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Titel: Interview zur Lage in Peru: „Die Regierung konstruiert böswillig einen Diskurs, um die Demonstranten als Terroristen darzustellen“

Datum: 29. Januar 2023 um 14:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Interviews, Länderberichte
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Omar Coronel lehrt an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Pontificia Universidad Católica del Perú (PUCP) in Lima. Er ist außerdem Ko-Koordinator der interdisziplinären Forschungsgruppe für Konflikte und soziale Ungleichheiten (GICO) und spezialisiert auf Proteste und soziale Bewegungen in Lateinamerika. Im Interview spricht der Protestforscher über die Gründe der anhaltenden Proteste in Peru, erklärt, wieso im Süden des Landes deutlich mehr mobilisiert und protestiert wird als im Norden, und beleuchtet die bisherigen politischen und wirtschaftlichen Folgen der Krise.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Aus welchen Gründen finden seit Anfang Dezember letzten Jahres große und landesweite Proteste in Peru statt?

Wir können sie in konjunkturellen und historischen Dimensionen betrachten. Als auslösender Faktor ist der Weggang von Pedro Castillo zu nennen. Er hat sich selbst geputscht, aber viele, vor allem seine Anhänger, sehen dies eher als einen Versuch, seine Wahlversprechen zu erfüllen. Seine unmittelbare Verhaftung wird seitens der Opposition und von Teilen der Gesellschaft als Gegenputsch gewertet. Die erste Welle der Proteste wurde von seinen Anhängern organisiert. Ihnen schlossen sich später breitere Kreise an, die den Kongress ablehnen und Dina Boluarte [Nachfolgerin, da Vizepräsidentin unter Castillo] als Verbündete des Kongresses sehen. Sie hat eine Zustimmungsrate von weniger als zehn Prozent. Außerdem sagte Boluarte anfangs, dass die Wahlen im Jahr 2026 stattfinden würden, was auf große Ablehnung stieß. Die Menschen haben das Gefühl, dass diejenigen, die bei den letzten Wahlen verloren haben, nun an die Macht gekommen sind. Dies und die Repression, mit der die Regierung reagiert, haben dazu geführt, dass sich immer mehr Menschen angeschlossen haben.

Der historische Faktor spielt eher in der zweiten Phase der Proteste eine Rolle. Es geht nun nicht mehr nur um die Freilassung von Castillo oder die Absetzung von Boluarte, sondern auch um andere, eher lokale Forderungen, die es schon immer gab und die zum Beispiel mit Korruption, Bergbau oder Landfragen zu tun haben. Und schließlich haben die Proteste auch mit politischer Ermüdung zu tun. Die aktuelle Krise hat ihre Wurzeln in den Jahren 2016 und 2017, als sich die Exekutive, das Parlament und die Zivilgesellschaft gegenüberstanden. Viele Menschen sind seitdem der Meinung, dass sich etwas ändern muss. Eine der Hauptforderungen der Protestierenden ist deshalb die Bildung einer verfassungsgebenden Versammlung aus wie zuletzt in Chile und im Jahr 2006 in Bolivien.

Warum wird im Süden deutlich mehr mobilisiert und protestiert als im Norden?

Der Großteil der indigenen Bevölkerung lebt im Süden des Landes, vor allem in Puno, Cusco, Ayacucho und Apurímac. Diese Regionen sind schon immer die politisch, sozial und kulturell am stärksten ausgegrenzten Regionen, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Was der Neoliberalismus in den letzten dreißig Jahren erreicht hat, ist die Erschließung dieser Bereiche, während er gleichzeitig große Ungleichheiten erzeugt und verstärkt hat. Im Süden herrscht historisch ein starkes Unbehagen. Dies macht sie ideologisch nicht unbedingt zu Linken, aber es macht sie kritisch gegenüber dem politischen und wirtschaftlichen System sowie dem Zentralismus und der Hauptstadt Lima. Insgesamt war der Süden aus diesen Gründen auch Castillos Wahlhochburg.

