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Titel: So könnte es auch sein – Annahmen zum Ukrainekrieg

Datum: 7. Dezember 2022 um 10:03 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Militäreinsätze/Kriege
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Mathematiker dürfen das, ja müssen es sogar. Sie dürfen sagen: Nehmen wir mal das und das an. Und dann daraus ihre Schlüsse ziehen. Oft machen sie es, um durch Argumente zu zeigen, dass die Annahme falsch ist. Aber es ist auch interessant, wenn man aus der Annahme interessante Folgerungen ziehen kann, manchmal auch solche, die nachher in einem Beweis münden. Von Matthias Kreck.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Drei Annahmen

Also erlaube ich mir, einige Annahmen zu machen.

  1. Es gibt eine lange Tradition der USA, die Welt in „gut“ und „böse“ einzuteilen. Das Modell für das Gute sind die USA.
  2. Dies ist damit verbunden, dass die USA das Recht und die Pflicht haben, das Gute in aller Welt zu verteidigen oder zu exportieren. Bei dem Begriff „gut“ werden ethische Aspekte mit ökonomischen Interessen vermischt.
  3. Zur Erreichung des Zieles sind auch extreme Methoden erlaubt

Dass die Annahmen nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, wird im Text hier und da angedeutet. Z.B. ist bekannt, dass es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ernsthafte Überlegungen in den USA gab, die Sowjetunion (später als Reich des Bösen bezeichnet) in einem Atomschlag zu vernichten: Das Gute löscht das Böse aus. Der bedeutende Mathematiker und Regierungsberater John von Neumann war ein großer Anhänger und Propagator dieses Vorschlages. Zahlreiche Kriege, Anschläge, Unterstützung von Putschen, Stützung von Diktaturen, wenn das, obwohl vielleicht böse, dem Guten nutzt, deuten darauf hin, dass erstens das Ziel nie aus den Augen verloren wurde und zweitens, dass die Vorstellung, dass der Zweck die Mittel heiligt, nicht ausgeschlossen werden kann. Und schließlich geht mit der Vorstellung, die USA stünden für das Gute, die Vorstellung einher, dass andere Länder für das Böse stehen, neben der Sowjetunion und später Russland ist da in erster Linie an China zu denken.

Der nicht eingehaltene Verzicht auf eine NATO-Osterweiterung

Die Frage, was die Rolle des Guten ist, wurde im Zuge des Zusammenbruchs des Warschauer Paktes und der Vereinigung der DDR mit der BRD auf eine Probe gestellt. Alte Muster verloren an Bedeutung, neue Türen taten sich auf. Der Zusammenbruch des Warschauer Paktes wäre eine Gelegenheit gewesen, eine neue Sicherheitsstruktur zumindest in Europa aufzubauen. Gorbatschow hat das Stichwort vom gemeinsamen Europäischen Haus eingebracht. Das hätte eine neue Weltordnung bedeutet, ob besser oder schlechter, sei dahingestellt. In jedem Fall wäre der amerikanische Einfluss vermutlich viel geringer geworden. Auf dem Hintergrund verwundert es nicht, dass diese Vision nie ernsthaft von der NATO, die davon ja massiv betroffen wäre, diskutiert wurde.

Allerdings war die Vereinigung der DDR mit der BRD nicht völlig umsonst zu bekommen. Sie erforderte zumindest ein Lippenbekenntnis: Keine Osterweiterung der NATO. Für alle, die das bezweifeln, sei empfohlen, sich die Tondokumente von Reden vom damaligen Kanzler Kohl und Außenminister Genscher anzuhören, aber auch der damalige amerikanische Außenminister Baker hat das nach außen hin unterstützt. Allerdings gibt es starke Hinweise darauf, dass es nie ernsthafter Wille der USA war, eine Osterweiterung der NATO auszuschließen. Der stärkste Hinweis ist die Entwicklung seitdem, die eher vermuten lässt, dass die Ausdehnung des militärischen Einflusses von Anfang an geplant war. Nach ein paar Jahren (Feigenblatt) wurden bereits 1997 Polen, Tschechien und Ungarn (die Aufnahme erfolgte 1999) erstmals Beitrittsverhandlungen angeboten, später auch weiteren osteuropäischen Staaten.

Ein paar Worte zu dem Argument: Wenn der Wunsch nach einer Mitgliedschaft an die NATO herangetragen wurde, kann man sich dem doch nicht verweigern. Doch: Jeder Kleintierzüchterverein kann beschließen, keine neuen Mitglieder mehr aufzunehmen. Wenn es ein ernstes Bedürfnis gewesen wäre, diese Länder sicherer zu machen, wäre es vielleicht besser gewesen, Gorbatschows Vorschlag von einem gemeinsamen Haus Europa aufzugreifen!

