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Titel: Deutsche Bahn am Scheideweg: „Wir stehen kurz vor dem Zusammenbruch der Funktionsfähigkeit!“

Datum: 25. Juli 2022 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Interviews, Privatisierung öffentlicher Leistungen, Verkehrspolitik
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Kaputte Gleise, kaputte Brücken, kaputte Mitarbeiter. Bei der Deutschen Bahn liegt so viel im Argen, dass selbst die Verantwortlichen Besserung geloben. Mit Milliardeninvestitionen wollen DB-Chef Lutz und Bundesverkehrsminister Wissing schnellstmöglich ein „Hochleistungsnetz“ aufbauen. Aber wie passt das mit den Regierungsplänen zusammen, Infrastruktur und Betrieb zu trennen? Gar nicht, meint Carl Waßmuth, Sprecher beim Bündnis „Bahn für Alle“. Ziel sei die Zerschlagung einer noch halbwegs integrierten Struktur zwecks noch mehr Wettbewerb und eines noch härteren Privatisierungskurses, sagt er im Interview mit den NachDenkseiten. Mit ihm sprach Ralf Wurzbacher.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Zur Person

Carl Waßmuth, Jahrgang 1969, ist von Berufs wegen Bauingenieur und Infrastrukturexperte. Er ist Mitbegründer, Vorstandsmitglied und Sprecher beim Verein Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB), der sich für die Demokratisierung aller öffentlichen Institutionen, insbesondere der Daseinsvorsorge, und für die gesellschaftliche Verfügung über Güter wie Wasser, Bildung, Mobilität und Gesundheit einsetzt. GiB ist der Träger des Bündnisses „Bahn für Alle“, für das Waßmuth als Sprecher fungiert und dem 21 Organisationen angeschlossen sind, darunter ATTAC, die NaturFreunde Deutschlands, Robin Wood und ver.di.

Herr Waßmuth, dass das Bahnsystem in Deutschland nach Jahrzehnten staatlicher Kürzungen und unter Regie eines auf Profitmaximierung getrimmten DB-Konzerns in einem erbarmungswürdigen Zustand ist, brandmarken Kritiker seit einer halben Ewigkeit. Neuerdings ist es aber, wenn man so will, das Oberkommando der Kaputtmacher – also Deutsche-Bahn-Vorstandschef Richard Lutz und Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) – das das große Klagelied auf marode Strecken und Brücken, Dauerbaustellen und Unpünktlichkeit anstimmt. Vor einem Monat versprachen beide deshalb den Aufbau eines „Hochleistungsnetzes“, das zum „Qualitäts- und Stabilitätsanker für die gesamte Infrastruktur“ werden müsse. Wird demnächst endlich alles besser?

Leider nein, zumindest nicht so. Weder Kaputtreden noch hochtrabende Versprechen machen die Bahn einen Deut besser. Es ist sogar noch krasser: Tiefleistung und die Hochleistungsversprechen gehören zusammen, sind Teil derselben neoliberalen Schockstrategie. Was wird tatsächlich verfolgt? Die Zerschlagung der Bahn mit anschließender Privatisierung der Betriebsteile. So wie es in Berlin bei der S-Bahn gerade schon passiert.

Sie verwahren sich dagegen, die Bahn kaputtzureden? Was lässt sich dem herrschenden Chaos denn noch Gutes abgewinnen?

Die Bahn in Deutschland hat nach wie vor enormes Potenzial, auch wenn sich der DB-Vorstand, die EU und der Bundesverkehrsminister alle Mühe geben, dieses zu unterdrücken und zu zerstören. Aber wir könnten, wenn wir wollten! Wir haben immer noch eine Struktur, die ganz ähnlich ist wie die in der Schweiz. Netz und Betrieb sind weitgehend zusammen organisiert. Das Neun-Euro-Ticket hat ja eine Art Schlaglicht darauf geworfen, dass man steuern kann – wenn man will.

Aber warum wollen die Verantwortlichen das nicht? Das Neun-Euro-Ticket ist ja auch mehr aus der Not geboren, als dass es echtem Gestaltungswillen entspringt. Und besser macht es die Lage auch nicht. Es gab nie mehr Baustellen, nie mehr Verspätungen und auch das jüngste Zugunglück bei Garmisch-Partenkirchen ist wohl eklatantem „Systemversagen“ geschuldet.

Die DB muss absurderweise Gewinne machen. Würde man die oberste Managementebene mal für ein Jahrzehnt freistellen und die Beschäftigten machen lassen, dann hätten wir schnell den Deutschlandtakt. Viele Beschäftigte wissen, wie Bahn geht – sie dürfen es nur nicht richtig machen.

