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Titel: „Sanktionen und Krise als große Chance für russische Wirtschaft“ – Interview mit deutscher Unternehmensberaterin in Moskau

Datum: 4. Juni 2022 um 14:00 Uhr
Rubrik: Interviews, Länderberichte, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Die westlichen Sanktionen gegen Russland bedeuten nicht nur einen Gewinn-Ausfall für deutsche Unternehmen, sie wirken sich auch negativ für die russische Wirtschaft und den Lebensstandard der Russen aus, denn Russland kann nicht über Nacht neue Lieferwege aufbauen und Ersatzprodukte beschaffen. Vor allem im Maschinenbau, in der Konsumgüterindustrie und der Elektronik ist Russland noch stark von Importen abhängig. Ulrich Heyden hat mit der deutschen Unternehmensberaterin Constance Kachcharova, die seit 2006 in Moskau in ihre eigene Beratungsfirma investiert, über die Stimmung in der russischen Geschäftswelt gesprochen. Diese scheint, entgegen der westlichen Berichterstattung, erstaunlich optimistisch zu sein.

Herrscht in der russischen Wirtschaft eine Art Katastrophenstimmung?

“Katastrophenstimmung” ist sicherlich übertrieben. Natürlich stellen sich den von Sanktionen direkt oder mittelbar betroffenen russischen Unternehmen immense Probleme. Auch der angekündigte und teils tatsächlich vollzogene Marktrückzug internationaler Firmen wirft bedrohlich wirkende Schatten. Zumal dies alles noch auf die aktuellen globalen Verwerfungen wie den brüchigen Lieferketten und die vor sich hin schwelenden hausgemachten Probleme wie der schlechten Führungsqualität draufkommt.

Doch wie abgedroschen es auch klingen mag: Diese Krise kann Russlands große Chance sein. Denn erst derart an die Wand gedrängt, entfaltet der russländische Nationalcharakter ungeahnte Kräfte. Russlands Wirtschaft offenbarte immer dann die größten Schwachstellen, wenn sich ihre Hauptakteure in einer träge machenden Komfortzone wähnten. Möglicherweise werden Russlands Wirtschaftslenker nun aufgerüttelt, um das entwicklungshemmende Muster des “Ressourcenfluchs” zu durchbrechen und das enorme, bisher größtenteils schlummernde Potenzial des Riesenreichs zu heben.

Ist ein Silberstreifen am Horizont zu sehen? Wie sieht der aus?

Einen Silberstreifen sehe ich auf jeden Fall. In diesem Sanktionstsunami erweist sich Russlands Wirtschaft bisher als erstaunlich robust. Seit 2014 ist das Land aus dem einschränkenden Sanktionsmodus ja auch nie herausgekommen und zeigt sich daher selbst auf diese exorbitanten Strafmaßnahmen weitgehend vorbereitet. Auch ist fraglich, ob das territorial größte Land der Erde, die größte Atommacht, mit einem hohem Selbstversorgungsgrad bei Nahrungsmitteln sowie energetischer Unabhängigkeit und Ressourcenreichtum ausgestattet, mit Sanktionen und Embargos kleinzukriegen ist, ohne die gesamte Weltwirtschaft – und allen voran die energieabhängige EU – in den Abgrund zu reißen.

Wie Russland mit den schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen der aktuellen Ereignisse klarkommt, vor allem, wenn diese stärker die Bevölkerung erfassen, liegt weitgehend in dessen eigener Hand: in seiner grundsätzlichen Transformations-Fähigkeit. Ob diese Aussicht beruhigend oder alarmierend ist, wird sich bald zeigen.

Was würde passieren, wenn die russische Zentralbank den Leitzins massiv senkt? Würde das die Wirtschaft ankurbeln, da dann auch kleine und mittlere Unternehmen leichter an Kredite rankommen?

Zweifellos nimmt eine Hochzinspolitik der russischen Zentralbank die Wirtschaft des Landes in den Würgegriff. Die Kreditklemme wirkt als konjunktureller Bremsklotz. Dass aber auch in relativen Niedrigzins-Phasen die russische Wirtschaft allenfalls moderat wuchs und der Unternehmenssektor zurückhaltend investierte, legt das prinzipielle Problem einer Überbewertung des Leitzinses in seiner Funktion als Wachstumskatalysator offen: Geldpolitik kann Kapitalmärkte und Konjunktur flicken, ohne unterstützende Faktoren jedoch nicht herbeizaubern.

Letztlich ist entscheidend, in welchem Ausmaß die Banken ihre Kapitalausstattung den Unternehmen zukommen lassen. Und in Russland eben besonders den mit günstigen Krediten chronisch unterversorgten Klein- und Mittelunternehmen (KMU). Selbst die Nachwehen der Coronakrise stemmten russische KMU nach Angaben von Beauftragten für Unternehmensrechte hauptsächlich mit Zuwendungen aus dem Verwandten- und Freundeskreis.

Jedes vierte Business in Russland hält sich neben eigenen Mitteln mit derlei informalen Finanzspritzen über Wasser. Für kostspielige Investitionen und erst recht für Innovationen gibt es daher nur dürftigen Spielraum. Der Anteil der KMU mit wenigstens einem laufenden Bankkredit hinkt in Russland mit 22% deutlich dem Durchschnittswert von 42% in entwickelten Industriestaaten hinterher. Und selbst eine massive Leitzins-Senkung dürfte ohne eine ganzheitliche Verbesserung des Geschäfts- und Investitionsklimas nicht für eine nachhaltige Aufhellung sorgen.

