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Titel: Nordstream-Sprengung als Geburtstagsgeschenk für ukrainischen Oligarchen? Die neuste „Theorie“ im Mainstream

Datum: 14. März 2023 um 12:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Medienkritik, Terrorismus
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Monatelang zeigten sich bundesdeutsche „Leitmedien“ komplett desinteressiert an der Aufklärung des Terroranschlags gegen eines der teuersten zivilen Infrastrukturprojekte Europas. Das änderte sich schlagartig, als am 8. Februar 2023 der Investigativjournalist Seymour Hersh eine Recherche veröffentlichte, in welcher er nachzeichnete, wie laut seinen Informationen US-Spezialeinheiten auf direkten Befehl von US-Präsidenten Joe Biden die Sprengung durchführten. Danach gab es kein Halten mehr. Erst wurde versucht, Hersh und seine Recherche zu diffamieren, dann wurde mit eigenen „Recherchen“ nachgelegt. Keine „Theorie“ war zu abwegig, Hauptsache die USA waren nicht mehr als potenzielle Täter im Fokus. Den mit Abstand absurdesten Erklärungsansatz hat jetzt die Süddeutsche präsentiert. Von Florian Warweg.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

„Schon kurz nach dem Attentat auf die Pipelines soll unter skandinavischen Geheimdiensten die Information kursiert sein, dass die Sabotage möglicherweise nicht das Werk irgendeines Geheimdienstes war – sondern eine private Operation, durchgeführt von ehemaligen Militärangehörigen, in Auftrag gegeben und finanziert von einem ukrainischen Oligarchen. Auch ein Name machte früh die Runde. Es handelt sich um einen sehr prominenten Geschäftsmann, der früher in der Politik aktiv war. Die Nord-Stream-Anschläge fanden am 26. September statt – seinem Geburtstag.“

So die Süddeutsche Zeitung (SZ) in einem Artikel unter der Überschrift „Pipeline-Sabotage: Andromeda und das Stochern im Nebel“, veröffentlicht am 12. März.

Der einzige bekannte ukrainische Oligarch, der zudem „früher in der Politik aktiv war“ und am 26. September Geburtstag hat, ist der Schokoladenfabrikant und ehemalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko. Dieser wurde am 26. September 1965 in Bolhrad, Oblast Odessa, geboren.

Jener ukrainische Ex-Präsident und Oligarch soll also laut SZ mit Verweis auf „skandinavische Geheimdienste“ anlässlich seines 57. Geburtstags die Zerstörung der Nordstream-Pipelines in Auftrag gegeben haben. Was man sich halt so gönnt als gelangweilter Oligarch in voller Midlife-Crisis. Mit einem geschätzten Vermögen von 1,6 Milliarden US-Dollar (letzte Forbes-Schätzung von 2021) sollte Poroschenko, der als Inhaber der Unternehmensgruppe Ukrprominvest über Beteiligungen im Auto- und Schiffbau, der Schokoladenherstellung sowie im Rüstungs- und TV-Sektor verfügt, zumindest tatsächlich über das für so eine Operation nötige Kleingeld verfügen.

Doch damit hört es auch schon mit den Indizien auf, die diese Räuberpistole der SZ stützen könnten.

Allein die Vorstellung, dass ein ukrainischer Oligarch, an allen Geheimdiensten und Militärs vorbei, so eine hochkomplexe Operation im bestüberwachten Binnenmeer der Welt unter Nutzung von militärischem Spezialsprengstoff, der laut dänischen und schwedischen Ermittlern 2.000 Kilogramm TNT-Äquivalent entsprach, hätte durchführen können, ist absurd. Denn das ist der SZ wie auch den an der vorherigen „Recherche“ beteiligten Medien wie New York Times (NYT), ARD und Zeit immens wichtig zu betonen: Staatliche ukrainische oder gar US-amerikanische Stellen seien auf keinen Fall in den Terroranschlag involviert gewesen. So heißt es beispielsweise bei der NYT dazu:

„US-Beamte erklärten, sie hätten keine Beweise dafür, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskij oder seine Top-Leute an der Operation beteiligt waren.“

Bei dem für den Anschlag verwendeten Schiff, da folgt die SZ der vorgegebenen Räuberpistole von ARD und Zeit, soll es sich ausgerechnet um eine Segelyacht vom Typ Bavaria Cruiser 50 mit dem Namen Andromeda gehandelt haben, gechartert vom Liegeplatz in Rostock aus. Dabei handelt es sich um genau dieses Schiff der Verleihfirma Mola Yachting.