Ein weiterer Faktor ist, dass es im Süden eine ausgeprägtere Tradition des Protests und der gemeinschaftlichen Organisation gibt, aktuell zum Beispiel in Form von Blockaden, die nach einem Rotationssystem funktionieren. Während die einen arbeiten, protestieren die anderen. Diese Ebene der Koordinierung ist komplex und existiert aufgrund von Erfahrung und Gemeinschaftsorganisation. Es ist die organisatorische Infrastruktur, welche die Proteste am Leben hält.

Von welchen Seiten geht Gewalt aus und wie erklären Sie den Exzess der Gewalt durch Polizei und Militär gegen die Demonstrierenden, wie vor Kurzem in Juliaca?

Die Proteste waren in einigen Fällen gewalttätig und eine Störung des öffentlichen Lebens, aber das lässt sich nicht verallgemeinern. In jedem Protest, egal ob in Peru oder anderswo, gibt es gemäßigte und radikale Anführer. Die Radikalen sagen zu den Protestierenden: „Ich habe euch doch gesagt, dass die Regierung so handeln wird. Darauf können wir nur mit mehr Gewalt antworten“. Den Gemäßigten gelingt es weniger, die Menschen zu überzeugen; dazu hat die Regierung beigetragen.

Weitere beteiligte Akteure sind Vandalen und Opportunisten, die die Situation ausnutzen, um zum Beispiel zu plündern. Außerdem mischt sich noch die Schattenwirtschaft, insbesondere der informelle Bergbau, ein. Es handelt sich also um sehr heterogene Akteure und dies macht es den Anführern schwer. Für mich ist klar, dass die Proteste weder von der bolivianischen Gruppe Ponchos Rojos noch vom Leuchtenden Pfad ausgehen. Die Regierung irrt sich also gewaltig, oder sie konstruiert böswillig einen Diskurs, um die Demonstranten als Terroristen darzustellen und das Gespenst des Bürgerkriegs der 1980er Jahre heraufzubeschwören. Damit sollen die städtischen Mittelschichten überzeugt werden, welche von den Protesten weit entfernt sind. Einige Regierungsakteure sind sicher dennoch von diesem Diskurs überzeugt und gehen deshalb so gewalttätig vor, womit sie die Grenzen zwischen Demokratie und Diktatur überschreiten. Leider unterstützt ein Großteil der Massenmedien den Diskurs der Regierung.

Was sind die wirtschaftlichen Auswirkungen der Proteste und der politischen Krise für das Land?

Das Ziel der Blockaden und Besetzungen besteht darin, zu stören, das Land zu lähmen, und damit die Regierung zum Zuhören zu zwingen. Es ist eine extreme Maßnahme, die tatsächlich sehr hohe Kosten verursacht.

Mein erster Punkt ist, dass die wirtschaftlichen Probleme in Peru ihre Wurzeln bereits in der politischen Krise von 2016 haben. Diese Krise hat schon die letzten Regierungen gelähmt, Reformen durchzuführen und ein gutes Investitionsumfeld zu schaffen.

Zweitens trifft die Krise insbesondere den Tourismussektor, einen der wichtigsten Sektoren des Landes. Januar und insbesondere der Karnevalsmonat Februar sind die ertragreichsten Monate des Jahres. In den letzten zwei Jahren fielen sie bereits durch die Pandemie weg. Ein erneuter Verlust wäre ein schwerer Schlag für die Wirtschaft, und deshalb ist es das Ziel der Menschen und auch der Demonstranten, dass Boluarte vor Karneval abtritt. Falls das nicht geschieht weiß ich nicht, ob die Proteste andauern werden, denn viele Menschen leben vom Karneval. Dennoch ist die peruanische Wirtschaft im Vergleich zu anderen Ländern in Lateinamerika recht stabil. Unsere Inflation ist eine der niedrigsten auf dem Kontinent und die nationale Zentralbank ist sehr autonom. Die makroökonomische Ordnung bleibt erhalten, trotz der heftigen politischen Krise.