Haben die westlichen Sanktionen für Russland auch eine positive Seite?

Dass Russland restriktiven Maßnahmen des Westens auch positive Seiten abgewinnen kann, hat es in den vergangenen acht Jahren unter Beweis gestellt. Sanktionen und Gegensanktionen haben das Land in einigen Bereichen aus seiner extremen Importabhängigkeit herausgebracht. Dass bestimmte Waren und Technologien mit einem Schlag nicht mehr mithilfe fast wie von selbst sprudelnder Rohstofferlöse bequem zugekauft werden konnten, hat das Land gezwungen, sich auf eigene Kräfte zu besinnen und Wertschöpfung zu lokalisieren. Dieser von russischer Seite bisher nicht vehement genug verfolgte und keineswegs immer klug gestaltete Prozess könnte nun – entgegen der linearen westlichen Sanktionslogik – an positiver Dynamik gewinnen.

Sie leben seit 2000 in Russland. In den 1990er Jahren und 2008 gab es schwere Wirtschafts- und Finanzkrisen. Was unterscheidet diese Krisen von der Krise heute?

Die Krisen, die Russland in den 1990ern durchrüttelten und 1998 fast zusammenbrechen ließen, beobachtete ich noch aus der Ferne. Mit sicherem Abstand sozusagen. In den 22 Jahren, die ich in diesem Land nun dauerhaft zubringe, habe ich immerhin schon vier Wirtschafts- und Finanzkrisen er- und durchlebt. Und jede davon fühlte sich anders an. Vor allem verkürzte sich jedes Mal die Zeit, sich auf die besondere Situation einzustellen. Ökonomisch, organisatorisch wie mental.

Kam die Krise 2008 als Ausläufer der internationalen Ereignisse noch mit Ansage, war der Vorlauf der Sanktionsspirale 2014 schon kürzer.

Wie gehen Sie persönlich mit den letzten Krisen — Pandemie und Sanktionen — um?

Für das Ausmaß der Corona-Krise gab es für die Allgemeinheit kaum sichtbare Anzeichen. Die Pandemie traf bestimmte Branchen daher mit unerwarteter Wucht. Unser Geschäft – die Beratung von Unternehmern und Managern – glücklicherweise weniger hart als befürchtet.

Die aktuelle Extremsituation nehme ich vor Ort ganz anders wahr als alle anderen Krisenzeiten zuvor. Geschäftlich wie persönlich. Einerseits war da schon ein gewaltiger Überraschungseffekt, der alle Pläne, die wir zum Jahreswechsel hatten, über’n Haufen warf.

Andererseits sind wir hier in Russland spätestens seit 2014 im Dauerkrise-Modus. Denn Sanktionen, Gegensanktionen und ihre Folgen haben ja nie aufgehört. Als Unternehmerin bleibst du da automatisch in einer Art Wachzustand, indem du für Vorzeichen und Signale viel empfänglicher bist als in Zeiten, in denen lange alles rund zu laufen scheint.

In diesem Sinne waren wir für die Eventualitäten gerüstet, die jetzt eingetreten sind.

Was bedeutet die aktuelle Krise für Ihre Firma?

Die vermeintliche Plattitüde, dass wir uns allein der Unsicherheit gewiss sein können, war im instabilen russischen Marktumfeld schon immer tägliche Praxis. In der aktuellen Krise hat sich eine solche Geisteshaltung als Firmen-DNA bei uns jedoch regelrecht eingebrannt.

Wie regelmäßiges Wechselduschen härtet auch der praktische Umgang mit ständig erwartbarer Unsicherheit ab, macht flexibler, widerstandsfähiger und – das sollten westliche Sanktions-Technokraten auf dem Schirm haben – unkalkulierbarer.

Die Qualität der Überlebensfähigkeit selbst unter widrigsten Umständen, die russische Lebensrealität abverlangt, immer schon abverlangt hat, wird meines Erachtens im noch weitgehend linear getakteten Westen unterschätzt. So zielt die westliche Sanktionslogik primär auf kausale Aktion-Reaktion-Mechanismen. Nach dem Motto “Wir drücken – Ihr knickt ein”. Dermaßen mechanistisch ticken Russen aber nicht. Und meinem Empfinden nach auch viele der lange in Russland lebenden Ausländer nicht. Dass von außen kommender Druck in Russland eher Gegendruck und dadurch Kreativität herauskitzelt, stimmt unsere Firma für die Zukunft des Landes optimistisch.

Zur Person: Constance Kachcharova. Geboren in Salzwedel, diplomierte Betriebswirtschaftlerin und Osteuropa-Expertin, berufliche Tätigkeit als Wirtschaftskorrespondentin, Markt- & Branchenanalystin, seit 2006: Unternehmensberaterin im deutsch-eurasischen Businesskontext, Lebensschwerpunkt seit über zwanzig Jahren in Moskau.

Nicht Alle verlassen Russland

Noch im Februar 2022 waren 3650 deutsche Firmen in Russland präsent. Seitdem hat sich diese Zahl verringert. Mehrere Unternehmen – wie Siemens – haben angekündigt, sich aus Russland zurückzuziehen. Deutsche Automobil-Unternehmen haben ihre Fabriken in Russland geschlossen. Doch viele deutsche Firmen bleiben. Es sind Unternehmen aus der Pharmaindustrie, der Agrarchemie und aus dem Handel mit Grundnahrungsmitteln, Konsumgütern und Landtechnik.

Titelbild: shutterstock/ C.Aphirak


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