NachDenkSeiten – Die kritische Website

Titel: Rätselhafte SPD-Strategie. Des Rätsels Lösung: SPD-Spitze arbeitet für andere.

Datum: 3. September 2009 um 9:36 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, SPD, Wahlen
Verantwortlich:

Sie mögen dies für eine sehr gewagte Vermutung halten. Dann bleibt Ihnen als Lösung des Rätsels alternativ nur die Vermutung, dass in der SPD-Spitze nur noch Dummköpfe sitzen. Andere Erklärungen gibt es für den Niedergang dieser großen und wichtigen Partei aus meiner Sicht nicht. Albrecht Müller.

Vorweg: Dies ist eine dramatische und für unser Volk unerfreuliche Entwicklung. Denn wir bräuchten eine wirkliche politische Alternative zum neoliberal bestimmten Kurs von Union und FDP. Dies kann man ohne Parteilichkeit feststellen. Eine Alternative zu haben, ist eine ur-demokratische Regel. Ohne die SPD wird es unter heutigen Bedingungen aber keine Alternative zum rechtskonservativen Lager geben. Deshalb ist die Erkenntnis, dass die SPD-Spitze im Auftrag anderer Interessen arbeitet, so bedrückend.

Zur Begründung einige gravierende Indizien:

  1. Die SPD Führung hat in den letzten 10 Jahren ihre Kompetenz und ihr Profil in zentralen Fragen aufgegeben und damit sehenden Auges in Kauf genommen, nahezu alle Ministerpräsidenten, die Hälfte der Mitglieder und auch nahezu die Hälfte der Wähler zu verlieren. Sie hat mit Hartz IV und Agenda 2010 die soziale Kompetenz geopfert. Mit der militärischen Intervention im ehemaligen Jugoslawien und jetzt in Afghanistan gab sie ihr Image als Partei des Friedens und der Verständigung auf. Mit Schröder, Clement, Eichel und Steinbrück hat sie ihre wirtschaftspolitische Kompetenz verloren; die SPD galt einmal als Partei, die etwas von Konjunktursteuerung und aktiver Beschäftigungspolitik verstand. Die SPD hatte früher sogar einmal die Meinungsführung in Umweltfragen; sie hat auch dieses Prä – allerdings schon in den 70ern – leichtfertig verspielt und an die Grünen abgegeben.
  2. Ihre Wahlkampfstrategie stimmt nirgendwo:

    Eine Volkspartei kommt nur dann über 30% und an die notwendigen 40% heran, wenn sie breit gefächert auftritt, also sozial Engagierte und Aufsteiger, Arbeitnehmer und Freiberufler, junge und alte Menschen, solche Menschen die Solidarität brauchen und solche, die bereit sind Solidarität zu üben, anspricht. Das ist noch 1998 gut gelungen – damals sprachen der Kanzlerkandidat Schröder und der Parteivorsitzende Lafontaine verschiedene Gruppen an und banden sie zusammen. Auch 2002 war es noch einmal gelungen, die gewerkschaftlich orientierte Arbeitnehmerschaft anzusprechen, und mit der Ablehnung der offiziellen Beteiligung am Irak Krieg auch die friedenspolitisch Engagierten. Mit der Verengung des Führungspersonals auf den Agenda-Flügel um Müntefering, Steinmeier und Steinbrück hat die SPD diese notwendige Pluralität geopfert. Schon das erklärt einen Teil des Niedergangs auf wenig mehr als 20%.

    Hinzu kommt als gravierendes Element: die SPD bietet ihren Wählern keine machtpolitische Option. Steinmeier kann nicht erklären, wie und in welcher politischen Konstellation er Bundeskanzler werden will. Indem er ein Bündnis mit der Linkspartei ausgeschlossen hat, kann er keine realistische Alternative zum schwarz-gelben Bündnis bieten. Warum sollten die Wählerinnen und Wähler dann SPD wählen? Nur um die große Koalition fortzusetzen oder mit den Gelben zu koalieren? Aber wie soll das funktionieren? Es ist doch völlig unglaubwürdig, dass die Steinmeier-Müntefering-Steinbrück-SPD stärker wird als Angela Merkels Union.