Das folgende Zitat von Zbigniew Brzezinski aus seinem 1997 veröffentlichten Buch „The Grand Chessboard“ deutet an, dass die Ukraine eine besondere Rolle in der US-amerikanischen Strategie bildet:

Allein schon die Existenz einer unabhängigen Ukraine hilft, Russland zu verändern. Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein eurasisches Imperium zu sein. Es kann zwar immer noch imperialen Status beanspruchen, würde dann aber in Konflikte mit den zentralasiatischen Staaten verwickelt. Auch China würde sich erneuter russischer Dominanz in Zentralasien entgegenstellen. Wenn Russland aber die Kontrolle über die Ukraine zurückgewinnt, wäre es wieder eine Imperialmacht.

Was bedeutet das für die Ukraine?

Wenn denn Brzezinski nicht völlig danebenliegt und das Gute verhindern muss, dass das Böse (Russland) weiter eine Imperialmacht ist, was bedeutet das für ein Land wie die Ukraine? Es wird natürlicherweise eine Art Spielball in einem Spiel des Guten gegen das Böse. Nun gehören zu einem Spiel nicht nur die Strategen wie Brzezinski, sondern auch die, mit deren Hilfe das Spiel zu gewinnen ist. Es stellt sich also die Frage, ob die Ukraine dafür geeignet ist. Dazu gibt es einige Aspekte:

  • Geostrategisch ist es ideal gelegen, reicht tief in Russland hinein (das ist vermutlich ein Hintergrund der Brzezinski’schen Vision).
  • Es ist ein zutiefst korruptes Land.
  • Es gibt eine lebendige faschistische Bewegung mit historischen Wurzeln in der Nazizeit und paramilitärischen Organisationen.
  • Es ist ein zutiefst gespaltenes Land, insbesondere zwischen den westlichen, mehr nach Westeuropa orientierten Teilen und den östlichen, die traditionell den Russen näher stehen.
  • Es ist ein Land mit starken nationalistischen Tendenzen.

Natürlich ist das kein Versuch, ein Gesamtbild der Ukraine zu zeichnen, da gäbe es viel mehr und viel Positives zu sagen. Es geht nur um diese Züge, die für die Frage, die wir hier diskutieren, von Bedeutung sind.

Es ist davon auszugehen, dass Pentagon und CIA sich dieser Aspekte bewusst waren. Andererseits ist zu vermuten, dass ein Teil dieser attraktiven Seiten noch gar nicht voll ausgeprägt war. Deshalb wäre es sehr vernünftig gewesen, langfristig zu denken, nichts zu überstürzen. Aber aufmerksam jede Gelegenheit wahrzunehmen, und das in bewährter Weise (es gibt vermutlich kaum eine politische Bewegung in der Welt, wo die CIA nicht ihre Finger im Spiel hat, was aus Sicht der USA nicht nur nicht verwerflich, sondern geboten ist).

Es ist hier nicht der Ort und es fehlt dem Autor auch die Expertise, das im Einzelnen nachzuzeichnen. Aber einerseits ist es eine Tatsache, dass der erste Versuch, die Ukraine 2008 in die NATO aufzunehmen, zwar und – vermutlich – insbesondere am deutschen und französischen Widerstand gescheitert ist, aber an der Perspektive einer zukünftigen Aufnahme festgehalten wurde. Inwieweit westliche Organisationen in den folgenden Jahren die Maidan-Bewegung mit vorbereitet haben, ist dem Autor nicht klar. Aber man müsste die CIA und andere Organisationen nachgerade tadeln, wie schlecht sie ihre Aufgaben wahrnehmen, wenn das nicht der Fall gewesen wäre. Das Resultat dieser Entwicklung ist in den obigen Stichworten angesprochen, von denen sich einige ausgeprägt und verstärkt haben.

Ein Traum wird wahr

So weit, so gut – und ein für sich schon großer Erfolg. Aber wer größer denkt, und das müssen das Pentagon und die CIA machen, das ist ihre patriotische Pflicht, kommt bestimmt auf den folgenden Gedanken. Wäre es nicht ein Traum, wenn diese Ukraine etwas macht, was man selber leider zurzeit nicht machen kann und will (Kriege mit direkter Beteiligung der USA sind dort unpopulär geworden): nämlich stellvertretend einen Krieg mit Russland zu führen? Und dieser Traum war vielleicht von Anfang an, ab 1990, in gewissen Köpfen, vielleicht nur als vage Hoffnung. Aber dieser Traum liegt einfach zu nahe, um ihn als vernünftige US-amerikanische Institution nicht zu denken.

Natürlich kann man die Erfüllung von Träumen meist nicht erzwingen, man muss auf den richtigen Moment warten und dann besonnen und zielgerecht darauf hinarbeiten. So ein Moment war der Beginn des Krieges 2013/2014. Ein „Glücksfall“, denn nun waren beide Seiten (also die NATO als moralische Instanz und Russland) schon einmal militärisch involviert. Zitat der Bundeszentrale für politische Bildung:

2015 wurde ein weitreichendes (militärisches) Reformprogramm verkündet, das von der NATO und den westlichen Partnern mit Nachdruck unterstützt wurde und zu Verbesserungen bei der Einsatzfähigkeit der Streitkräfte führte.

