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Titel: Der bittere Befund: Auch Rot und Grün und viele Medien kleben an der Agenda 2010 und den dahinter steckenden neoliberalen Vorstellungen

Datum: 26. Oktober 2011 um 16:50 Uhr
Rubrik: Agenda 2010, DIE LINKE, SPD
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Dieser Befund ist nicht unbedingt neu. Aber man gibt sich – auch ich gebe mich – gelegentlich der Hoffnung hin, unter dem Eindruck des offensichtlichen Scheiterns der neoliberalen Theorie würden sich zumindest Rot und Grün und einige Medien eines Besseren besinnen. Das ist leider nicht der Fall. Die aggressive Reaktion auf das Grundsatzprogramm der Linken ist ein aktueller Beleg dafür. Die programmatischen Festlegungen der Linken sind in wichtigen Teilen ein Spiegel, den die Linkspartei der SPD und den Grünen hinhält. Sie erkennen darin, dass sie wichtige und richtige eigene Positionen verlassen und verraten haben. Deshalb die Aggression. Albrecht Müller.

Belege dafür, dass sich leider nichts bewegt – beispielhaft bei der SPD.

  1. Nach wie vor Bekenntnisse zu Schröders Agenda 2010
    Wenn man wie ich in der vergangenen Woche an Veranstaltungen mit vielen Sozialdemokraten und mit Spitzenpolitikern der SPD als Redner teilnimmt, dann bekommt man fast schon klischeehaft zu hören, an der Agenda 2010 sei nicht alles falsch gewesen, sie sei im Kern richtig und außerdem sei sie ein Erfolg. Bei solchen Reden klatschen sogar Gewerkschafter, auch solche, die aus ihrer eigenen Erfahrung wissen müssten, was die so genannten Arbeitsmarktreformen angerichtet haben: den extremen Zuwachs der Leiharbeit und der prekären Arbeitsverhältnisse, die Zerstörung einer funktionierenden Arbeitslosenversicherung, usw. – Diese Zumutungen werden dann zu guter Letzt auch noch als Erfolg der Agenda 2010 gefeiert.
    Offenbar liegt hier ein psychisches Problem vor. Viele haben der Agenda 2010 unter dem Eindruck der Propaganda von Schröder und der neoliberalen Lobby zugestimmt und kleben jetzt an dieser Zustimmung. Das ist die Überwindung der kognitiven Dissonanz. Sie wissen, dass sie unrecht haben, aber sie können das nicht zugeben.
    Ich würde diesen meinen Eindruck ja gerne korrigieren, aber ich sehe nicht, wo sich SPD, Grüne und die Mehrheit der Medien von der neoliberalen Politik und ihren Fehlern wirklich lösen.
  2. Offenbar nach wie vor enge Verflechtung mit der Finanzwirtschaft. Es geschieht nichts Entscheidendes gegen die Spekulanten und die Spekulation.
    Um die Radikalität des Grundsatzprogramms der Linken zu charakterisieren, wurde in den Tagesthemen vor ein paar Tagen empört berichtet, die Linken seien sogar gegen die Börsen. Dieser Einwurf ist interessant, weil der Trend sichtbar wird, dass bei den Medien, im konkreten Fall bei den Tagesthemen, nicht der Funke eines Gedankens darüber angestellt wird, ob die Börsen mit ihrem von Spekulation angetriebenen Auf und Ab wirklich sinnvolle Einrichtungen sind.
    In einem Beitrag vom 7.1.2009 habe ich auf die Dimension der Spekulation an den Aktienbörsen seit ungefähr 1982 hingewiesen. Die zwei- und inzwischen dreimalige Vervierfachung der Kurse und der anschließenden Zusammenbruch sind nicht Ausdruck realer wirtschaftlicher Veränderungen sondern Ausdruck einer zügellosen Spekulation. Jetzt erleben wir im Falle der Finanzkrise in Griechenland und in anderen europäischen Ländern, wie wir für diese Spekulation und die Profiteure der Spekulation bluten müssen. Es gäbe also unmittelbar aktuelle Anlässe, darüber nachzudenken, ob wir uns weiterhin von solchen Spekulationen abhängig machen lassen sollten. Das geschieht nicht. Stattdessen empört man sich, wenn eine Partei wie Die Linke damit beginnt, dagegen Front zu machen.
    Bei der gesamten Rettungsaktion wird auch von Seiten von SPD und Grünen nicht darauf gepocht, die Spekulation einzudämmen. Das Entscheidende: Es ist nichts geschehen, um sich zur Rettung der Finanznot in Griechenland und anderen europäischen Ländern aus der Gefangenschaft der so genannten Märkte, was man ruhig auch Spekulanten nennen könnte, zu befreien.

