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Titel: Leipziger Buchmesse 2023: Statt Dialog verbaler Feldzug gegen Russland

Datum: 2. Mai 2023 um 10:00 Uhr
Rubrik: Kultur und Kulturpolitik, Strategien der Meinungsmache, Veranstaltungshinweise/Veranstaltungen
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Mehr als 270.000 Besucher, etwa 2.000 Aussteller aus 40 Ländern und 3.000 Veranstaltungen – so zeigte sich die Leipziger Buchmesse 2023. Doch die Zahlen und die Besuchermassen samt überwiegendem Wunsch nach Unterhaltung konnten über eine Fehlstelle nicht hinwegtäuschen: Über Russland wurde viel geschrieben und geredet, aber das Land selbst war nicht vertreten. Tilo Gräser war in Leipzig auf Spurensuche.

Der Krieg in der Ukraine soll für Russland das sein, was der Krieg in Afghanistan für die Sowjetunion war: das Ende. „Das ist mein Wunsch und fast eine Prognose“, sagte der Schriftsteller und Osteuropa-Experte Olaf Kühl am Samstag auf der Leipziger Buchmesse. Er tat das auf der großen ZDF-Bühne in einem „Kulturzeit-Talk“ zum Ukraine-Krieg. Was der Autor des Buches „Z – Kurze Geschichte Russlands, von seinem Ende her gesehen“ (Rowohlt Berlin) von sich gab, war symptomatisch für die diesjährige Buchmesse in Leipzig.

Zuvor hatte eine Jury den „Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung 2023“ an Maria Stepanova verliehen. Die russisch-jüdische Autorin, derzeit im deutschen Exil, bekam den Preis für ihren Gedichtband „Mädchen ohne Kleider“ aus dem Jahr 2022. „Sie verhilft dem nicht-imperialen Russland zu einer literarischen Stimme, die es verdient, in ganz Europa gehört zu werden“, erklärte die Jury. Der Preis sei ein „Aufruf zu Verständigung und Differenzierung“, behauptete die Lyrikerin in ihrer Dankesrede am Mittwoch. 

Was davon zu halten ist, zeigte dabei nicht nur ihre Aussage, sie sei durch Geburt und Staatsangehörigkeit „mit einem Land verbunden, das jetzt versucht, Europa zurück in die Vergangenheit zu werfen – zurück zu einem Punkt Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, an dem die Sprache des Hasses versucht hatte, universell zu werden“. Die Preisträgerin sagte in einem Interview am Folgetag mit der „Frankfurter Rundschau“ (FR): „Allgemein aber können wir jetzt nicht auf einen Dialog hoffen. Erst muss der Krieg zu Ende sein. Die Ukraine muss gewinnen. Dann lässt sich das Gespräch vielleicht fortführen.“

Russische Abwesenheit

Die Preisverleihung in Leipzig in diesem Jahr setzte fort, was sich mit der Verleihung des „Friedenspreises des Deutschen Buchhandels“ zur Frankfurter Buchmesse im Herbst 2022 zeigte: Der war an den ukrainischen Schriftsteller Sergij Schadan gegangen, der in seinem Buch „Himmel über Charkiw“ aus demselben Jahr offen Hass propagierte: „Die Russen sind Barbaren, sie sind gekommen, um unsere Geschichte, unsere Kultur, unsere Bildung zu vernichten.“ Und weiter: „Brennt in der Hölle, ihr Schweine.“ Literatur, die sich an die Front wirft und zum Krieg aufruft, statt Verständigung und Dialog zu ermöglichen.

Da wirkte es anachronistisch, dass am Stand des Schulbuchverlages Cornelsen eine ganze Lehrbuchreihe für den Russischunterricht mit dem Titel „Диалог“ (Dialog) präsentiert wurde. Nicht nur, dass damit die russische Sprache vermittelt wird. Das geschieht auch noch mit einem Wort als Titel, von dem auf der diesjährigen Buchmesse in dem Zusammenhang kaum die Rede war. Dagegen erhielt zwar eine russische Autorin einen Preis, aber ihr Land war offiziell nicht vertreten. Das zeigte nicht nur die fehlende russische Trikolore unter den Flaggen am Eingang zur Messe.

