, welche die Majestät des Staates zu ihrem Schutze hat“ (Beide Zitate aus „Der Fürst“, Kapitel XVIII, „Inwiefern die Fürsten ihr Wort halten sollen“).

Die Aussagen von Machiavelli klingen für viele Menschen wahrscheinlich ganz furchtbar. Aber seine Sichtweise der Politik ist, so denke ich, ganz nah an der Realität. Insbesondere das letzte Zitat entspricht durchaus modernen psychologischen Erkenntnissen. Und der Alltagserfahrung, dass die große Mehrheit der Menschen lieber mit dem Strom schwimmt als gegen den Strom. Und diese Tendenz nimmt eher zu als ab, denn – so meine These – unsere Gesellschaft nimmt zunehmend totalitäre Züge an.

Es ist teuer geworden, die Wahrheit auszusprechen – und ein untrügliches Zeichen für totalitäre Tendenzen in der Gesellschaft

Ein Beispiel dafür ist die sogenannte „Cancel Culture“, deren Gefährlichkeit von Linksliberalen oft geleugnet wird. Diese nimmt inzwischen immer schlimmere Züge an. Jüngstes Opfer dieser „Kultur“ ist der – jetzt ehemalige – Vorstand der BKK ProVita-Krankenkasse, Andreas Schöffbeck. Er hatte auf die hohe Zahl der bei seiner Kasse von Ärzten und Krankenhäusern abgerechneten Behandlungen wegen Impfschäden hingewiesen und das auf Deutschland hochrechnen lassen – und das amtlich zuständige Paul-Ehrlich–Institut gebeten, das genauer zu untersuchen. Selbst eine solche Tatsache zu benennen, ist offenbar in unserer Gesellschaft nicht mehr möglich. Der Mann wurde umgehend vom Verwaltungsrat der Krankenkasse entlassen – fristlos. Und musste sich auch noch diffamieren lassen. Der Vorsitzende des ärztlichen Virchowbundes, Dirk Heinrich, sprach in einem Statement von „peinlichem Unwissen oder hinterlistiger Täuschung“ der „Schwurbel-BKK“ (siehe dazu den Bericht der Berliner Zeitung).

Warum diese extreme Reaktion? Der Mann hatte doch nur Tatsachen mitgeteilt. Genau das ist der Punkt: Es waren nicht nur „einfache“ Tatsachen. Es waren Tatsachen, die die herrschende Ideologie („Die neuen Impfstoffe sind sicher“) auf Basis von unabänderlichen Tatsachen infrage stellten. Und das ist inzwischen für alle, die politisch wie praktisch im „Impfgeschäft“ involviert sind, eine echte Gefahr. Ein Zitat von Hannah Arendt ist da sehr erhellend:

„Denn vom Standpunkt der Politik ist Wahrheit despotisch; und dies ist der Grund, warum Tyrannen sie hassen und die Konkurrenz mit ihr fürchten, und warum andererseits konstitutionelle Regierungsformen, die den nackten Zwang nicht ertragen, mit ihr auch nicht auf bestem Fuße stehen. (…) Mit unwillkommenen Meinungen kann man sich auseinandersetzen, man kann sie verwerfen oder Kompromisse mit ihnen schließen; unwillkommene Tatbestände sind von einer unbeweglichen Hartnäckigkeit, die durch nichts als die glatte Lüge erschüttert werden kann“ (Arendt, S. 61).

An anderer Stelle beschreibt Hannah Arendt etwas, was auch heute noch zutrifft (ihr Text wurde erstmals 1967 veröffentlicht):

„Zwar hat es vermutlich nie eine Zeit gegeben, die so tolerant war in allen religiösen und philosophischen Fragen, aber es hat vielleicht auch kaum je eine Zeit gegeben, die Tatsachenwahrheiten, welche den Vorteilen oder Ambitionen einer der unzähligen Interessengruppen entgegenstehen, mit solchem Eifer und so großer Wirksamkeit bekämpft hat. (…) Dass deren Kundgebung sich dann als nicht minder gefährlich erweisen kann als etwa die Verkündigung gewisser Häresien in früheren Zeiten, mutet in der Tat seltsam an“ (Arendt S. 55).