Und Sie fürchten, dass die jetzt beschworene Zeitenwende samt großangekündigter Investitionsoffensive – die Rede war einmal von über 150 Milliarden Euro bis 2030 – darauf zielt, den Privatisierungskurs im Schienenverkehr noch zu forcieren?

Je länger man das Schienennetz herunterwirtschaftet, um so tollere Summen kann man dann versprechen. Jetzt sind wir schon bei 150 Milliarden Euro! Wenn man die Versprechen der letzten Jahre zusammennimmt, kommt man in der Summe bald auf eine Billion. Aber das ist immer dasselbe Geld, das da versprochen und dann doch nicht gegeben wird. Das ist völlig unernst. Ich kann ehrlich gesagt nicht verstehen, wie darüber so schmerzfrei berichtet wird, ohne wenigstens anzufügen, dass damit auf eine lange Serie gebrochener Versprechen noch ein größeres draufgesetzt wird. Man müsste für Investitionsversprechen von Bahn-Chefs und Verkehrsministern einen eigenen Wechselkurs einführen. Ich glaube, er liegt bei eins zu 95. Anders gesagt: Es wird vermutlich zusätzliche 7,5 Milliarden Euro für Bahn-Investitionen geben und 95 Prozent waren gelogen.

Das ist ein harter Vorwurf …

Der aber auf Jahrzehnten leidiger Erfahrungen gründet. Man könnte das Ganze als lustige Politikglosse ansehen, aber es ist viel ernster. Denn der Dauerlüge liegt ein Dauerstrukturproblem zugrunde, das unsere Bahn sukzessive zerstört und zwar so lange, bis sie endgültig kaputt ist. Das Hauptmanko ist ganz schlicht: Die formell private DB bilanziert das Netz nicht und somit ist Kaputtmachen für sie lukrativ. In Zahlen: Das Netto-Anlagevermögen der Verkehrswege der DB AG betrug im Jahr 2020 nach Angaben des Verkehrsministeriums 108 Milliarden Euro. Das Sachanlagevermögen nach Bilanz der DB AG betrug hingegen nur 50 Milliarden Euro und zwar inklusive aller Züge, die das Verkehrsministerium gar nicht als Anlagen betrachtet. Die Differenz von 58 plus X Milliarden Euro – das sind Tausende formal wertlose Weichen, Brücken und Bahnhöfe, die der DB gehören und die sie straflos verfallen lässt. Aber für uns ist das nicht wertlos, sondern elementar für die Verkehrswende. Deswegen fordern wir nicht die Aufteilung der Bahn, sondern die Abkehr von der Profitlogik. Und die Unterstellung der Bahn unter demokratische Kontrolle, nicht nur des Parlaments, auch der betroffenen Bürgerinnen und Bürger.

Die „systematische Vernachlässigung“, wie Sie das Herunterwirtschaften der Infrastruktur zuletzt an anderer Stelle bezeichneten, ist für Sie demnach nur das Vorspiel zum großen Ausverkauf? Und der Prozess ging los mit der großen Bahnreform von 1994?

Systematische Vernachlässigung ist eine der sieben typischen Stufen für Privatisierungen: Zunächst werden die Abläufe ökonomisiert, betriebswirtschaftliche statt volkswirtschaftliche Bilanzen treten in den Mittelpunkt. Folgt dann im nächsten Schritt öffentliches Klagen über unzureichende Mittel und schlechte Qualität, wird die formelle Privatisierung betrieben. An eine Vernachlässigung der Infrastruktur schließt sich die „Daumenschraube“ Arbeitsplatzabbau an. Outsourcing, hochriskante Geschäfte jenseits der Kernaufgaben, rapide Anhebung der Preise und Gebühren gehen damit einher. Dann wird privatisiert – den Börsengang haben wir bei der Bahn bisher verhindert, aber nicht die ganzen Bahnhofsverkäufe und Grundstücksgeschäfte. Nach 15 bis 30 Jahren erfolgen gemäß der sieben Stufen dann ein teilweiser oder vollständiger Zusammenbruch der Funktionsfähigkeit und Wiederverstaatlichung.

Welche Phase erleben wir aktuell?

Wir stehen kurz vor dem Zusammenbruch der Funktionsfähigkeit! Und zwar sowohl beim Netz als auch hinsichtlich des Wagenmaterials. Nun sollen wir erpresst werden: „Entweder wir lassen das komplett gegen die Wand fahren oder ihr saniert das Netz aus zusätzlichem Steuergeld und lasst uns den Rest privatisieren.“ Aber wir brauchen das Netz und die darauf fahrenden Bahnen als Einheit. Nur dann können wir den Deutschlandtakt aufbauen, nur so die Verkehrswende erreichen.