    Und auch ansonsten geschieht nichts, um den Spekulanten ihre Geschäfte zu erschweren:

    • Nach wie vor sind Hedgefonds in Deutschland zugelassen und sie genießen wie andere Akteure auf den Finanzmärkten Privilegien.
    • Insbesondere: Nach wie vor ist die zum 1.1.2002 eingeführte Befreiung der Gewinne beim Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen von der Besteuerung in Kraft. Das ist eine Förderung der Spekulation.
    • Nach wie vor ist damit Schröders spekulationsfördernde Parole von der Auflösung der Deutschland AG wirksam. Nach wie vor werden bei uns Unternehmen, auch sehr gesunde Unternehmen, von Hedgefonds und anderen Finanzgruppen mit einer geringen eigenen finanziellen Beteiligung aufgekauft, verschuldet, ausgeplündert und notfalls aufgeteilt und weiter verkauft.
    • Die Bundesregierung hat nichts Entscheidendes zur Regulierung der Finanzmärkte getan. Dass nichts geschieht, ist auch kein Wunder: Frau Merkel hat den Berater von Goldman Sachs Ottmar Issing zum Vorsitzenden der Kommission gemacht, die solche Regulierungsvorschläge ausarbeiten soll. Rot und auch Grün zerren diese Abhängigkeit der Bundesregierung nicht ans Licht.

    Wenn SPD und Grüne eine wirksame oppositionelle Gruppierung wären, dann müssten sie eindeutig gegen die Spekulation Position beziehen. Das tun sie nicht, weil auch sie eng mit der Finanzindustrie verbunden sind. Das kann man schon daran sehen, dass der Förderer der Spekulation Steinbrück in die obersten Ränge der SPD Führung aufgenommen worden ist, ohne dorthin gewählt zu sein, und jetzt auch noch auf dem besten Weg ist, Kanzlerkandidat der SPD zu werden.
    Steinbrück hat, wie wir schon oft belegt haben, den Spekulanten den Finanzplatz Deutschland weiter geöffnet, nach dem schon sein Vorgänger Eichel und davor schon Helmut Kohl damit begonnen hatten.
    Beim Grad der Abhängigkeit von der Finanzindustrie gibt es vermutlich allenfalls einen graduellen Unterschied zwischen SPD (und Grünen) auf der einen Seite und Schwarz-Gelb auf der andern Seite.

    Die Verbundenheit mit der Finanzwirtschaft hat vermutlich nicht nur den Hintergrund, dass es finanzielle Verbindungen gibt, offensichtlich gab es darüber hinaus in der SPD Führung Personen, die das Märchen von der besonderen Produktivität des Finanzsektors glaubten. Ich traute meinen Ohren zunächst nicht, als Hubertus Heil, immerhin stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD und zuständig für Wirtschaft und von 2005-2009 Generalsekretär der SPD in einem Vortrag davon berichtete, dass man in der SPD Führung beeindruckt gewesen sei von den Erfolgen des irischen Tigers auf den Finanzmärkten und deshalb den „Finanzplatz Deutschland“ ausbauen wollte. Ich traute meinen Ohren nicht, weil ich nicht glauben konnte, dass erwachsene Menschen das Märchen vom irischen Tiger glaubten, dass erwachsene Menschen glauben, wenn auf den Finanzmärkten durch Spekulation riesige Gewinne erzielt und dann als Boni und Vergütungen verteilt würden, dann würde irgendwelche volkswirtschaftlich bedeutsame Wertschöpfung stattfinden. Dass die SPD Führung einmal ernsthaft daran geglaubt hat, die Entscheidung ihrer Finanzminister Eichel und Steinbrück, den Finanzplatz Deutschland auszubauen, habe irgend eine positive volkswirtschaftliche oder politische Bedeutung, muss jeden einigermaßen denkfähigen Menschen erschüttern.
    Wir haben solche Leute an der Spitze unseres Staates. Wir haben solche Leute an der Spitze wichtiger Parteien wie der SPD. Da ist es wirklich kein Wunder, dass gegen Spekulation nichts geschieht.