Sehen Sie die von der Opposition geforderten vorzeitigen Neuwahlen (noch vor dem von der Regierung festgelegten Termin im April nächsten Jahres) als wahrscheinlich an?

Es ist dramatisch, denn damit sich neue Parteien und Organisationen bilden können muss mehr Zeit vergehen, auch aus rechtlichen und institutionellen Gründen. Deshalb haben der Kongress und die Nachfolgepräsidentin Boluarte die Wahlen auf April 2024 gelegt. Die Forderung, diese vorzuverlegen, hat mit den über fünfzig Toten, mit den immer wütenderen Demonstranten und einer immer repressiveren Regierung zu tun. Aus diesem Grund fordern viele Menschen außerdem politische Reformen. Aber erstens haben wir keine Zeit und zweitens traue ich dem Kongress diese nicht zu. Es scheint, als wären vorzeitige Wahlen momentan der einzige Weg hin zu einer Deeskalation der Proteste. Das Problem ist, dass mit vorgezogenen Wahlen und denselben Parteien ein Kongress entstehen würde, der dem jetzigen sehr ähnlich wäre.

Die Demonstranten lehnen Boluarte ab, da sie in den Augen der Menschen nicht mehr nur eine Verräterin von Castillo, sondern nun auch eine Mörderin ist. Ihr Rücktritt würde jedoch die unmittelbare Nachfolge-Präsidentschaft von José Williams bedeuten; Präsident des Kongresses und dem rechten Flügel nahe stehend. Er ist ein General im Ruhestand, der in den internen Konflikt verwickelt war. Deshalb bezweifle ich, dass das Volk ihn als Präsidenten akzeptieren würde. Die Protestierenden fordern nicht nur den Rücktritt von Boluarte, sondern auch einen Wechsel im Rat des Kongresses, damit gemäßigtere Akteure das Ruder übernehmen. Der Kongress wird dies aber auf keinen Fall zulassen, es sei denn, die Proteste in Lima werden genauso groß wie im Jahr 2020, was ich für unwahrscheinlich halte.

Zum Abschluss: wie kann die Gewalt und die Krise beendet werden? Haben Sie eine Prognose für die nächste Zeit?

Die Forderungen der Opposition sind sehr unterschiedlich und manchmal sogar widersprüchlich. Es gibt viele zersplitterte Gruppen, die sich in einigen Fällen gegenseitig misstrauen.

Idealerweise sollte es einen Dialog mit Boluarte geben, was mir aber unwahrscheinlich erscheint. Die einzige Möglichkeit, die Proteste zu beenden, bestünde darin, dass sie zurücktritt und ein gemäßigterer Kongressrat einen Raum für Dialog mit den Regionalpräsidenten und den Anführern der Proteste öffnet. Ich glaube nicht, dass dies demnächst passieren wird. Vermutlich wird Boluarte kurzfristig erst einmal an der Macht bleiben während die Proteste andauern und wachsen.

Aktuell mangelt es an legitimen politischen Akteuren. Normalerweise machen sich reife Politiker Sorgen um ihre Zukunft, weil sie an ihrer politischen Karriere festhalten – hier nicht. Wir haben viele Leute, die keiner Partei angehören und die daran denken, in ihren Beruf beispielsweise als Unternehmer zurückzukehren; sie haben also keinen Anreiz, ihre politischen Ziele zu verwirklichen. Die nächsten Wahlen werden sehr polarisiert sein und leider ist die politische Mitte extrem geschwächt, das ist gefährlich für jede Demokratie.

Das Interview erschien zuerst auf Amerika21.

Titelbild: “Keine weiteren Massaker. Der Kampf ist ein Recht. Es lebe der Streik”: Protest gegen die Regierung Boluarte in der Andenstadt Cusco – @WaykaPeru


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