Allerdings deuten selbst gestandene Kritiker den Koalitionsvertrag der Ampelparteien so, dass eine Zerschlagung der Bahn damit vom Tisch ist. Davor hatten ja Liberale und Grüne mit einer Abspaltung des Netzes aus dem Gesamtkonzern geliebäugelt. Nun soll es auf Betreiben der SPD eine integrierte Lösung in Form einer „gemeinwohlorientierten Infrastruktursparte“ geben, deren Erlöse komplett in den Erhalt und die Modernisierung des Schienennetzes fließen sollen. Warum misstrauen Sie der Konstruktion?

Im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir werden die Deutsche Bahn AG als integrierten Konzern inklusive des konzerninternen Arbeitsmarktes im öffentlichen Eigentum erhalten.“ Hierin sind drei Aussagen enthalten: Die DB als integrierten Konzern erhalten, den konzerninternen Arbeitsmarkt erhalten, die DB im öffentlichen Eigentum erhalten. Aber jeder Konzern ist integriert, das ist eine Wortmogelei, die in die Irre führt. Was wir brauchen ist eine integrierte Bahn. Der konzerninterne Arbeitsmarkt ist wichtig. Aber wird er bleiben, wie er ist? Und wer darf darauf noch zurückgreifen, auch Betriebsteile, die verkauft werden? Sicher nicht. Und dass die DB selbst im öffentlichen Eigentum bleibt, schützt uns nicht davor, dass zum Beispiel der Fernverkehr samt aller ICEs verkauft wird an Black Rock oder wen auch immer.

Aber schützt vor so einer Entwicklung nicht die Maßgabe „Gemeinwohlorientierung“?

Man muss sich nur anschauen, was im Koalitionsvertrag noch steht: „Die Eisenbahnverkehrsunternehmen werden markt- und gewinnorientiert im Wettbewerb weitergeführt.“ Hierin steckt allemal mehr Ehrlichkeit als in der Rede von der Gemeinwohlorientierung. Dass die neue Infrastruktursparte gemeinwohlorientiert sein soll, hört sich gut an, wenn es auch eigentlich für ein Unternehmen, das zu 100 Prozent in Staatsbesitz ist, selbstverständlich sein sollte. Der juristisch relevante Begriff lautet allerdings gemeinnützig. Gemeinwohlorientiert klingt schön, ist aber nicht justiziabel oder mit anderen Worten: Bullshit. Dabei könnte man so leicht anfangen, das Gemeinwohl in den Bahnverkehr zu bringen. Einfach mal in die Satzung aufnehmen, dass nicht Gewinne, sondern die Befriedigung der Verkehrsbedürfnisse der Menschen in Deutschland und der Klimaschutz das Unternehmensziel sind. Und dann in alle Managerverträge die Bonuszahlungen an das Erreichen dieser Ziele koppeln.

Das Szenario, das Sie beschreiben, sähe dann so aus: Der Steuerzahler finanziert und unterhält künftig ein „Hochleistungsnetz“, auf dem die Privaten dann fette Gewinne einfahren. Wo bliebe da der DB-Konzern selbst?

Ja, wir sollen der DB das kaputtgemachte Netz abnehmen, mit Steuergeld wieder fit machen und dann Privatfirmen ermöglichen, sich dort die Rosinenstrecken herauszupicken, auf denen sie dann fette Gewinne einfahren. So wie es in Großbritannien nach dem Zusammenbruch von Rail Track gemacht wurde. Das ist neoliberale Politik mit ihren offenen Widersprüchen. Der Staat soll alles bezahlen, was irgendwie doch keine Gewinne abwirft. Die beiden Versprechen, die Infrastruktur herauszulösen und gleichzeitig die integrierte Bahn zu erhalten, sind unvereinbar. Es kommt also notwendigerweise zum Bruch eines der Versprechen. Raten Sie mal, welches.

Wie passen Ihre Warnungen damit zusammen, dass inzwischen sogar FDP-Minister Wissing ein erschwingliches Nachfolgemodell zum Neun-Euro-Ticket befürwortet? Mit einem 365-Euro-Tarif im Nahverkehr könnte keine Privatbahn Profite generieren.

