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Titel: Verloren in Syrien

Datum: 9. Februar 2023 um 12:35 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Länderberichte, Wertedebatte
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Das schwere Erdbeben, das am vergangenen Montagmorgen das türkisch-syrische Grenzgebiet erschütterte, hat Reliefweb zufolge bis zu 15.000 Menschenleben gefordert. Die Zahl der Verletzten wird von dem UN-Portal, das über humanitäre Hilfe weltweit berichtet, mit mehr als 30.000 angegeben. Doch mit jeder Stunde steigen die Opferzahlen und die Schäden werden deutlich. Sowohl in der Türkei als auch in Syrien sprachen Überlebende davon, dass sie an den Weltuntergang dachten, als die Erde unter ihnen bebte und ihre Heimat, ihre Nachbarschaft, ihre Familien, ihren Alltag, ihr Lebenswerk und alle Pläne zerstörte. Das Erdbeben ist für die Menschen jenseits aller Grenzen eine schreckliche Erfahrung und eine schwere Belastung. Für das kriegszerstörte, international vom Westen politisch, wirtschaftlich und medial blockierte Syrien ist die Last dennoch größer. Krieg und Wirtschaftskrieg, Flucht und Vertreibung, Tod und Zerstörung – Syrien hat seit 2011 alles verloren, was es aus eigener Kraft aufgebaut hatte. Bei der international versprochenen Hilfe für die Menschen in den verwüsteten Gebieten werden große Unterschiede deutlich. USA, EU und auch die Bundesregierung verteilen ihre Hilfe selektiv. Von Karin Leukefeld.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Türkei

Der Türkei wurde aus 70 Staaten Hilfe versprochen, Millionensummen wurden in Aussicht gestellt oder schon überwiesen. Flugzeuge mit ersten Hilfslieferungen landeten auf Flughäfen in der Türkei, die nicht von dem Erdbeben beschädigt waren. Nach offiziellen Angaben aus Ankara seien 36 Staaten bereits mit Hilfe vor Ort, mehr als 3.300 Rettungshelfer im Einsatz. Allein die EU schickte mehr als 1.000 Helfer in das türkische Erdbebengebiet, Bundesinnenministerin Nancy Faeser erklärte: „Wir stehen eng an der Seite der Türkei.”

Notstromaggregate, Zelte und Decken würden geschickt, das Technische Hilfswerk (THW) sende Bergungs- und Rettungsteams. Sie habe der Türkei angeboten, dass das THW „Camps mit Notunterkünften und Wasseraufbereitungsanlagen zur Verfügung“ stelle, so Faeser. Die Unterstützung werde „eng mit der Türkei koordiniert“. Internationale Medien schickten Reporter vor Ort, um von dem Elend rund um die Uhr zu berichten.

Syrien

Syrien wartet derweil noch auf Hilfe der reichen, westlichen Länder, um die das Land bereits am Tag des verheerenden Erdbebens gebeten hatte. Das Außenministerium in Damaskus hatte sich an „die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen“ gewandt, an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und andere humanitäre Organisationen, um Syrien bei der Bewältigung der schrecklichen Auswirkungen des Erdbebens zu helfen. Der syrische Außenminister Faisal Mekdad versicherte, die Regierung werde alles tun, um den internationalen Organisationen jede notwendige Unterstützung zu leisten, die sie bräuchten, um den Syrern mit humanitärer Hilfe zur Seite zu stehen.

Ein Sprecher der EU-Kommission erklärte allerdings am folgenden Tag, man habe kein Hilfeersuchen aus Damaskus erhalten. Der Katastrophenschutz-Mechanismus sei daher nur für die Türkei ausgelöst worden.

Aus dem Auswärtigen Amt in Berlin war zu hören, die „bereits bestehende umfassende humanitäre Hilfe in Nordwestsyrien durch humanitäre NGOs und UN-Organisationen“ werde fortgesetzt. Das „dort bestehende und etablierte Partnernetzwerk“ werde „auch in der aktuellen Situation helfen, schnell und direkt zu reagieren und die notleidenden Menschen zu unterstützen. Deutschland wird auf der Grundlage des in den nächsten Tagen veröffentlichten UN-Nothilfeplans umfangreiche weitere Hilfe vorbereiten.“ Der Organisation Malteser International wurden weitere 1 Million Euro zugesagt.

