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Titel: Erstaunliche Geschichtsvergessenheit = Geschichtsfälschung. Oder: Die Ostpolitik wird aus der Geschichtsschreibung hinausgeworfen

Datum: 18. Mai 2022 um 15:30 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Gedenktage/Jahrestage
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Gestern jährte sich zum 50. Mal die Verabschiedung der beiden ersten Verträge im Deutschen Bundestag, die die Regierung Brandt (SPD) im Zuge Ostpolitik/Entspannungspolitik erarbeitet und abgeschlossen hatte. In den deutschen Medien wurde an dieses wichtige Ereignis nach meinen Recherchen nicht erinnert. Im Brennpunkt der ARD vom 17. Mai gibt es ab Minute 1:22 ein Gespräch mit der Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD). Es geht um das Thema. Aber nur NATO. Nur Militär. Nur Aggression gegen Russland. Kein Wort zum Jahrestag des ersten großen Erfolgs der von der SPD geprägten Entspannungspolitik, der Verabschiedung der Verträge über Gewaltverzicht mit Moskau und Warschau. Kennen die führenden Sozialdemokraten von heute ihre eigene Geschichte nicht? Immerhin hat die Bundeszentrale für politische Bildung in einer Notiz an den 17. Mai 1972 erinnert. – Die ansonsten übliche Missachtung der Ost-/Entspannungspolitik ist interessant und wohl auch so gewollt und folgenreich. Deshalb ein paar Hinweise auf dieses Thema. Albrecht Müller

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Im Kern geht es um die Antwort auf die Frage: Verdanken wir den Abbau der Konfrontation zwischen West und Ost, den Fall der Mauer und die Selbstständigkeit der osteuropäischen und südosteuropäischen Völker

  1. der Friedenspolitik (Entspannungspolitik, Verständigungspolitik, Vertragspolitik, Ostpolitik) oder
  2. der Rüstung einschließlich der Nachrüstung, mit der die Sowjetunion und der Warschauer Pakt in die Knie gezwungen worden seien.

Wenn b. stimmt, dann ist es logisch und die richtige Lehre aus der Geschichte, jetzt wieder gegen Russland aufzurüsten, dann ist es logisch, die NATO beizubehalten und zu erweitern. Letzteres war gestern Gegenstand des zitierten Interviews mit der deutschen Verteidigungsministerin.

Wenn a. zutrifft, dann läge es nahe, die Verständigung durch Verhandlungen zu erreichen zu suchen.

Es liegt auf der Hand, dass die Rüstungswirtschaft und mit ihr die USA, die NATO und auf militante Weise einige westeuropäische Staaten wie Großbritannien den Osten, im konkreten Fall Russland, mal wieder totrüsten wollen. Deshalb ist ihre Geschichtsschreibung selbstverständlich orientiert an b.

Die Geschichtsschreibung ist nah an der Version b.

So zum Beispiel hier der Wikipedia-Beitrag über den Kalten Krieg. Nach der Wikipedia-Version geht der Kalte Krieg bis 1989. Das ist schlicht Geschichtsfälschung. Es entspricht der Version der USA und hier bei uns im Inneren in gewissem Sinne auch der Version der CDU/CSU und ihres Bundeskanzlers Helmut Kohl. Bei Letzterem kann man allerdings positiv anmerken, dass er wohl verstanden hat, wie sehr seine sicherheitspolitische Arbeit auch auf der Entspannungspolitik aufbaute.

Der Wikipedia-Eintrag über den Kalten Krieg enthält wenigstens eine kurze Passage zur Entspannungspolitik. Siehe hier:

1969 begannen bilaterale Gespräche zwischen der Sowjetunion und den USA zur Kontrolle und Begrenzung der Atomwaffen. Diese mündeten in die Unterzeichnung der SALT-Verträge und des ABM-Vertrags. Parallel dazu leitete die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Brandt (Kabinett Brandt I) mit ihrer Ostpolitik die Entspannung in Mittelosteuropa ein. Sie zielte auf menschliche Erleichterungen im geteilten Deutschland und insbesondere für Berlin, suchte dazu die Verständigung mit den östlichen Nachbarn wie mit der Vormacht Sowjetunion und garantierte in den Ostverträgen die Unverletzlichkeit der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Grenzen. Ein weiterer Schritt der Entspannung war 1973 die erste Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die 1975 zur Schlussakte von Helsinki führte.

Der Beitrag der Bundeszentrale für politische Bildung über den Mauerfall enthält keinen Hinweis auf die vorbereitende Rolle der Friedenspolitik Willy Brandts, Egon Bahrs und anderer Kombattanten.

Die Zeit zwischen dem offiziellen Beginn der Ostpolitik mit der Regierungserklärung von Brandt am 28. Oktober 1969, der Unterzeichnung der Verträge mit Moskau, Warschau und Prag, der Verabschiedung der Verträge durch den Deutschen Bundestag und dem Ende der Konfrontation im Jahre 1989/1990 war nicht durchgehend frei von Komplikationen des Verhältnisses zwischen West und Ost und Ost und West. In dieser Zeit wurden die SS 20 im Bereich des Warschauer Paktes aufgestellt. Die NATO antwortete mit der Nachrüstung.

Aber dies und selbst die Intervention der Sowjetunion in Afghanistan im Dezember 1979 bedeuteten nicht das Ende des Dialogs und der Entspannungspolitik. In einem weiteren Beitrag werde ich demnächst auf der Basis meiner eigenen Erfahrungen auf diese Politik zwischen 1968 und 1990 eingehen und dabei zeigen, dass die Behauptung, der Kalte Krieg sei erst 1989/1990 zu Ende gegangen, eine absichtliche oder dusselige Geschichtsfälschung ist.


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