Der Tiefgang der Segelyacht wird mit 2,25 Meter, die maximale Zuladung einer Bavaria Cruiser 50 mit 4.600 Kilogramm angegeben, die maximale Treibstoffmenge mit 380 Liter Diesel und der Verbrauch des Motors mit 18 Liter die Stunde. Die Segelyacht soll am 6. September in See gestochen und über Wiek auf Rügen (erreicht man nur über den Wieker Bodden, dieser verfügt außerhalb der Fahrrinne aber lediglich über eine Durchschnittstiefe von 2 Meter, der Hafen selbst über 2,8 Meter) dann die dänische Insel Christiansø angesteuert haben. Danach sei das Segelschiff wahrscheinlich zwei Wochen ohne Zwischenhalt unterwegs gewesen.

Laut der NYT, dies deckt sich auch mit den öffentlichen Aussagen dänischer und schwedischer Ermittler, sollen 500 Kilogramm Sprengstoff pro Explosion zum Einsatz gekommen sein. Das wären also mindestens 2.000 Kilo Sprengstoff für die vier nachweislich registrierten Explosionen.

Wir halten fest: Ausgerechnet eine 15 Meter lange Segelyacht mit einer empfohlenen Zuladungskapazität von maximal 4,6 Tonnen soll angemietet worden sein, um 2 Tonnen Sprengstoff und die für Tiefseetauchen notwendigen Dutzenden von Atemgasflaschen und weiteres für diese Aktion nötiges Gerät zu transportieren. Als Sprengstoff kommt laut Experten C4 (von dieser Variante spricht Hersh) oder Semtex in Frage. In beiden Fällen wird der Sprengstoff zur besseren Handhabbarkeit üblicherweise in 500 Gramm-Packungen vertrieben. Für nur eine einzige mutmaßlich zum Einsatz gekommene Sprengladung müsste man folglich 1.000 einzelne Sprengstoffpäckchen zusammenfügen. Bei vier Sprengladungen entspräche das 4.000 Päckchen mit einem Gesamtgewicht von 2 Tonnen. Alleine schon Volumen und Gewicht des Sprengstoffs und dessen notwendige Verladung sprechen komplett dagegen, dass es sich, wie von ARD, ZEIT und SZ mit Verweis auf „Ermittlungsergebnisse“ kolportiert, bei der „Andromeda“ wirklich um das Schiff handelt, „das die Geheimoperation auf See durchgeführt haben soll“.

Dazu kommt die Absurdität der Route. Warum sollte ein Kommando, welches ein über 17 Milliarden Euro teures Pipelineprojekt in die Luft sprengen will und dafür zwei Tonnen Sprengstoff an Bord hat, mit einer Segelyacht mit mindestens 2,3 Meter Tiefgang ausgerechnet Wiek anfahren, was zudem gar nicht auf der direkten Route nach Bornholm liegt? Wiek liegt wie bereits erwähnt mitten im Wieker Boden, dessen Durchschnittstiefe beträgt lediglich zwei Meter. Selbst die Tiefe des Hafenbeckens in Wiek wird mit nur 2,8 Meter angegeben.

Zwar verfügt die eigentliche Fahrrinne über mindestens drei Meter Tiefe, doch einmal versehentliches Ausscheren aus der ausgebaggerten Fahrrinne reicht und das „Geheimkommando“ säße im Bodden fest. Welche auch nur halbwegs zurechnungsfähige Kommando-Truppe würde so ein Risiko eingehen?

Man könnte natürlich sarkastisch einräumen, dass eine Fahrrinne von über drei Metern immerhin die Route Wiek wahrscheinlicher macht als die erste und mittlerweile komplett korrigierte ARD-Version. Dort war zunächst mit Verweis auf mehrere (!) Quellen, die Rede von Wieck am Darß. Der dortige Bodden verfügt allerdings über keinerlei Fahrrinne und ist maximal zwei Meter tief:

Ebenfalls fragwürdig ist die Darstellung in deutschen Leitmedien, vorneweg der ARD, die in Bezug auf die Zusammensetzung des Kommandos unter anderem von „Tauchassistenten“ sprechen:

„…dieses Kommando aus sechs Personen bestand, mutmaßlich einem Kapitän, zwei Tauchern, zwei Tauchassistenten und einer Ärztin.“

Die ARD stellt hier Tauchassistenten als Menschen dar. Generell versteht man unter „Tauchassistent“ aber mitnichten eine Person, sondern „ein manngeführtes Unterwasserfahrzeug für Fortbewegung und Anwendungen in Wissenschaft, Industrie und Militär“.

