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Titel: Das 9-Euro-Ticket: Ein verkehrspolitischer Rohrkrepierer als Trostpflaster für die Grünen

Datum: 25. Mai 2022 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, PR, Verkehrspolitik
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Am 1. Juni ist es so weit. Millionen Deutsche werden bis dahin ein 9-Euro-Ticket erworben haben, mit dem sie einen Monat den gesamten öffentlichen Personennah- und Regionalverkehr nutzen können. Bei Gefallen können sie derartige Tickets auch für die Monate Juli und August erwerben. Alles, was irgendwie in öffentlich-rechtlichen Verkehrsverbünden auf Straßen oder Schienen rollt, kann benutzt werden, in manchen Orten gehören sogar einige Fähren dazu. Ausgenommen sind lediglich ICE-, IC- und EC-Züge und natürlich private Anbieter auf Straße und Schiene, die nicht zu den Verkehrsverbünden gehören. Von Rainer Balcerowiak.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Stimmung vor der großen Billig-Reise-Sause ist gemischt. Linke Spaß-Autonome rufen bereits zum „Sturm auf Sylt“ auf, preisbewusste Reise-Nerds recherchieren die abgefahrensten Verbindungen für Reisen mit Nahverkehrszügen und -bussen. So kommt man locker in 21-24 Stunden mit 6-9 Umstiegen von Garmisch-Partenkirchen nach Kap Arkona auf Rügen. Und wer schon immer mal einen preiswerten Trip vom saarländischen Moselweindorf Perl nach Aventoft an der dänischen Grenze machen wollte, kann dies günstigstenfalls sogar in knapp 18 Stunden schaffen. Was allerdings voraussetzen würde, dass alle neun während dieser Reise benutzten Züge und Busse pünktlich ankommen, und somit als nahezu ausgeschlossen eingeschätzt werden kann. Aber es wird bei der Fahrplansuche auch schnell klar, dass der Regionalverkehr – auch die überregionalen Regionalexpress-Verbindungen – teilweise extrem zeitaufwendig ist. Er wurde von der Bahn in den vergangenen Jahren auf einigen Strecken sogar bewusst verlangsamt, um den teuren ICE vor der preiswerten, hauseigenen Konkurrenz zu schützen. So kommt man im ICE von Berlin nach Hamburg in schlanken 1,45 Stunden. Die schnellste Regionalverbindung (mit 1x umsteigen) dauert 4,07 Stunden.

Ohnehin geben die Bahn AG, die regionalen Verkehrsverbünde, zahlreiche Nahverkehrsunternehmen und diverse Fahrgast- und Verkehrsverbände längst die Spaßbremse. Sie warnen unisono vor chaotischen Zuständen auf Bahnhöfen und in vielen Zügen, besonders in beliebten Ausflugsregionen. Vorsorglich wird auch empfohlen, auf die beliebte Mitnahme von Fahrrädern in den Regionalzügen zu verzichten. Denn das dafür vorgesehene Platzkontingent ist bereits in Normalpreiszeiten oftmals vollkommen unzureichend. Praktische Lebenshilfe gab es von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP): Da müsse man sich „vielleicht an der einen oder anderen Stelle auch mit einem Lächeln begegnen, wenn man mal einen Zug nicht nehmen kann und auf den nächsten wartet”, rät der Minister. Die Fahrgäste bat er ferner, mit zu vollen Zügen so umzugehen, „dass die Beschäftigten der Verkehrsunternehmen nicht gestresst werden“. Sprach‘s und kaufte sich vor surrenden Kameras ein 9-Euro-Ticket – mit dem er wohl kaum seine Urlaubs- und Dienstreisen absolvieren wird.

Aber das Lachen über diesen ganzen Unfug kann einem schnell im Halse steckenbleiben. Denn es ist ein Stück aus dem Tollhaus der Abteilung „Krisenbewältigung“ der Ampel-Regierung, sozusagen „Bahnfahren gegen Putin“. Es gehört zum „Entlastungspaket 2022“, auf das sich die Koalition nach zähem Ringen Ende April endgültig geeinigt hatte. Denn irgendwie musste man ja auf den wachsenden Frust über die galoppierende Inflation und besonders die explodierenden Energiepreise reagieren. Die großen Jungs von der SPD und der FDP hatten sich schnell auf ein paar Glasperlen für einige ihrer Klientele verständigt. Z.B. 300 Euro „Energiepauschale“ für alle Steuerzahler, die Loser bekommen weniger, die Kinder auch ein bisschen, die Rentner gar nix. Und Porschefahrer Christian Lindner bekommt seine „Spritpreisbremse“ in Form einer temporären Steuersenkung auf Kraftstoffe.

Keine Kapazitäten für deutlich mehr Fahrgäste

So richtig „grün“ klingt das allerdings nicht, und mit nix in der Tasche wollten die neuen Superstars der allgemeinen Kriegs- und Embargobesoffenheit dann doch nicht nach Hause gehen. Normalerweise gäbe es dann irgendwas mit Energiewende und Klimaschutz, doch das muss jetzt alles warten, bis das Reich des Bösen endgültig in die Knie gezwungen worden ist. Sagen die Grünen ja auch selbst. So eine Konstellation ist dann die ideale Brutstätte für Schnapsideen wie das 9-Euro-Ticket – was die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang prompt als ganz großen Aufschlag für die ökologische Verkehrswende abfeierte.