    Oder glaubt Steinmeier ernsthaft, er könne eine Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und der FDP zimmern? Wie soll das denn gehen, wenn die FDP sich eindeutig auf Schwarzgelb festgelegt hat? Steinmeiers Werben um die FDP passt auch nicht zur agitatorischen Linie, an die sich die SPD-Spitze jetzt klammert: es gehe darum, Schwarz-gelb zu verhindern. Wenn diese Kombination so schlimm ist, was ich auch so sehe, dann kann man doch aber nicht glaubwürdig zugleich die Fortsetzung von Schwarzrot wie auch ein Bündnis mit der FDP für inhaltlich erstrebenswert halten. Wenn man als SPD- Spitze die Wahlentscheidung am 27. September zu einer Richtungswahl erklärt, dann darf man doch nicht gleichzeitig genau um diese beiden Gegner werben? Dann muss man doch ein Bündnis für die andere Richtung wenigstens möglich machen und anbieten?

    Darüber hinaus gibt es eine Reihe anderer Wahlkampffehler, die man rational nicht erklären kann. Mit Dummheit alleine aber eben auch nicht. (Siehe dazu unten ein Link zu einer Kolumne von mir in der FTD und einem Interview mit dem SWR)

  3. Schon die Verkürzung der Legislaturperiode und damit der sozialdemokratischen Kanzlerschaft im Jahr 2005 war rational nicht zu verstehen. Müntefering und mit ihm Gerhard Schröder haben der SPD ein Jahr Kanzlerschaft gestohlen und mit der Verkürzung der Legislaturperiode auch die Chance für die Fortsetzung der Arbeit nach den Wahl verschlechtert. Auch aus der Sicht des Jahres 2005 wäre es 2006 leichter gewesen, bei einer absehbar verbesserten wirtschaftlichen Lage die Wahl gegen Angela Merkel zu gewinnen. Der Abbruch und das Neuwahlbegehren bleiben aus der Sicht von sozialdemokratischen Gestaltungsinteressen rätselhaft. Man versteht den damaligen Abbruch letztlich nur, wenn man annimmt, Müntefering als Initiator und Schröder als Mitziehender hatten nicht zu allererst die sozialdemokratische Gestaltungsmacht, sondern die Rettung der Agenda 2010 zum Ziel. In wessen Interessen war dies?
  4. Auch das seltsame Verhalten in Thüringen ist nicht zu erklären, wenn man unterstellt, die SPD-Führung in Berlin und in Erfurt würde von sozialdemokratischen Vorstellungen geleitet. Wenn es wirklich um Inhalte ginge, wenn es um die politische Richtung ginge, dann müsste man dort das Selbstverständliche tun und nicht auf kindische Weise als kleinerer Partner den Posten des Ministerpräsidenten verlangen. Schon die Anlage des Falles Thüringen mit vorheriger Festlegung, den Spitzenkandidaten der Linken nicht zu wählen, ist so merkwürdig, dass man am Verstand dieser Parteiführung zweifeln oder eben anderes vermuten muss. Siehe dazu auch Einlassungen von Steinmeier im DLF Anlage 2.

Die Strategie der SPD-Führung insgesamt stimmt hinten und vorne nicht und wird, wenn nichts geändert wird, zu einer dramatischen Niederlage führen, die ähnlich wie in anderen westeuropäischen Ländern zu einer gefährlichen Erosion der sozialdemokratischen Partei insgesamt führen kann. Unter 30 % für eine Volkspartei, das geht an den Nerv der Existenz.