Russische Verlage hätten sich zur Buchmesse nicht angemeldet, erklärte auf Nachfrage der Sprecher der veranstaltenden Leipziger Messe GmbH, Andreas Knaut. Zudem seien russische Autoren „sehr wohl vor Ort“, sagte er mit Verweis auf Stepanova. Die hatte im FR-Interview dagegen erklärt: „Ich habe nie und in keiner Weise Russland repräsentiert, als Schriftstellerin stehe ich grundsätzlich nur für mich selbst, für niemanden sonst.“

Nicht einmal russische Klassiker waren an den Ständen insbesondere der großen Verlage zu finden. Dafür neben Literatur von einzelnen „Dissidenten“ wie Stepanova umso mehr eine ganze Reihe von Büchern, die, ähnlich dem von Kühl das heutige Russland als „toxisch“, die russische Politik als „Revanche“ beschreiben sowie die angebliche „Moskau-Connection“ in der bundesdeutschen Politik bloßlegen wollen. Und natürlich Russlands Präsident Wladimir Putin per „Schwarzbuch“ als den Bösen schlechthin dämonisieren. Damit waren die Regale von Verlagen wie C.H. Beck, Rowohlt, Piper oder Suhrkamp gut gefüllt. Ebenso mit solchen, die die Kiewer Sicht unhinterfragt wiedergeben. Das galt auch für eine Reihe von Veranstaltungen im Begleitprogramm „Leipzig liest“.

Während Russland mit seiner Literatur und Kultur kaum vertreten war, gab es eine ukrainische Präsenz fast im Übermaß. Das überdeckte beinahe, dass Österreich das Gastland der diesjährigen Buchmesse in Leipzig war. Dessen Fahne wehte am Messeeingang bezeichnenderweise auch nicht neben der des Gastgeberlandes Deutschland. Diesen Platz hatte symbolträchtig die blau-gelbe Flagge der Ukraine inne.

Allgegenwärtiger Krieg

Mehr als 270.000 Messebesucher drängten sich an den vier Tagen vom 27. bis 30. April in Leipzig durch die Messehallen mit den Ständen der mehr als 2.000 Aussteller und Verlage aus 40 Ländern. Etwa 3.000 Veranstaltungen des Begleitprogramms „Leipzig liest“ fanden mehr oder weniger Interesse. Die wenigsten der Besucher haben sich wahrscheinlich für solche Details wie fehlende Fahnen oder ein abwesendes Land interessiert.

Das dürfte erst recht für die vor allem jüngeren Besucher der gleichzeitigen „Manga-Comic-Con“ gelten. Für diese waren bunt maskierte und kostümierte Menschen in die Phantasieidentitäten ihrer Comic- und Manga-Helden geschlüpft. „Hauptsache, sie ziehen nicht in den Krieg“, sagte jemand, der das Treiben beobachtete. Dabei übersah er aber ein kleines Detail: Viele der Phantasiefiguren waren mit Waffen ausstaffiert und viele der Comic-Vorlagen handeln von Kriegern.

Aber Literatur könnte eben Verständigung und Dialog ermöglichen und befördern – und Frieden. Wenn das gewollt wäre und sie nicht als Waffe der Propaganda missbraucht würde. Das gilt gerade angesichts der in Leipzig verkündeten Ansprüche, auch von Preisträgerin Stepanowa. Die äußerte dagegen Verständnis, dass „ukrainische Autoren heute sagen, es ist ihnen im Moment nicht möglich, mit mir auf einer Bühne zu sitzen“.

Autoren aus der Ukraine saßen dann auch meist unter sich, wie etwa am Freitag Kateryna Mishchenko und Dmitrij Kapitelman am Stand des „Literaturbüros NRW“. Letzterer fand es unverständlich, dass auf den deutschen Bestsellerlisten Bücher zu finden sind, „wo die Autoren uns erklärt haben, dass die Deutschen besser wissen, was Krieg ist und deswegen keine Waffen in die Ukraine gehen sollten“. Mishchenko bedankte sich, dass die Bundesrepublik eine Million Ukrainer aufgenommen habe – „das sind gerettete Leben“.

Zum Eindruck einer antirussischen und proukrainischen Stimmung in den Messehallen und bei „Leipzig liest“ trug der große Ukraine-Stand des Goethe-Instituts, gefördert von deutschen und ukrainischen Institutionen, in Halle 5 bei. Dort wurde unter anderem darüber diskutiert, was die Ukraine für den kulturellen Wiederaufbau braucht – während Kiew derzeit einen nationalistischen Kreuzzug gegen alles Russische im Lande führt. Die Frage nach den Gründen für die Überrepräsentanz der Ukraine und von ukrainischen Autoren ließ Messesprecher Knaut unbeantwortet. Ebenfalls die, ob es so etwas bei vorherigen Kriegen wie den der NATO 1999 gegen Jugoslawien, den gegen Afghanistan, gegen den Irak, gegen Libyen und andere gab.