Man braucht nicht viel Fantasie, um auf den folgenden Gedanken zu kommen. Wir (die USA und die von ihnen dominierte NATO) treiben die Militärreform in der Ukraine voran, wir schüren den Konflikt innerhalb der Ukraine, wir pumpen viel Geld in die Ukraine. Vielleicht verliert die russische Regierung mal die Nerven und fängt einen direkten Krieg an (indirekt war sie ähnlich wie die NATO zumindest durch Waffenlieferungen und mehr längst involviert). Diesen Moment kann man nicht erzwingen, es kann sein, dass es nicht klappt. Aber man kann viel dafür tun, dass es dazu kommt. Und sich gut auf diesen Fall vorbereiten.

Es ist dazu gekommen. Der derzeitige russische Präsident Putin hat einen Angriffskrieg begonnen und das Völkerrecht gebrochen. Oder war es im Lichte der obigen Annahmen und Überlegungen ein Verteidigungskrieg? Dies bedarf einer sorgfältigen Analyse, die hier nicht gegeben werden kann. Aber ein paar Bemerkungen sollen gemacht werden. Nach dem Briand-Kellogg-Pakt von 1925, den die Sowjetunion unterzeichnet hat und – soweit bekannt – von Russland nie widerrufen wurde, ist der aus nationalen Interessen geführte Angriffskrieg völkerrechtswidrig. Damit stellt sich die Frage, was ein Angriffskrieg ist. Resolution 3314 (XXIX) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 14. Dezember 1974 gibt eine Liste von 7 sehr präzisen Merkmalen eines Angriffskriegs. Da werden ausschließlich Handlungen erwähnt, die Gewalt auf dem Territorium des angegriffenen Landes beinhalten. Insofern ist es juristisch unzulässig (soweit ein juristischer Laie das beurteilen kann), die unter den gemachten Annahmen unterstellten Bemühungen des Westens, die Ukraine zu einer Art Vorposten zu machen, als Angriffskrieg zu bezeichnen. Russisches Territorium wurde nicht angegriffen. Und damit führt Russland keinen Verteidigungskrieg und bricht das Völkerrecht.

In der Logik dieses Textes ist das etwas Erhofftes. Und so gilt es, im Pentagon und bei der CIA, die Gelegenheit beim Schopfe zu fassen. Die Strategie für den erhofften Fall stand natürlich längst fest. Die zentrale Kriegsführung findet im Pentagon statt, das über die besten Informationen verfügt. Ein Schauspieler gibt den heldenhaften Feldherren, was für eine Show im US-amerikanischen Fernsehen. Und man liefert genau die Waffen, die den Ukrainern, die bereit sind, bis auf den letzten Blutstropfen zu kämpfen, erlauben, jeden Angriffsversuch der Russen zurückzuschlagen. Dass ein schöner Nebeneffekt ist, dass man diese Waffen nun endlich im Ernstfall prüfen kann, sei nicht verschwiegen.

Was nicht passieren darf

Wenn die gemachten Annahmen stimmen und der Krieg von den USA und ihren Verbündeten als „Glücksfall“ betrachtet wurde, dann darf er nicht zu Ende gehen, bevor Russland massiv geschwächt ist. Bestand diese „Gefahr“ bereits? Sie bestand, denn im April fanden Friedensverhandlungen unter Vermittlung der Türkei statt, die nach Aussagen der amerikanischen Sicherheitsexpertin Finow Hill zum Entwurf eines Friedensabkommens geführt haben. Dann gab es eine Reise des damaligen Premierministers Boris Johnson nach Kiew – und danach war das Interesse der Ukraine an dem Abkommen nicht mehr vorhanden. Es gibt Presseberichte, auch in der Ukraine, nach denen er „Selenski wissen ließ, dass der Westen (und damit insbesondere die USA) seine Unterstützung für die Ukraine beenden würde, falls er ein solches Friedensabkommen mit Russland schließen sollte. Er befahl ihm also de facto, weiterzukämpfen, und Selenski gehorchte.“

Ob das stimmt, kann zurzeit nicht überprüft werden. Aber die Tatsache, dass der Entwurf danach plötzlich vom Tisch war, deutet darauf hin, dass dieser Besuch eine Rolle spielte. Und in der Logik unserer Annahmen spricht vieles dafür, dass es so war.

Resümee

Der Autor weiß nicht, ob die Annahmen richtig sind. Aber wenn sie es sind und diejenigen, die für die Umsetzung verantwortlich sind, „a good job“ machen, dann könnte es so sein. Dabei ist das Denkschema von „gut“ und „böse“ höchst bedenklich. Weder stehen die USA für das Gute schlechthin noch die Reiche des Bösen wie Russland und China für das Böse schlechthin. Aber wer in diesen Kategorien denkt, ist in der Gefahr anzunehmen: Das Gute darf alles. Und dann sind die obigen Gedanken zur Rolle der USA im Ukrainekonflikt nicht so absurd, wie man zunächst denken könnte.

Titelbild: Shutterstock / Fly Of Swallow Studio


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