Da kann man Hannah Arendt nur zustimmen. Ich hätte bis vor Kurzem auch nicht glauben mögen, dass der Vorstand einer Krankenkasse seinen Job verlieren kann, weil er etwas ethisch Gebotenes tat, nämlich auf Daten und Fakten in Zusammenhang mit der Sicherheit eines Impfstoffes hinzuweisen. Und auf potenzielle Gesundheitsgefahren, die diese Impfstoffe in sich bergen.

Resümee

Viele Menschen schockiert Machiavellis Schrift „Der Fürst“, weil er die politische Welt nicht so beschrieb und bewertete, wie sie nach ethischen Maßstäben sein sollte, sondern wie sie in der empirischen Wirklichkeit objektiv funktioniert. Aber genau darin liegt ihr Wert: Wer Enttäuschungen und Selbsttäuschungen vermeiden will, sich also ein realistisches Bild über Politik und die darin handelnden Akteure machen will (das sind nicht nur Politiker, auch Medien, Wissenschaftler, Behördenvertreter, Interessenvertreter usw.), der sollte unbedingt Machiavellis „Der Fürst“ lesen. Der Text ist, weil er eben über 500 Jahre alt ist, nicht ganz einfach zu lesen. Auch weil den meisten Menschen von heute die damalige Welt fremd ist. Trotzdem kann man darin viele sehr gute Passagen finden (einige hatte ich zitiert), deren inhaltliche Aussagen bis heute Politik und Gesellschaft zutreffend beschreiben. Man muss nur „Fürst“ durch „Präsident“, „Regierungschef“ oder „Vorstandsvorsitzender“ (auch Unternehmen funktionieren nach den Regeln der Politik) ersetzen.

Der Ertrag dieser Lektüre für einen selbst dabei ist, dass man zum einen die Politik realitätsnäher analysieren kann – und eher davor geschützt ist, die eigene Perspektive als die einzig denkbare, weil vernünftige zu sehen. Zum anderen schützt es vor schmerzhaften Enttäuschungen, wenn man erleben muss, dass Politiker oder Institutionen, mit denen man sich womöglich identifiziert hat, sich als ganz und gar nicht vertrauenswürdig erweisen. Mir fällt dazu ein, was Günter Grass einmal in einem Interview in Bezug auf seine Erfahrung mit dem Dritten Reich dem Sinn nach gesagt hat: Er hege seitdem ein tiefes Misstrauen gegenüber Institutionen und halte grundsätzlich deren Korrumpierbarkeit für möglich.

Der Text von Hannah Arendt ist ebenfalls keine leichte Lektüre. Ich konnte mir den Text erst bei der zweiten Lektüre richtig erschließen, weil ich interessante Passagen unterstrichen habe. Aber ich denke, auch dieser Text ist lehrreich, sowohl der Text über die Pentagonpapiere (darin geht es um den Vietnamkrieg der USA), als auch der Text „Wahrheit und Politik“.

Hannah Arendt: Wahrheit und Lüge in der Politik, Zwei Essays, Piper Verlag, 6. Auflage 2021, 92 Seiten, 10,00 Euro.

Niccolò Machiavelli: Der Fürst, Übersetzt von Philipp Rippel, Reclam Verlag, 132 Seiten, 6.00 Euro (Hinweis: Ich habe für diesen Text meine alte Ausgabe aus dem Insel-Verlag benutzt, die von Friedrich von Oppel-Bronikowski übersetzt wurde. Die Übersetzung der Reclamausgabe scheint mir leichter lesbar zu sein).

Volker Reinhardt: Machiavelli oder Die Kunst der Macht, Eine Biographie, C.H. Beck Verlag, 1. Auflage 2014, 14, 95 Euro.

Titelbild: rudall30/shutterstock.com


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