Es ist gut, dass wir noch einmal auf das Neun-Euro-Ticket zu sprechen kommen. Darin steckt ungemein viel. Aus Versehen hat Wissing nämlich bewiesen, dass man die Bahn steuern kann! Wir haben so etwas schon öfter erlebt: In den krassesten neoliberalen Strategien stecken oft zerstörerische Ansätze und dicht daneben findet sich sehr Emanzipatorisches. Das kommt daher, dass wir nicht einfach wie von Pinochet in Chile mit vorgehaltener Maschinenpistole zur Privatisierung gezwungen werden können. Also muss man uns etwas versprechen und ab und an sogar ein Versprechen einlösen. Wir müssen das Emanzipatorische beim Wickel packen und den Rest abwehren. Der Rest ist in diesem Fall die Trennung von Netz und Betrieb.

Unlängst meldeten sich die Spitzen der Lokführergewerkschaft GDL und der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) mit Wutreden gegen die Bahnverantwortlichen zu Wort. GDL-Chef Claus Weselsky wetterte über einen „Saftladen“ und ein mit dem Neun-Euro-Ticket-Massenbetrieb provoziertes „Chaos“, das die Beschäftigten „krank“ mache. Als Gegenrezept plädiert auch er für „eine klare Trennung innerhalb des Konzerns zwischen Netz und Betrieb“. Wie bewerten Sie diesen Vorstoß?

Also, ich kenne Herrn Weselsky nicht persönlich. Aber ich habe in einer Studie am Rande auch große Strukturreformen ausgewertet, also das, was Herr Weselsky gerade so toll findet. Wo man auch hinsieht, bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, bei der Autobahngesellschaft ASFINAG in Österreich oder beim deutschen Pendant, der Autobahn-GmbH – das dauert knapp zehn Jahre und macht die Beschäftigten krank. Also die Analyse, „die Saftladen-DB produziert Chaos, deswegen brauchen wir ein Jahrzehnt Strukturchaos“, die teile ich nicht. Und dann gibt es da das Eigeninteresse von Weselsky. Die Privatbahnen erhoffen sich von der Trennung Marktzuwächse, und Weselsky, der bei Privatbahnen mehr Mitglieder hat, erhofft sich Mitgliederzuwachs. Aber es kommen auch die Tarifverträge unter die Räder einer fortschreitenden Privatisierung. Und ich würde mal sagen, nirgendwo auf der Welt haben sich Arbeitsbedingungen durch Privatisierung dauerhaft verbessert. Ich glaube, es gibt kämpferische und emanzipatorische Leute bei der GDL. Die haben es nicht verdient, einem organisations-egoistischem Machtkalkül geopfert zu werden.

Welche Verwerfungen drohen in Ihren Augen abseits der Zumutungen fürs Personal für den technischen Betrieb, sobald das Netz in einer separaten Schienengesellschaft ausgesondert ist?

Die größte Gefahr ist eine Art Privatisierungsrutschbahn. Wir haben in einer Studie sektoral und intersektoral untersucht, was passiert, wenn man trennt. Der Trend war deutlich: Über kurz oder lang wird der Betrieb privatisiert, ganz egal, ob das zuvor intendiert war oder nicht. Auch technisch ist Trennung riskant. Die U-Bahn in London hatte man auch mal aufgetrennt und per öffentlich-privater Partnerschaft privatisiert. Bald ging auf der technischen Ebene gar nichts mehr und das Vorhaben wurde hastig abgebrochen, wobei ein großer Schaden für die öffentliche Hand verblieb.

Man muss feststellen, dass Ihr Bündnis „Bahn für Alle“ mit seiner Fundamentalopposition ziemlich alleine dasteht. Andere, darunter auch als progressiv geltende Bahn- und Fahrgastverbände betrachten die geplante Reform durchaus mit Wohlwollen. Sehen Sie einfach nur zu schwarz?

Schwarz sehen ja die, die sagen, die Bahn ist nicht mehr zu retten, zerschlagt sie. Wir sind gerade mal so fundamentalistisch wie die konservative britische Regierung. Die machen die fatalen britischen Tony-Blair-Bahnreformen gerade wieder rückgängig. Oder so fundamentalistisch wie die Schweizer, die ihr Bahnsystem in sechs Volksabstimmungen zu dem entwickelt haben, was wir heute bewundern dürfen.

Es ist immer eine Versuchung, zu sagen, alles ist so schlecht, lasst uns die Sache aufgeben und wenigstens Teilstücke retten. Das passiert immer wieder, auch bei Gewerkschaften und Verbraucherverbänden. Wir als „Bahn für Alle“ geben aber noch nicht auf, noch lange nicht. Die Bahn ist zu retten, und wir ermutigen alle, dabei mitzumachen. Zum Beispiel in unserem Aufruf an Olaf Scholz mit der Forderung, die Zerschlagung der Bahn zu stoppen und die Privatisierung zu verhindern.

Titelbild: LariBat / Shutterstock


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