Die Bundesregierung, die sich immer wieder rühmt, dass Deutschland zweitgrößter Geber für die notleidende syrische Bevölkerung sei, sucht sich mit den Menschen im Nordwesten Syriens diejenigen aus, denen Hilfe zuteilwerden soll. Die syrischen Opfer – allein in Aleppo sind mehr als 100.000 Menschen obdachlos geworden – werden gespalten. Die Not wird benutzt, um den politischen Druck auf die syrische Regierung zu verschärfen. Der syrischen Regierung wird unterstellt, den vom Erdbeben betroffenen Menschen nicht zu helfen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock erklärte dazu am Dienstag vor Journalisten, in Syrien, „wo die Menschen unter dem Assad-Regime auf keine Hilfe hoffen können“, unterstütze man die humanitären Partner und werde weiter „auf einen humanitären Zugang drängen“.

Baerbock hatte schon am Montag, unmittelbar nach Bekanntwerden der katastrophalen Ausmaße des Erdbebens, gefordert, Syrien solle seine Grenzen in die Türkei öffnen, um Hilfslieferungen zu ermöglichen. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) verlangte im Bundestag am Mittwoch freien Zugang für Hilfsorganisationen in die betroffenen Regionen in Syrien. Und Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte, Deutschland liefere Hilfsgüter in die Türkei, die mit Hilfe der Vereinten Nationen (aus der Türkei) in das syrische Erdbebengebiet gebracht werden könnten. „Jetzt zeigt sich wieder einmal, wie lebenswichtig dieser grenzüberschreitende Zugang ist, für den wir uns seit Jahren (im UN-Sicherheitsrat, kl) einsetzen.“

Scholz spricht von Bab al Hawa, einem Grenzübergang zwischen der Türkei und der syrischen Provinz Idlib, der von Hayat Tahrir al-Scham (HTS), Nachfolger der Nusra-Front, die aus Al Qaida im Irak hervorgegangen ist, kontrolliert wird. Aufgrund der UN-Sicherheitsratsresolution 2678, die im Januar 2023 für 6 Monate verlängert wurde, können unter Aufsicht der UNO Hilfsgüter aus der Türkei nach Idlib gebracht werden. Syrien lehnt die Resolution ab, weil dem Land damit die souveräne Kontrolle über den Grenzübergang genommen wird. Russland, China und andere Staaten unterstützen Syrien und fordern, dass der Grenzübergang geschlossen und Hilfsgüter aus Syrien in alle Teile des Landes verteilt werden. Die von der Türkei und zahlreichen ausländischen Staaten unterstützten bewaffneten Regierungsgegner um HTS in Idlib lehnen das ab.

UN-Sprecher Stephane Dujarric verwies am Dienstag in New York darauf, dass der Grenzübergang Bab al-Hawa und die dort hindurchführende Straße durch das schwere Erdbeben beschädigt worden seien. Die Politik solle „beiseite“ gelassen werden, mahnte der Sprecher. Gefragt sei eine Lösung, wie die Hilfe bei den Menschen ankomme, die alles verloren hätten und in eisiger Kälte ausharren müssten.

In der Stunde der Not

Während Deutschland, EU und USA den Hilferuf aus Damaskus „an die Staaten der Vereinten Nationen“ nicht hörten, reagierten andere Länder sofort. Am Dienstag landete ein Flugzeug aus dem Iran mit 45 Tonnen Hilfsgütern in Damaskus. Teheran bot sowohl der Türkei als auch Syrien die Hilfe des Iranischen Roten Halbmonds und iranischer Rettungstrupps an. Am Mittwoch landeten Flugzeuge aus Indien, Irak und Algerien mit Helfern, Suchtrupps und Hilfsgütern auf den Flughäfen von Damaskus und Latakia. Hilfsgüter kamen auch aus Ägypten und Jordanien per Flugzeug an. Der Oman kündigte eine Luftbrücke an, auch Armenien sagte Hilfe zu. Die Vereinigten Arabischen Emirate wollen ein Feldlazarett errichten und ein Rettungsteam schicken. Russland sandte Rettungsteams, die halfen, Überlebende und Tote in Aleppo zu bergen.

Der Libanon gehörte am Montag zu den ersten Ländern, die Rettungskräfte des libanesischen Zivilschutzes, Freiwillige der Roten-Kreuz-Gesellschaft und privater Hilfsorganisationen sowie Militärtechniker und Ingenieure nach Syrien schickte. Am Mittwoch folgte eine Delegation der amtierenden Interimsregierung unter Leitung von Transportminister Ali Hamieh. Das Land öffnete darüber hinaus seinen Luftraum und die Häfen für Hilfslieferungen nach Syrien und setzt damit ausdrücklich die von der EU und den USA gegen Syrien verhängten einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen außer Kraft. Ziel ist, die Nothilfe für das Land zu beschleunigen. Alle Unternehmen, die Lieferungen und Ausrüstungsgegenstände für Syrien transportierten, seien von Hafengebühren befreit, hieß es am Dienstag in Beirut. Das Gleiche gelte für Luftfracht, die über den Internationalen Rafik-Hariri-Flughafen nach Beirut gelangten. „Das ist das Mindeste, das wir für unser Bruderland in der Stunde der Not tun können“, erklärte der amtierende libanesische Transportminister Ali Hamieh.