Mühsame Spurensuche

Die Suche nach Spuren Russlands und der russischen Literatur auf der Buchmesse – angeregt durch die Preisvergabe an Stepanova – war mühsam, ergab aber doch einige Treffer. Dabei half weniger die App der Buchmesse, die den traditionellen gedruckten Messekatalog ersetzte. Es war eher der Zufall, der zum Stand von Reinhard Scheffler in Halle 5 führte. Dort präsentierte er vier Bücher: Eines mit 1.000 Textstellen aus allen Werken von Fjodor Dostojewski sowie drei, in denen Scheffler unvollendet gebliebene Werke des russischen Schriftstellers fertig schrieb. Darunter das Buch „Njetotschka Neswanowa“, dessen erste Kapitel Dostojewski in den Jahren 1848/49 in der „Petersburger Zeitung“ veröffentlichte. „Nicht jeder Russe ist garstig“, stand auf dem kleinen Werbezettel, den Scheffler verteilte.

In derselben Halle hatte sich der Berliner Verlag „Wostok“ platziert. Dieser gibt neben der gleichnamigen Zeitschrift mit „Informationen aus dem Osten für den Westen“ Reiseführer zu russischen und anderen Regionen in ehemaligen Sowjetrepubliken sowie Literatur und Sachbücher auch russischer Autoren heraus. „Wostok“-Redakteur Peter Franke berichtete im Gespräch, nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine hätte eine Reihe der Abonnenten gekündigt – weil sie die Sicht aus dem Medienmainstream vermissten. Doch die Zeitschrift stelle sich nicht auf eine Seite, betonte Franke. Kopfschüttelnd kommentierte er die politische, mediale und gesellschaftliche Abkehr in Deutschland von Russland. Das macht es für den kleinen Verlag aus Berlin zunehmend schwerer. Aufgeben komme aber nicht in Frage, so Franke.

Ein anderes Beispiel: Bestätigten Informationen nach bekam der Chefredakteur der “Moskauer Deutschen Zeitung”, Igor Berezin, kein Visum, um an der Buchmesse teilzunehmen. Der Stand des „Bayrischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland“ (BKDR) in Halle 4 gehörte neben dem der “Deutschen Autoren aus Russland“ zu den wenigen russischen Spuren. Dort präsentierte Artur Böpple unter anderem das Buch „Die Republik der Wolgadeutschen“ des Historikers Arkadi German. Im Gespräch berichtete Böpple, es komme immer vor, dass Menschen, die nicht wissen, wer die Russlanddeutschen sind, sie als „Putin-Versteher“ bezeichneten.

Seltene Gegenstimmen

Es gab auch einzelne Gegenstimmen zum antirussischen Tenor auf der Messe. So war unter den österreichischen Verlagen in Leipzig der Promedia-Verlag aus Wien. „Kriegsfolgen – Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert“ heißt eines seiner aktuellen Bücher. Herausgeber Hannes Hofbauer stellte es gemeinsam mit Medienwissenschaftlerin und Mitautorin Sabine Schiffer am Samstag vor.

Schiffer setzt sich in ihrem Buchbeitrag mit dem „Narrativ von den Guten und Bösen“ auseinander. In Leipzig zitierte sie daraus unter anderem die Grundsätze der Kriegspropaganda von Arthur Ponsonby, von der belgischen Historikerin Anne Morelli zu zehn Thesen zusammengefasst: „1. Wir wollen den Krieg nicht. 2. Das gegnerische Lager trägt die Verantwortung. 3. Der Führer des Gegners ist ein Teufel. 4. Wir kämpfen für eine gute Sache. 5. Der Gegner kämpft mit unerlaubten Waffen. 6. Der Gegner begeht mit Absicht Grausamkeiten, wir nur versehentlich. 7. Unsere Verluste sind gering, die des Gegners sind enorm. 8. Künstler und Intellektuelle unterstützen unsere Sache. 9. Unsere Mission ist heilig. 10. Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter.“

Es klang wie eine Kurzzusammenfassung all dessen, was sich auch auf der diesjährigen Buchmesse zeigte. Die Autorin sagte außerdem, dass sie als Propagandaforscherin die „Zeitenwende“ bereits im Jahr 1999 ausmacht, als die NATO – einschließlich der Bundeswehr – Jugoslawien angriff und bombardierte, um angeblich die Unabhängigkeit des Kosovo zu sichern. „Ich sage seitdem immer, dass wir uns ganz aktuell im Jahr 24 der Neuen Weltkriegsordnung befinden“, so die Medienwissenschaftlerin.