Angesichts der bisherigen Peinlichkeiten und notwendigen Korrekturen in der „Recherche“ von ARD und Zeit ist es nicht völlig auszuschließen, dass auch in dem Fall ein nicht mit der Materie vertrauter Redakteur aus der durchgestochenen Information „zwei Tauchassistenten“ einfach Personen machte, obwohl das üblicherweise so bezeichnete Unterwasserfahrzeug gemeint war. Gleichzeitig ist die Nennung von nur zwei Tauchern als extrem fragwürdig einzuordnen. Konsultiert man Taucher nach deren Einschätzung, so wird immer wieder angeführt, dass es ein Ding der Unmöglichkeit sei, so eine komplexe Operation, die das Anbringen von Sprengstoff an mindestens vier verschiedenen Stellen in bis zu 80 Meter Tiefe in kompletter Dunkelheit und über eine Entfernung von 80 Kilometer hinweg darstellt, von lediglich zwei Tauchern durchführen zu lassen.

Wirklich amüsant wird es, wenn man sich anschaut, welche Argumente der ARD-Faktenfinder ins Feld geführt hat, um die Recherche von Seymour Hersh ad absurdum zu führen und wie dieselben „Argumente“ bei der eigenen „Recherche“ plötzlich überhaupt keine Rolle mehr spielen. In dem entsprechenden Tagesschau-Beitrag „Weitere Unstimmigkeiten in Hersh-Bericht“ vom 23. Februar wird unter anderem kritisiert, dass auf Videos der von Hersh in seiner Recherche erwähnten Kriegsschiffe nach Ende des NATO-Manövers Baltops beim Einlaufen in den Kieler Hafen keine für eine solche Operation nötige Dekompressionskammer für die Taucher zu erkennen gewesen sei. Bei der dann rund zwei Wochen später von der Tagesschau in Umlauf gebrachten eigenen „Recherche“ ist die Notwendigkeit einer Dekompressionskammer aber gar kein Thema mehr. Klar, wie soll eine Dekompressionskammer auch Platz finden auf einer 15-Meter-Segelyacht. Um sich eine Vorstellung vom Umfang einer solchen Anlage zu machen, anbei ein Foto einer durchschnittlich großen Dekompressionskammer:

Das Foto stammt von einem Kreuzer der russischen Pazifikflotte und bezeugt zugleich die Absurdität der Argumentation des ARD-Faktenchecks. Bei zahlreichen Kriegsschiffen sind solche Dekompressionskammern unter Deck integriert. Die Tatsache, dass man bei den von der ARD verlinkten Hobby-Videoaufnahmen, zudem mindestens 10 Meter von den Schiffen entfernt und ausschließlich aus seitlicher Perspektive aufgenommen, keine außen angebrachte Dekompressionskammer sehen kann, ist nun wirklich kein ernsthafter Gegenbeleg für die Darlegungen von Hersh. Wer sich den Spaß machen will, kann gerne einen Blick auf das Video werfen, welches die ARD als „Widerlegung“ von Hersh in ihrem Faktenfinder-Artikel verlinkt hat:

Fazit

Der Umgang mit dem Nordstream-Terrorakt wirft ein erschreckendes Licht auf den Zustand der deutschen Medienlandschaft. ARD, ZEIT, Süddeutsche, Der SPIEGEL, kurz gesagt das gesamte Spektrum der deutschen „Leitmedien“, haben sich im Zuge der Nordstream-Ermittlungen dafür instrumentalisieren lassen, von Geheimdiensten und anderen staatlichen Behörden durchgestochene „Informationen“ in die Öffentlichkeit zu streuen, ohne dies in irgendeiner Form kritisch zu reflektieren. Im Gegenteil, die genannten Medien haben sogar die Chuzpe, das allem Anschein nach völlig unverifizierte Durchreichen von Informationen „aus Ermittlerkreisen“ (siehe das Beispiel „Wieck am Darß“) dem Leser als eigene „Recherche“ zu verkaufen.

Dass staatliche Behörden und insbesondere Geheimdienste ihre ganz eigenen Agenden haben und dafür auch im Zweifel Journalisten missbrauchen, scheint den sonst so auf ihre Reputation bedachten Redaktionen in Berlin, Hamburg und München nicht in den Sinn zu kommen. Doch ist das wirklich nur Naivität?

Titelbild: shutterstock / Ground Picture


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