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Titel: Eine Million gegen Milliardenprofiteure. Mobilmachung zum Strompreisboykott.

Datum: 11. Januar 2023 um 13:25 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Aufbau Gegenöffentlichkeit, Energiepolitik, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Zahllose Menschen können sich die überteuerte Energie nicht mehr leisten. Sie tun es aber trotzdem, indem sie an anderer Stelle sparen – zum Beispiel beim Essen. Schluss damit, fordert die frisch gegründete Initiative „Wir zahlen nicht“ und ruft dazu auf, die Überweisungen für Strom zunächst stark zu reduzieren und später vielleicht ganz einzustellen. Vorbild ist eine ähnlich gerichtete Kampagne in Großbritannien, der sich auf der Insel schon Hunderttausende angeschlossen haben. Der Startschuss in Deutschland fiel am Dienstag, Ausgang offen. Von Ralf Wurzbacher.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Geplant ist so etwas wie eine kleine Revolution. Und wo sonst ließe sich eine Volkserhebung besser anzetteln als im Roten Salon der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Hier hatte der verstorbene Dramatiker Heiner Müller zu Lebzeiten die Fahne der Arbeiterklasse hochgehalten – hier wird heute der deutschen Energiewirtschaft der Kampf angesagt. Am Dienstag Morgen um zehn Uhr fällt der Startschuss. Vertreter der Initiative „Wir zahlen nicht“ haben Pressevertreter in das Theater im Zentrum der Hauptstadt geladen, um ihr Projekt in der ganzen Republik bekannt zu machen. Ihr Vorhaben scheint verwegen und ist doch alles andere als abwegig. Wenn die Menschen im Land ihre Stromrechnung wegen explodierender Kosten nicht mehr begleichen „können oder wollen“, sollen sie es eben lassen. Oder nur noch das an Geld überweisen, was das Zeug wert ist. Alles darüber behält man für sich.

Wie das geht, erlebt man dieser Tage in Großbritannien, wo die Kampagne „Don`t Pay UK“ schon seit längerem für Aufsehen sorgt und die in derselben schwarz-gelben Aufmachung auftritt wie jetzt auch der deutsche Ableger. Zum Stichtag 1. Dezember sind auf der Insel fast 260.000 Verbraucher in den Zahlungsstreik getreten. Und es könnten noch viel mehr werden. Umfragen im Sommer ergaben, dass drei Viertel der Briten von der Aktion gehört haben, und über drei Millionen Menschen dachten darüber nach, sich ihr anzuschließen. Das macht Eindruck: Eine interne Präsentation des E.on-Konzerns beziffert die möglichen Verluste im Falle einer Massenbeteiligung mit monatlich 43 Millionen Pfund und warnt vor einer „existenziellen Bedrohung“. Prompt blies die Industrie zur Gegenattacke und spannte dafür sogar Wohlfahrtsorganisationen ein, die seither mit dem Gespenst Energieschulden Ängste verbreiten. Motto: Wer nicht zahlt, macht alles nur noch viel schlimmer.

Armut und Milliardenprofite

Aber geht es überhaupt noch schlimmer? Neben den Gründern der deutschen „Zweigstelle“ sitzt auf dem Podium auch Nicole Lindner vom Bündnis gegen Obdachlosigkeit und Zwangsräumungen. Sie klagt über „Existenzangst, die handlungsunfähig und krank macht“. Ihr Monatsabschlag für Gas sei von 85 Euro auf 245 Euro gestiegen, der Preis für Strom von 29 Cent auf 49 Cent pro Kilowattstunde. Für viele Menschen reiche das Geld nicht einmal zum Kauf von Lebensmitteln, die Verdoppelung der Stromkosten ist da der Todesstoß. Das ist buchstäblich gemeint: Lindner befürchtet mehr Energiesperren, Menschen, die in ihren Wohnungen Feuer machen oder sich aus Verzweiflung das Leben nehmen. „Wir stehen vor einer massiven sozialen Krise“, ergänzt Lena Deich von „Wir zahlen nicht“. Alles werde teurer, Lebensmittel, Wohnen, Heizen, schon 2021 hätten Millionen Menschen Probleme gehabt, ihre Stromrechnung zu bezahlen, hunderttausenden Haushalten sei die Leitung gekappt worden. „Und währenddessen fahren Energiekonzerne eine Milliarde nach der anderen ein.“