Natürlich ist ein anständiges Schnupper-Angebot für bislang weitgehend ÖPNV-abstinente Zeitgenossen und Bahn-Agnostiker zum Fastnulltarif nicht generell abzulehnen. Doch der Schnäppchen-Euphorie könnte bald ein böses Erwachen folgen. Denn es fehlt an so ziemlich allen Voraussetzungen, um einen vermeintlich angestrebten, signifikanten Anstieg der Fahrgastzahlen schultern zu können, und das betrifft nicht nur den Regional-, sondern auch den Stadtverkehr. Die in Zeiten der Börsengangsträume kaputtgesparte Schieneninfrastruktur ist teilweise immer noch marode, Zugausfälle und längere Sperrungen wegen notwendigen Sanierungen sind z.B. in Berlin und seinem Umland an der Tagesordnung. Zudem fehlt den Schienenverkehrsunternehmen das rollende Material, um die Kapazitäten nennenswert und vor allem stabil zu erweitern. Und nicht zuletzt fehlt es auch an entsprechendem Fachpersonal. Konkurrierende Unternehmen werben sich mitunter Lokführer, Zugbegleiter, Bus- und Tramfahrer untereinander mit Kopfprämien ab.

Ohnehin erhalten die für den Nah- und Regionalverkehr zuständigen Länder und Kommunen vom Bund lediglich die prognostizierten Einnahmeausfälle erstattet, rund 2,5 Milliarden Euro. Dazu gibt es noch nach hartnäckigem Insistieren der Länder 1,2 Milliarden für Einnahmeausfälle während der Corona-Pandemie. Aber es gibt weder Mittel für zusätzliche Angebote, noch eine Kompensation für gestiegene Energiepreise der Verkehrsträger. Berufspendler, die schon jetzt täglich ihre Arbeitswege in oftmals krachend vollen Zügen absolvieren müssen, werden von der „Platzkonkurrenz“ durch unternehmungslustige Schnäppchen-Fahrer nur wenig begeistert sein. Bei Neuentdeckern des Nah- und Regionalverkehrs, die vielleicht sogar mal ausprobieren, das Auto stehenzulassen, wird dieser Realitätsschock wohl kaum zum dauerhaften Umstieg führen. Nicht zu vergessen, dass große Teile des Landes weitgehend vom Nah- und Regionalverkehr abgekoppelt sind. Was nutzt ein bundesweit gültiges Billigticket, wenn der Bus nur 2x am Tag kommt (aber nur an Werktagen) und der nächste Bahnhof 30 Kilometer entfernt ist?

Betrachtet man diese „soziale Wohltat“ jenseits der Regierungsrhetorik, kommt man zu einem ernüchternden Ergebnis. Verkehrspolitisch ist das 9-Euro-Ticket bestenfalls eine Nullnummer, weil es keinerlei Perspektive für den flächendeckenden, bedarfsgerechten Ausbau des Nah- und Regionalverkehrs eröffnet. Angesichts zu erwartender chaotischer Zustände – etwa am Pfingstwochenende – könnte es sich in der allgemeinen Wahrnehmung sogar als Rohrkrepierer erweisen und der Akzeptanz des Schienenverkehrs weiteren Schaden zufügen.

Energiepolitisch sind ebenfalls keine relevanten Effekte zu erwarten. Denn niemand glaubt ernsthaft, dass ein temporär verbilligtes Ticket mit arg beschränktem Nutzwert tatsächlich viele PKW-Nutzer zu einer Änderung ihres Mobilitätsverhaltens motivieren kann.

Sozialpolitisch gibt es nur wenige relevante Entlastungseffekte. Wer ohnehin als Abo-Kunde den Stadt- und Regionalverkehr nutzt, bekommt für drei Monate die Differenz zwischen den 9 Euro und dem Abopreis erstattet. Da können schon einige Hundert Euro zusammenkommen. Auch für unregelmäßige Nutzer, die Einzelfahrscheine nutzen, da sich ein Abo nicht lohnt, wird es in dieser Zeit billiger. Ferner können Menschen, deren finanzielle Mittel normalerweise nur wenig Mobilität zulassen, die Möglichkeit nutzen, mal ein bisschen rauszukommen. Alles ganz nett, aber nachhaltig ist das nun wirklich nicht.

Letztendlich passt das aber hervorragend zur ausgerufenen „Zeitenwende“. Die Prioritäten sind klar und offen benannt: 100 Milliarden Sondervermögen für Aufrüstung, weitere Milliarden für direkte und indirekte Waffenlieferungen an die Ukraine, für viele kaum noch zu schulternde Energiekosten (und das auf lange Sicht), galoppierende Inflation auch bei Grundnahrungsmitteln. Alles notwendig und alternativlos, um „unsere Freiheit“ zu verteidigen. Klima- und Verkehrswende müssen halt warten. Da braucht es fürs Volk neben ein paar pekuniären Peanuts auch ein kleines Unterhaltungsprogramm. Und sei es auch nur in einem hoffnungslos überfüllten Regionalexpress.

Titelbild: Little Adventures/shutterstock.com


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