Kaum beachtet hatte am Vortag mit dem ehemaligen Generalinspekteur der Bundeswehr, Hans-Peter von Kirchbach, einer der Verantwortlichen für den damaligen ersten deutschen Kriegseinsatz nach 1945 seine Autobiographie („Herz an der Angel“) vorgestellt. Er war von 1999 bis 2000 der oberste Bundeswehr-Militär. Für ihn geht es heute wieder darum, „im Rahmen des NATO-Bündnisses unser Land zu verteidigen“. Im Interview erklärte er, es komme wieder darauf an, „deutlich abzuschrecken“ – weil „der Wille Russlands, über die eigenen Grenzen hinaus zu greifen, durchaus noch vorhanden ist“. Nur so könne der Frieden gesichert werden, meinte von Kirchbach. Den NATO-Krieg gegen Jugoslawien vor 24 Jahren hält er noch heute für richtig und gerechtfertigt, sagte er auf Nachfrage.

Eine andere Gegenstimme präsentierte der Journalist Arnold Schölzel am Samstag am Stand der Tageszeitung „junge Welt“ in Halle 5. Dort stellte er das gemeinsam mit Reinhard Lauterbach veröffentlichte Buch „Der Schwarze Kanal. Ukraine-Feldzug deutscher Medien 2014 – 2022“ vor. Es versammelt die Kolumnen der beiden Autoren in der Zeitung aus den letzten acht Jahren. „Man hat etwas in Gang gesetzt, wovor hier gewarnt wird“, so Schölzel über die Texte im Buch. „Ein Krieg, ein offener Krieg des Westens, der NATO gegen Russland ist lange vorbereitet“, fügte er hinzu. „Ich bin selbst überrascht gewesen, als ich diese Sachen jetzt wieder gelesen habe. Es hat sich vor acht Jahren abgezeichnet, man konnte die Anfänge damals schon erleben.“ Schölzel erinnerte auch an die ignorierten Warnungen des US-Politikers George F. Kennan aus dem Jahr 1997 vor den schweren und politischen Folgen der NATO-Osterweiterung.

Beängstigender Eindruck

Angela Merkel war auch auf der Buchmesse beziehungsweise trat bei „Leipzig liest“ auf. Dabei soll ihre Autobiographie erst im Herbst 2024 erscheinen. Merkel sprach am Samstagabend auf einer lange vorher ausverkauften Veranstaltung in Leipzigs Zentrum mit dem Chefredakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“, Giovanni di Lorenzo. Sie blickte zwar auf ihre politische Laufbahn zurück, wollte aber nicht über Fehler dabei reden, berichtete unter anderem die Nachrichtenagentur DPA.

Merkel habe auch ihre Russland-Politik und die energiepolitischen Entscheidungen verteidigt: „Ich hätte lieber Gas importiert aus Großbritannien und Norwegen, wie wir das früher gemacht haben, und den Niederlanden. Die standen aber nicht mehr zur Verfügung. Für uns stand die Frage: Teureres LNG – ein Drittel teurer – oder billigeres russisches Gas.“ Mit Blick auf den Konflikt in und um die Ukraine sprach sie sich den Berichten nach dagegen aus, jene „gleich niederzuzischen“, die sich für Verhandlungen aussprechen. „Das sind nicht immer alles Leute, die nur Putin nach dem Mund reden“, sagte die Ex-Kanzlerin laut DPA.

So kam auch diese Veranstaltung nicht um die antirussische Stimmung drumherum, die wie ein dämonischer Nebel durch die Gänge, Hallen und Veranstaltungsorte waberte. Es bleibt der Eindruck, dass neben aller Unterhaltung leider statt Verständigung und Dialog vorrangig Hass und Abschottung gegen Russland auf dem diesjährigen Buchmesse-Programm standen. Vielleicht haben deshalb russische Verlage sich nicht angemeldet, weil das absehbar war. „Wenn Du die Russen als Freunde gewinnst, bleiben sie das für immer“, erklärte eine ostdeutsche frühere Russisch-Lehrerin bei einem Kaffee in einer der Messehallen. „Das gilt aber auch, wenn Du sie Dir zum Feind machst“, warnte sie.


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