Über die Unwuchten in puncto Gerechtigkeit klärt das mitgelieferte Pressematerial auf: E.on hat von Januar bis September 4,3 Milliarden Euro an Profit eingestrichen, RWE seine Erlöse im Vorjahresvergleich auf 2,1 Milliarden Euro verdoppelt und Vattenfall den Umsatz um 38 Prozent erhöht. Wie ist so etwas möglich, während sonst überall der Notstand herrscht? Auch das erklären die Aktivisten. Schuld sei das sogenannte Merit-Order-Prinzip, nach dem sich der Preis für Strom am kostspieligsten Kraftwerk bemisst, das Energie ins Netz einspeist. Egal wie billig der Brennstoff sei, am Ende erhielten alle Anbieter den Preis des teuersten Produzenten. Weil die Kosten für Gas massiv angezogen hätten, gehe auch der Preis für Strom durch die Decke. „Und dieser Preis ist immer wieder um mehr als das Zehnfache höher als die tatsächlichen Kosten“, erläutern die Initiatoren. „So lange die Situation bleibt, wie sie ist, zahlen deutsche Stromkunden Jahr für Jahr viele Milliarden, mit denen schlicht der Gewinn der Kraftwerksbetreiber in bislang unvorstellbare Höhen getrieben wird.“

15 Cent – nicht mehr

Das bedeutet außerdem: Der Hauptverantwortliche für die Preistreiberei ist die Fossilindustrie, die mit ihrer schmutzigen und teuren Energiegewinnung marktbestimmend ist und dafür noch fürstlich belohnt wird. Aber auch Betreiber von Windparks und Großsolaranlagen profitieren, weil sie trotz des eigentlich sehr viel günstiger erzeugten Stroms trotzdem die Preise des teuersten Einspeisers kassieren dürfen. Die Regierung versucht die Kosten des „Scheiterns der langjährigen deutschen energie- und klimapolitischen Strategie auf die ganze Gesellschaft abzuwälzen, nachdem die Gewinne längst privatisiert wurden“, moniert Lasse Thiele vom Konzeptwerk Neue Ökonomie. „Es ist an der Zeit, diesen schlechten Deal neu zu verhandeln und endlich die Energiewende konsequent voranzubringen.“

An diesem Punkt kommt die Kampagne ins Spiel, die sich mit vier konkreten Forderungen verbindet: „Wir brauchen einen akuten Schutz für alle vor Stromsperren, einen Festpreis von maximal 15 Cent pro Kilowattstunde, 100 Prozent erneuerbare Energie und die Vergesellschaftung der Energiekonzerne.“ Aber: Wenn 500 Kunden den Aufstand proben, wird es mit den schönen Zielen nichts werden. Ergo muss der Zahlungsboykott eine Massenbewegung werden. Die Schwelle setzten die Aktivisten bei einer Million. Erst sobald sich so viele Menschen zum Mitmachen bereiterklärt haben, wird mit dem Streik losgelegt. Bei dieser „kritischen Masse“ würden Stromsperren technisch und kostenmäßig zu aufwendig für die Versorger. Jemandem den Saft abzudrehen, „funktioniert nicht per Mausklick“, sagt Marie Bach von „Wir zahlen nicht“. Dafür müsse ein Techniker antanzen und die Zufuhr abklemmen, was Bürokratie und Kosten verursache. Bei einer Million Haushalten könnte das nicht zu bewältigen sein und damit auch der Druck auf die Politik so groß werden, dass sie schließlich einlenkt – so das Kalkül. Das könnte aufgehen: Tatsächlich wurden schon 2021 laut Bundesnetzagentur bundesweit vier Millionen Stromsperrandrohungen ausgesprochen, aber nur in rund 235.000 Haushalten wurde der Schritt tatsächlich vollzogen.

