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Titel: “Die halbierte Gesellschaft”

Datum: 15. November 2005 um 16:35 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Ein ausgezeichneter Kommentar VON WOLFGANG STORZ, Chefredakteur der Frankfurter Rundschau und Mitautor des Buches „Wider die herrschende Leere – Neue Perspektiven für Politik und Wirtschaft“. Schon der Kommentar zeigt die analytische Kraft des Autors.

“Die Großkoalitionäre haben sich entschieden: Sie sehen keinen anderen Ausweg, als die Bürger stärker zu belasten, um ihrem vorrangigen Ziel nahe zu kommen, die Staats-Schulden zu verringern. Irgendwie soll so (oder trotzdem?) auch Wachstum initiiert werden, aber das bleibt – trotz eines angekündigten Investitionsprogrammes – im Nebulösen. Damit haben die Großkoalitionäre im Grundsatz aber auch entschieden, was für sie nicht im Mittelpunkt steht: Alles zu tun, um diese Gesellschaft zusammenzuhalten.

Das Projekt Hartz IV kostet den Staat statt 14 Milliarden Euro fast das Doppelte. Die herrschende Interpretation: Da ist ganz schön viel Missbrauch dabei. Die andere Lesart: Hier kriecht die Armut hoch. Viel weniger Hartz IV-Empfänger als die Politik dachte, haben noch Vermögen oder Einkommen, das ihnen angerechnet werden kann. Und viel mehr Menschen als geplant haben sich berechtigt für den Empfang des Arbeitslosengeldes II gemeldet; auch diejenigen, die aus Scham die frühere Sozialhilfe nicht beantragen wollten.

Die jüngste Pisa-Studie belegt, dass es mit der Gerechtigkeit im Bildungssystem nicht weit her ist. Die Vorteile für Kinder aus den Oberschichten haben – bei gleichem Lernvermögen und Wissensstand – zugenommen. Bereits frühere Studien haben belegt, wie stark Arbeiterkinder benachteiligt werden.

Es gibt nicht nur diese beiden Befunde, die belegen: Diese Gesellschaft zerfällt zunehmend in zwei Welten. Es gibt ein wachsendes Unten und ein wachsendes Oben. Denn zeitgleich mit Armut steigt der private Reichtum. Und mit dem privaten Reichtum steigt die Armut der öffentlichen Hand, so dass es auch weniger öffentliche Wohlfahrt für die privaten Nicht-Wohlhabenden und Armen gibt. Und: Der Staat hat sich selbst noch nicht auf die neue Lage umgestellt, subventioniert er doch unverändert noch vergleichsweise wohlhabenden Mittelschichten – ein Stichwort: Ehegatten-Splitting – und konzentriert die Mittel nicht auf die neuen Schichten der Nicht-Wohlhabenden und in Unsicherheit Lebenden.

Die eine Welt hat mit der anderen wenig zu tun. Die einst starke Mitte bröselt und bröckelt und kämpft darum, nicht in die untere Welt abzustürzen. Sie bröselt auch, weil sie an ihrem Leitmotto zweifelt: Leistung lohnt sich. Ach ja? Wo denn?

Wir reden nicht von Hungersnöten. Wir leben in einer der reichsten Wirtschaftsnationen. Wir reden von relativer Armut. Wir reden davon, dass vieles in der einen Welt seltener Luxus ist und in der anderen selbstverständlicher Alltag: Kultur, Bildung, Sicherheit, Reisen. Der “Wohlstands- und Erlebnisgraben”, wie ihn der Parteienforscher Franz Walter diagnostiziert hat, wird tiefer. Ein Facharbeiter, der heute entlassen wird, erhält für ein Jahr Arbeitslosengeld I. Danach bekommt er im Monat nur noch rund 350 Euro Arbeitslosengeld II plus Mietzuschuss und fällt ins materielle und gesellschaftliche Nichts.

Wo Staat und Wille zum Gemeinsamen geschwächt sind, nehmen die Teilsysteme der Gesellschaft, allen voran die Wirtschaft, nur noch die Menschen auf, die sie unbedingt benötigen und behalten nur die, die funktionieren. Die Zahl der Überflüssigen, der Ausgegrenzten, nur zeitweilig Benötigten steigt. Hunderttausende Langzeitarbeitslose, die vielen Gering- und Nichtqualifizierten, die Älteren, die ab 45 keine Arbeit mehr erhalten. Ausländische Jugendliche, die vielen Projekt-Arbeiter, die alle drei Monate ein neues erhalten – oder auch nicht. Die hunderttausenden geringverdienenden Freiberufler.

Darauf müssen materielle Antworten gegeben werden. Zuerst geht es jedoch um Mentalitäten, Einstellungen, um Kultur. Hartz IV-Empfänger und Parasit – wenn ein herausragender Politiker wie Wolfgang Clement mit dieser Wort-Paarung bewusst spielen lässt, ohne dass er von der Elite dieses Landes verachtet wird, wird deutlich, wie verächtlich die da oben auf den Teil der Masse herabblicken, der nicht mithalten kann oder gerade nicht gebraucht wird.

Das Interesse der Eliten am Zusammenhalt dieser Gesellschaft nimmt erkennbar ab. Und die Politik erkennt das Problem der Spaltung dieser Gesellschaft noch nicht einmal als eigene Aufgabe an. Sie blickt über sie hinweg.“

Copyright © Frankfurter Rundschau online 2005
Erscheinungsdatum 14.11.2005

P.S.: Das erwähnte Buch ist von Publik-Forum und Frankfurter Rundschau gemeinsam verlegt. Es ist im August 2005 erschienen und enthält neben Beiträgen von Wolfgang Storz, Stephan Hebel und Wolfgang Kessler auch Beiträge anderer Autoren und eine Zusammenstellung der wichtigsten Aussagen aus den Wahlprogrammen der Parteien. Das erleichtert den Vergleich mit dem, was jetzt im Koalitionsvertrag herausgekommen ist.
Die Abschnitte über die Perspektiven enthalten interessante Anregungen. Ordentlich gerieben habe ich mich an den Beiträgen von Wolfgang Kessler, verantwortlicher Redakteur des Publik-Forum, zur Wirtschaftspolitik. Sie enthalten für mich zu viele der jetzt gängigen Stereotypen: die Arbeitsgesellschaft löse sich langsam auf, auf Wachstum könne man sich nicht verlassen, die Globalisierung habe völlig Neues gebracht, und so weiter. Wer wissen will, wie eine Gruppe von Autoren und Intellektuellen, die wahrlich keine Neoliberalen sind, denken, wird von Wolfgang Kessler umfassend ins Bild gesetzt. – Diese kritischen Anmerkungen sollen nicht den Eindruck verwischen, dass die Autoren ansonsten zeigen, dass wir nicht alternativlos zu sein bräuchten.


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