Im Namen der Menschlichkeit

Der direkteste Weg der Hilfe für die Menschen in Syrien sind die beiden Flughäfen in Damaskus und Aleppo. Dafür müssten EU und USA ihre einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen gegen Syrien aufheben oder aussetzen. Alena Douhan, UN-Sonderberichterstatterin für die Auswirkungen einseitiger Strafmaßnahmen auf die Menschenrechte der Bevölkerung eines betroffenen Landes, konkret in Syrien, hatte nach einem 12-tägigen Aufenthalt und Dutzenden Gesprächen die sofortige Aufhebung der Sanktionen gefordert. Deren Auswirkungen auf die Bevölkerung kämen einem „Kriegsverbrechen“ gleich.

Auf die Frage der Autorin, ob die Bundesregierung im Rahmen der EU oder einseitig dazu bereit sei, angesichts des Erdbebens der Forderung der UN-Sonderberichterstatterin nachzukommen, verwies das Auswärtige Amt auf eine „Nachreichung zur Regierungspressekonferenz am 11.11.2022“:

„Wir haben die Äußerungen von Frau Douhan zur Kenntnis genommen. Wir wissen nicht, wie – also unter welchen Eindrücken und mit Hilfe welcher Methodik – die Sonderberichterstatterin zu ihren Schlussfolgerungen gelangt ist. Klar ist für uns, dass das Assad-Regime die Verantwortung für die katastrophale Lage in Syrien trägt. Das Regime führt weiter einen brutalen Krieg gegen die eigene Bevölkerung, es begeht beständig Menschenrechtsverletzungen und blockiert jeden politischen Lösungsansatz für den Konflikt. Wir wissen auch, dass das Regime und seine Unterstützer – wie Russland – in zynischer Art und Weise immer wieder die EU-Sanktionen für das Leiden im Land verantwortlich machen. Richtig ist: Die EU-Sanktionen richten sich gezielt gegen diejenigen, die sich in Syrien schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben. Und sie sehen zugleich sehr klare und weitreichende humanitäre Ausnahmen vor.“

Die Realität spricht eine andere Sprache. Es fehlt an allem, was Syrien ursprünglich selber hergestellt hat. Die Sanktionen und Handelsbeschränkungen fördern dagegen Schmuggel und Korruption an und über sämtliche Grenzen in die Türkei, in den Irak*, nach Jordanien und in den Libanon. Es fehlt an Gas und Öl, weil US-Truppen die nationalen syrischen Ölfelder im Nordosten des Landes besetzt halten und Syrien den Zugang verwehren. Ein Grenzübergang nach Jordanien und Irak wird von US-Truppen mit der illegalen Militärbasis Al Tanf (Dreiländereck Syrien-Irak-Jordanien) blockiert, so dass Hilfstransporte aus Irak oder Iran auf dem Landweg nicht nach Syrien gelangen. Der syrisch-irakische Grenzübergang Al Bukamal wird immer wieder von Israel – das sich nicht dazu erklärt – angegriffen. Kürzlich erst war ein Konvoi aus Iran mit Medikamenten und Nahrungsmitteln zerbombt worden.

Der Individual-, Nah- und Fernverkehr im Land ist fast zum Erliegen gekommen, weil Autofahrer und Busse nicht genügend Treibstoff finden oder die hohen Preise auf dem Schwarzmarkt nicht bezahlen können. Inflation und Teuerung ist hoch, die Menschen suchen im Abfall nach Essbarem. Christliche und muslimische Hilfsorganisationen und Stiftungen geben Menschen an ihren Toren zu essen. Ein Falafel-Sandwich, das vor dem Krieg für 25 Syrische Pfund (Lira, damals ca. 50 US-Cent) eine beliebte Zwischenmahlzeit war, die jeder sich leisten konnte, kostet heute 10.000 Lira (ca. 1,50 US-Dollar), und kaum jemand kann sich diesen Snack noch leisten. Die Folgen der Sanktionen sind ausführlich in dem Douhan-Bericht nachzulesen.