    Das ist der entscheidende Fehler auch in der aktuellen Situation.
    Europa muss sich aus den Klammern der Spekulanten befreien. Aber mit den zur Zeit in den etablierten Parteien herrschenden Kräften wird das nicht möglich sein. Das ist der bittere Befund.

  3. Prozyklische Sparpolitik
    Die heutigen Oppositionsparteien SPD und Grüne hegen wie auch die Regierenden die irrige Vorstellung, man könne als Volkswirtschaft sparen, wenn man als Finanzminister oder Bundesregierung oder als griechische Regierung dies wolle. Sie haben den Wahnsinn mit der Schuldenbremse mitgemacht und sie sind mitverantwortlich für die vorhersehbare Katastrophe in Griechenland. Dass diesem Land eine prozyklische Sparpolitik aufgezwungen wurde, dass man dieses Land zu Sozialeinschnitten und so genannten Reformen und zu fiskalischen Sparmaßnahmen zwang, obwohl man hätte wissen müssen, dass dies nicht zum Erfolg führt, ist ein brutaler Skandal.
    Auch die Oppositionsparteien haben sich nicht befreit von der gängigen Meinungsmache. Mit Steinbrück ist einer in die Spitze eingerückt, der erst im November 2008 und zeitlich nach der Unionsführung gemerkt hat, dass man antizyklisch handeln und die Konjunktur ankurbeln muss, wenn sich eine Verschärfung der Rezession abzeichnet.
    Typisch für den Einfluss der herrschenden Sparabsichtslehre ist das, was ich heute in meiner Regionalzeitung zum Doppelhaushalt der Regierung Kurt Beck lese: „Beck: Weichen für Konsolidierung gestellt.“ Im Text wird von Einsparungen berichtet und auch davon, dass auch die rot-grüne Landesregierung die von der rot geführten Landesregierung installierte Schuldenbremse ohne Murren hinnimmt.
    Da ist kein Umdenken erkennbar, obwohl dies in der aktuellen Situation mit erkennbar deutlicher Rezessionsgefahr dringend notwendig wäre.
  4. Die Wichtigkeit steigender Löhne wird nicht erkannt.
    Die SPD als frühere Arbeitnehmerpartei hätte es als einen Glücksfall betrachten können, dass eines der wichtigen Instrumente zur Rettung der Eurozone steigende Löhne sind. Die Lohnstückkosten der einzelnen Staaten im Euro Raum müssen sich wieder aneinander annähern. D.h. für uns: die Löhne müssen steigen. Welch ein Geschenk für eine Arbeitnehmerpartei. Und was hat sie daraus gemacht? Wo sind die Forderungen der Sozialdemokraten und der Grünen nach besseren Tarifabschlüssen? Allenfalls verzagt meldet man sich zu Wort. Wo sind vor allem die Forderungen nach einem Abbau des Niedriglohnsektors? Nur mühsam hat man sich dazu durchgerungen, Mindestlöhne gut zu finden. Als man in der Zeit von Rot-Grün die politische Macht hatte, diese durchzusetzen, hat man sie nicht ergriffen.
  5. Keine Abkehr von der Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme
    Zur Zeit wird auf allen Kanälen für die Riester-Rente geworben. Es wird zum zehnjährigen Bestehen dieses Schlages gegen die gesetzliche Rente wahrheitswidrig behauptet, dass die Riester-Rente eine sinnvolle Vorsorge fürs Alter sei. Gerade das zehn jährige Bestehen dieser falschen Weichenstellung wäre eine gute Gelegenheit gewesen, diesen Wahnsinn zu revidieren. Nichts davon. Innerhalb der SPD haben offensichtlich jene Kräfte das Sagen, die wie Riester, Schröder und Rürup mit den Maschmeyers dieser Welt verbunden sind – emotional und finanziell. Siehe auch hier.
  6. Fortsetzung der Privatisierung
    Auf kommunaler Ebene wird an verschiedenen Ecken der Republik damit begonnen, unsinnige Privatisierungen öffentlicher Einrichtungen wie zum Beispiel von Stadtwerken zu korrigieren. Man würde sich wünschen, die SPD würde sich bundesweit zum Wortführer der Re-Kommunalisierung machen. Fehlanzeige.
  7. In der Personalpolitik der SPD dominieren die neoliberal geprägten Kräfte
    Das führende Trio besteht aus Steinmeier, Gabriel und Steinbrück. Das sind durchgängig Schröder-Leute. Und Steinbrück hat beste Chancen, der Kanzlerkandidat der SPD zu werden. Siehe auch hier.
  8. Militäreinsätze ja, kein kritisches Wort zur NATO
    Das Desaster in Afghanistan und die Ankündigung der USA, ihr Engagement aufzugeben, wäre eine ausgezeichnete Gelegenheit zur Korrektur des falsch eingeschlagenen Weges von SPD und Grünen.
    Der brutale und offensichtlich von Interessen geprägte Einsatz der NATO in Libyen wäre eine zweite gute Gelegenheit zur Korrektur.
    Stattdessen wird genau an diesem Thema der besondere Bruch zur Linkspartei aufgemacht, konstruiert.
    An dieser Stelle ist es angebracht, aus dem Berliner Grundsatzprogramm der SPD vom 20. Dezember 1989 zu zitieren. Der Beschluss liegt gerade mal 21 Jahre zurück und war nach dem Fall der Mauer gefasst worden. Hier ein paar einschlägige Zitate und Kommentare:

    „Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen. …
    Der Umbruch in Osteuropa verringert die militärische und erhöht die politische Bedeutung der Bündnisse und weist ihnen eine neue Funktion zu: Sie müssen, bei Wahrung der Stabilität, ihre Auflösung und den Übergang zu einer europäischen Friedensordnung organisieren. Dies eröffnet auch die Perspektive für das Ende der Stationierung amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte außerhalb ihrer Territorien in Europa.“

    Auch die SPD wollte also einmal das Ende der NATO. Dies zu wollen war und ist ganz und gar nicht unvernünftig. Auch heute ist es nicht vernünftig, dieses ursprüngliche Verteidigungsbündnis für allerlei militärische Interventionen in der Welt zu gebrauchen. Die Erfahrungen mit Afghanistan und des Verhaltens der NATO im Libyen-Krieg wären eine gute Gelegenheit für SPD und Grüne, sich eines Besseren zu besinnen und die Vorherrschaft der Politik gegenüber dem Militärischen durchzusetzen.
    Es ist so offensichtlich, dass die NATO unter der Führung konservativer bis reaktionärer Kräfte in Frankreich, Großbritannien und Dänemark in eine falsche Richtung gebracht wird. Statt diese Gefahr zu erkennen und die Chance zur Korrektur zu ergreifen, polemisiert vor allem die SPD Spitze gegen die Linkspartei. Rational kann man das nicht erklären. Offenbar kann es die SPD Führung nicht ertragen, im Spiegel der Linkspartei ihre eigenen Fehlentscheidungen zu erkennen.

Die Neoliberalen erhöhen ihre Schlagzahl
Dass SPD und Grüne sich bisher nicht zu einer grundlegenden Korrektur der Agendapolitik verstehen können, ist hoch problematisch. Es nimmt uns Wählerinnen und Wählern die politische Alternative. Wir haben leider keine echte Wahl.
Die Lage wird noch schwieriger dadurch, dass erstens die Agitatoren der neoliberalen Bewegung die heutige Krise benutzen, um ihr Scheitern zu übertünchen. Die Aggression des Hans Olaf Henkel gegen den Euro sind ein Symbol dafür. Sie wird zweitens noch schwieriger dadurch, dass die Profiteure der neoliberal geprägten Entscheidungen immer weiter Fakten schaffen. Die schon erwähnte Riester-Rente wie auch die Werbung für private Krankenkassen sind beredte Beispiele dafür. Hier werden ständig Fakten gegen die solidarischeren Systeme der Risikovorsorge geschaffen. Und dabei wird das Vertrauen in diese solidarischen Sicherungssysteme weiter ausgehöhlt.

Angesichts dieser Gefahren und des Versagens von Rot und Grün bleibt der Linkspartei keine Alternative zu einer klaren Positionsbestimmung. Das hat sie bei ihrem Parteitag in Erfurt versucht. Teilweise mit programmatischen Elementen, die auch nicht das Gelbe vom Ei sind. Aber im großen Ganzen viel vernünftiger und auch viel sozialdemokratischer als das, was uns vom Original geboten wird.


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