Kann man diese Entwicklung mit Dummheit der Führungspersonen erklären? Meines Erachtens nicht mehr. Ich habe in meinem eng mit der SPD verbundenen politischen Leben schon häufig beobachtet, wie außenstehende Interessen Teile der SPD- Führungsgruppe bestimmt haben (das gilt auch für andere Parteien). In den letzten Jahren hat sich aus meiner Sicht dieser Einfluss verstärkt: die USA bestimmen wesentlich die außen- und sicherheitspolitische Linie; die Finanzwirtschaft hat offensichtlich großen Einfluss auf die gesellschaftspolitischen Vorstellungen: pro private Altersvorsorge, pro Privatisierung, für Deregulierung. Die Vorstellungen der neoliberalen Ideologie reichen weit hinein in die SPD-Spitze. Auch hier gilt, dass der Einfluss auf andere wie Union und FDP nicht kleiner, sondern größer ist. Aber diese Feststellung ist kein Trost, weil es hier ja genau um die Frage geht, ob die SPD noch den Kern einer politischen Alternative zu den Rechtskonservativen bieten kann. Das kann sie offensichtlich nicht, weil die SPD-Spitze dies nicht will.

Die Vermutung, dass die SPD-Spitze heute wesentlich von außen bestimmt und deshalb nicht fähig ist zu einer Strategie, die zu einem Wahlerfolg führen könnte, will ich niemandem aufschwätzen. Aber ich möchte dazu anregen, über die skizzierten Rätsel nachzudenken. Wenn Sie beruhigendere Lösungen finden, dann gilt Ihnen mein Respekt.

Ich habe meine Vermutungen in einer Kolumne für die Financial Times Deutschland und in einem Interview für den Südwestrundfunk formuliert. Hier ist der Link zum Artikel der FTD als PDF [3,5 MB] bzw. direkt bei ftd.de.

Und hier zum SWR:

SWR Blickpunkt [Podcast]
SWR Blickpunkt 31.08.2009 [Mp3 – 6.3 MB]

Mit meiner Vermutung über die Hintergründe der Strategie der SPD stehe ich nicht alleine. Von mehreren sachkundigen Gesprächspartnern weiß ich, dass sie zu ähnlichen Lösungen dieses Rätsels kommen. Ein Leser der NachDenkSeiten schickte am 24. August eine Mail und dann noch einmal einen Nachtrag mit einer Analyse und ähnlicher Schlussfolgerung. Weil dieser Beitrag von Joachim Benecke obendrein gut formuliert ist, bringe ich ihn in Anlage 1 zur Kenntnis.

Was wäre zu tun, wenn die SPD Führung nicht fremdbestimmt wäre und den gefährlichen Niedergang dieser großen Partei vermeiden wollte:

Es ist in der jetzigen Situation und dreieinhalb Wochen vor der Wahl nicht leicht, das Ruder herumzureißen. Aber ungewöhnliche Umstände und ungewöhnliche Gefahren verlangen – neben einer besseren Wahlkampfführung – auch ungewöhnliche Lösungen. Ich will diese andeuten:

  1. Wenn der SPD-Vorsitzende Müntefering mit Zustimmung der engeren Führung öffentlich den 1999 und verstärkt 2003 begonnenen Weg der Agenda-Reformen selbstkritisch bilanzieren und Fehler bedauern würde, dann wäre dies ein Signal. Wenn er eine Kurskorrektur ankündigen würde, dann würden viele früheren sozialdemokratischen Wähler wieder Hoffnung schöpfen. Selbst wenn er nur ankündigen würde, die SPD und insbesondere er persönlich bedaure die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre, dann würde das schon Hoffnung wecken. – Müntefering könnte der umfassenden oder auch nur der teilweisen Kurskorrektur noch eine besondere Glaubwürdigkeit vermitteln, wenn er die persönliche Verantwortung übernähme und seinen Rücktritt als Vorsitzender der SPD ankündigen würde. Er hat offensichtlich ohnehin keine Zugkraft mehr.
  2. Die SPD könnte ihre Position in der Wahlauseinandersetzung weiter gravierend stärken, wenn Steinbrück öffentlich seine und der Bundesregierung Fehler vor und während der Behandlung der Finanzkrise einräumen würde. Steinbrück müsste erklären, dass es ein gravierender Fehler war den Finanzsektor zu deregulieren und „Heuschrecken“ ins Land zu locken und danach Hunderte von Milliarden zur Rettung von Banken wie der IKB und der HRE zur Verfügung zu stellen. Dieses Schuldbekenntnis alleine würde der SPD noch nicht viel helfen. Der Bundesfinanzminister und stellvertretende Vorsitzende der SPD könnte seiner Partei jedoch ergänzend einen sehr großen Dienst erweisen, wenn er von heute bis zum Wahltermin offen legen würde, wie sehr außer ihm vor allen die Bundeskanzlerin mit der Finanzwirtschaft verstrickt ist und wie hoch ihre Verantwortung für die Milliarden Schulden ist, die uns die Bundesregierung mit ihrer Großzügigkeit für die Finanzwirtschaft aufgebürdet hat. Dann würde endlich in diesem Wahlkampf über ein zentrales Thema gesprochen.
  3. Die SPD Spitze müsste erklären, dass ihre Festlegung gegen eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei falsch war und ist. Diese Korrektur wäre zwar nicht leicht zu kommunizieren, aber sie wäre eindeutig die beste von den vorhandenen schlechten Lösungen. (Manchmal steht man in der Politik nur vor schlechten Alternativen.) In der jetzigen Situation wird die SPD von Union und FDP vor sich her getrieben. In den Ländern Ja, im Bund Nein – das ist eine so unbegreifliche Position, dass schon deshalb jede andere Lösung besser ist.

Mit diesen drei Schachzügen wäre der Wahlkampf neu eröffnet. Es gäbe viel Kritik an dieser Kurskorrektur. Aber es würde endlich klar, dass die SPD eine wirkliche Richtungswahl will und dass sie auch eine Machtoption anstrebt. Viel schlechter als jetzt, kann es ohnehin nicht mehr werden.

Wir werden erleben, dass die jetzige SPD-Führung nichts davon und auch nichts Ähnliches zur Rettung vor einer voraussehbar schlimmen Niederlage realisiert. Sie wird uns weiter erzählen, es sei noch alles drin, sie wird weiter vor Schwarzgelb warnen, ohne eine Alternative sichtbar zu machen. Allein dieses unglaubwürdige und starrsinnige Verhalten angesichts des erkennbaren Desasters ist ein weiteres Indiz für die Vermutung, dass die SPD von außen gesteuert und fremdbestimmt ist.

Wenn Sie die hier skizzierten Vermutungen für schlüssig oder auch nur diskussionswürdig halten,
dann geben Sie diesen Text bitte weiter

  • über ihren E-Mail-Verteiler und auf Papier. Und ganz besonders an Sozialdemokraten und sozialdemokratische Wähler.
  • Sprechen Sie bitte Ihre sozialdemokratischen Bundestagskandidaten und Mandatsträger an. Machen Sie diese bitte auf die existenzielle Gefahr und die möglichen Lösungen aufmerksam.
  • Da die Gefahr besteht, dass selbst bei am 27. September verlorener Wahl von der SPD-Führung das Ergebnis wie am vergangenen Sonntag schön geredet wird, drängen Sie bitte jetzt schon bei ihren SPD-Kandidaten, Abgeordneten und SPD-Funktionären darauf, dass die jetzige Führung wenigstens dann zur Rechenschaft gezogen und abgelöst wird.