Düstere Wohnungen, beheizte Pools

Überhaupt müssen die Streikenden nicht gleich bis zum Äußersten gehen, also den Geldhahn ganz zudrehen. In einem ersten Schritt sollen die Abschlagszahlungen zunächst „massenhaft auf 15 Cent“ pro Kilowattstunde reduziert werden. „Passiert nichts“ und werde auf diesen „Warnstreik“ nicht reagiert, „stellen wir die Zahlungen komplett ein“, bekräftigt Lena Deich. Warum 15 Cent? Der aktuelle Produktionspreis für in modernsten Anlagen erzeugte erneuerbare Energie taxiert die Initiative auf 7,5 Cent pro Kilowattstunde. Weitere 7,5 Cent setze man für die Netzentgelte an. Eigentlich fehlen in der Berechnung noch zusätzliche Abgaben und Steuern, die den Endpreis komplettieren. Die wolle man aber nicht mittragen, „denn einheitliche steuerliche Abgaben für alle sind sozial ungerecht und belasten diejenigen am meisten, die am wenigsten haben“. Den Wegfall der Einnahmen „wollen wir über andere Steuern, wie eine Vermögens- und Erbschaftssteuer, ausgleichen“.

Das unterstreicht einmal mehr den Ehrgeiz der Initiatoren und ihren Willen, sich nicht weiter mit wenig oder gar nichts zufrieden zu geben. Denn bekanntlich gibt es hierzulande gar keine Vermögenssteuer und die Erbschaftssteuer verdient ihren Namen nicht, weil sie die dicksten Erben kaum belangt. Dafür soll es demnächst eine Strom- und Gaspreisbremse geben, verbunden mit der Hoffnung der Ampelregenten, so auch ein Stück weit den Volkszorn zu bändigen. Aber auch das ist mehr Augenwischerei als eine echte Hilfe. Das Instrument sei sowohl zu teuer als auch unsozial, kritisieren die Aktivisten. Die Strompreisbremse deckelt den Preis für 80 Prozent des Vorjahresverbrauchs bei 40 Cent, was vielerorts eine Verdopplung der schon 2022 arg gesalzenen Preise bedeutet. Und wie sollten Menschen an der Armutsgrenze, die in der Regel in dunklen Wohnungen leben, 20 Prozent Strom einsparen, fragt Marie Bach. Demgegenüber stünden „dann Multimillionäre, die nicht nur ihre Villa, sondern auch den geheizten Pool, das Gartenhäuschen und den Rest ihres Anwesens wohl ausgeleuchtet wissen wollen“. Auch deren Stromkonsum würde zu 80 Prozent subventioniert.

999.000 bis ins Ziel

Und wie steht es um die Erfolgsaussichten? Die Initiatoren erinnern an historische Vorbilder: So hätten sich in den 1970er Jahren hunderte niederländische Haushalte geweigert, durch eine spezielle Gebühr neue Atomkraftwerke zu finanzieren. Daraufhin sei die Abgabe abgeschafft worden. Und nach Ankündigung einer Strompreiserhöhung um 70 Prozent hätten 1974 in der italienischen Lombardei 18.000 Arbeiter beschlossen, die Hälfte ihrer Rechnungen nicht zu begleichen. „Die Regierung wagte es nicht, Zehntausenden Menschen den Strom abzustellen und ließ sich auf Verhandlungen ein. Die Erhöhung konnte dadurch stark vermindert werden.“

Warum sollte das nicht auch in Deutschland klappen? Wer mitmachen will – und zunächst geht es ja bloß um ein Absichtsbekundung – kann sich auf der Kampagnenwebseite völlig unverbindlich mit E-Mail-Adresse und Postleitzahl „zum Streik anmelden“. Und sollte die Liste dann länger und länger werden, kommen vielleicht ja irgendwann auch Olaf Scholz und Robert Habeck ins Schwitzen. Aber noch brauchen sie sich nicht sorgen. Stand Mittwochmittag hatten sich nicht einmal 1.000 Kampfbereite registriert. Bis zur Revolution fehlt da noch ein Stückchen.

Titelbild: SrideeStudio/shutterstock.com


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