Dass die westlichen, reichen Staaten nicht dazu bereit sind, angesichts des Elends und der Sorgen der Menschen und der örtlichen Behörden in Syrien auf ihre einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen und die anhaltende Dämonisierung der syrischen Regierung zu verzichten, wird im Land mit Bitterkeit kommentiert.

„Wir wollen ihr Geld nicht, wir wollen keine Wohltaten“, sagt ein Familienvater, der seinen Namen nicht nennen möchte. „Sie sollen nur die Blockade gegen unser Land aufheben, dann können wir uns selber helfen.“ Die Amerikaner sollten Syrien verlassen, dann könne Syrien wieder die eigenen Ölressourcen nutzen, so der Mann weiter. „Sie klagen uns an, den Menschen nicht helfen zu wollen und uns an Hilfsgütern zu bereichern. Aber sie sind es, die unser Land besetzt halten und sich an unserer Not, an unseren Ressourcen, dem Öl, dem Weizen, der Baumwolle bereichern.“

So viele Jahre hätten die Menschen den Krieg ausgehalten und versucht, ihr Land zu schützen. „Wir haben uns an der Erde Syriens festgeklammert, um unsere Heimat nicht zu verlieren.“ Jetzt habe die Erde selbst sich gegen die Menschen gewandt, die so sehr versucht hätten, sie zu schützen. „Wie sollen wir das verstehen“, fragt der Mann ratlos. „Nach dem Krieg, nach der Wirtschaftsblockade, nach den Angriffen auf Syrien aus dem Ausland – tötet uns jetzt unsere Erde. Warum?“

Es sei „wie das Jüngste Gericht“ gewesen, sagt Fadi I. aus Aleppo, der Fotos schickt: Menschen versuchen, eine Leiter zu bilden, um ein totes Kind zu bergen, das zwischen herabgestürzten Steinbrocken hängt. „Im Namen der Menschlichkeit – beendet die Sanktionen gegen Syrien“, steht darunter. Ein anderes Foto zeigt die Leichen eines Mannes und eines Kindes, die zwischen Betonplatten festhängen und nicht geborgen werden können. Auf einem anderen Foto sind zwei Menschen zu sehen. Der Mann hat seinen Arm schützend über den Kopf eines Menschen gelegt, der sich an ihn schmiegt und einen Arm um das Gesicht des Mannes gelegt hat. Es ist nicht zu erkennen, ob die Person seine Frau oder sein Kind ist. Beide sind tot, von Trümmern und Schutt verschüttet.

„Es war wirklich schrecklich, sehr schrecklich“, sagt Anas B., Student der Architektur in Aleppo, mit unsicherer Stimme. Seiner Familie gehe es gut, „Gott sei Dank“. Anas wohnt in Neu Aleppo, wo die Häuser nicht so hoch und stabil gebaut sind. Während des Krieges wurde dort nicht so viel zerstört wie im Osten und im Zentrum der Stadt, wo die meisten Erdbebenopfer zu beklagen sind. Wegen der vielen Nachbeben habe die Familie zwei Nächte im Auto geschlafen, erzählt Anas. Jetzt seien sie damit beschäftigt, den Überlebenden zu helfen. „Wir sammeln Decken, warme Kleidung, bereiten Essen zu – ich hoffe, dass wir helfen können. Aber es ist so viel, so schrecklich.“ Anas steckt in den Abschlussprüfungen seines Studiums, doch nun wisse er nicht, wo sie studieren könnten. Der Stadtrat von Aleppo hat Schulen zu Notunterkünften erklärt, die Universitäten sind geschlossen. „Wir sind ratlos, wir wissen nicht, wie das Studium weitergehen kann“, sagt Anas und verstummt.

Nachtrag: Am Mittwochnachmittag wurde bekannt, dass die syrische Regierung sich direkt an die EU gewandt und einen Antrag auf Katastrophenhilfe gestellt hat. Man habe eine „lange Liste gängiger Katastrophenschutzgüter“ erhalten, sagte EU-Kommissar Janez Lenarcic, der in Brüssel das Ressort für Krisenmanagement leitet. Gefragt werde nach Medikamenten, Lebensmitteln und nach medizinischen Geräten. Er ermutige die EU-Staaten, auf den Antrag aus Syrien zu reagieren, sagte der Kommissar. Holland erklärte sich bereit, 10 Millionen Euro zu überweisen. (kl)

* Korrektur 10.2.2023: In einer früheren Version stand an dieser Stelle irrtümlich Iran.

Titelbild: mustafaclk/shutterstock.com


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