Anlage 1

Joachim Benecke Mail vom 24.8.09 an Redaktion NachDenkSeiten

Sehr geehrte Damen und Herren,

im Rückblick auf das Verhalten der SPD der letzten 10 Jahre ist mir der (zugegebenermaßen) gewagte Gedanke gekommen, dass der in- und externe Niedergang der Partei durchaus strategisch geplant gewesen sein könnte. Als Grundlage dieses Gedanken diente mir die simple Frage, wie all die (völlig destruktiven) Vorgänge um die SPD der letzten Jahre einen Sinn ergeben könnten. Denn seien wir doch mal ehrlich: kein Politiker, der sich dem Programm seiner eigenen Partei und seiner Wähler verbunden fühlt, würde sich so verhalten, wie es die Spitzenpolitiker der SPD in den letzten Jahren getan haben – es sei denn…

Es sei denn, er wäre – aus welchen Gründen auch immer (allzu viele gibt es ja hier nicht) quasi ein “trojanisches Pferd” der Gegenpartei oder schlicht durch Interessenverbände gekauft.
Unter welchem anderen Aspekt macht diese starrsinnige, absolut lernresistente SPD-Politik überhaupt einen Sinn? Ausschließen dürfte man sicherlich die Möglichkeit der schlichten Dummheit. Wenn aber nun clevere Strategen (aus welcher Ecke sie auch immer gekommen sein mögen) auf die noch cleverere Idee gekommen wären, die SPD mittels ihrer Führungsebene aus sich selbst heraus zu zerstören – und zwar auf Dauer -, so könnte man heute mit ziemlicher Sicherheit behaupten, sie hätten dieses Ziel erreicht.

Nur gesetzt den Fall, Schröder, Clement, Steinbrück, Müntefering und Steinmeier (und vermutlich noch ein paar andere) wären korrupt genug, sich dafür anzubieten, die SPD für die nächsten 20 Jahre politisch zu zerstören, hätten bestimme Interessensgruppen gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: sie hätten ihre eigenen Ziele (die der SPD angelastet werden) erreicht und gleichzeitig die (ehemalige) Partei der Arbeitnehmer über viele Jahre hinweg diskreditiert und damit ausgeschaltet – was die Fortführung ihrer eigenen Pläne garantiert.

Das derzeitige Wahlkampfverhalten der SPD wäre hier kein Rätsel mehr, sondern kalkuliert; ebenso kalkuliert wie all die verstörenden, unsinnigen und parteipolisch destruktiven Ereignisse innerhalb der SPD (ein Beispiel unter unzähligen -die bodenlos dumme (?) Wortmeldung Clements im Fall Ypsilanti bei der Hessenwahl).

Wer eine Handlungsanleitung braucht, wie man eine Partei auf Dauer nicht mehr mehrheitsfähig macht, kann sich nun ein Beispiel an der Politik der SPD der letzen 10 Jahre nehmen. So wird’s gemacht. Die mich beunruhigende Frage ist letzten Endes aber immer noch da: Von wem?

War es wirklich nur Naivität oder Dummheit oder Inkompetenz? Oder ist es möglich, dass tatsächlich so etwas wie eine Strategie dahintersteckt?
Das würde mir, so glaube ich, dann wirklich den letzten Rest an Schlaf rauben. Daher hoffe ich, dass es nicht so ist.
Nur…eine Logik würde sich unter dieser Perspektive aus dem Verhalten unserer SPD-Spitzen schon ergeben…

Wie gesagt, dieses Planspiel ist schon sehr gewagt.
Aber ist es unmöglich, wenn man sich den Wahnsinn der letzten Jahre genauer betrachtet?

Mit freundlichen Grüßen
Joachim Benecke

Nachtrag Joachim Benecke vom 27.8.2009:

Sehr geehrte Herr Müller,

ich komme nochmals zurück auf meine E-Mail vom 23.08.09. Zwischenzeitlich habe ich Ihr neuestes Buch erworben und auch (insbesondere nach Ihrem Hinweis) das 20. Kapitel – Fremdbestimmung – gelesen.

Unter Beachtung der Informationen aus Ihrem Buch erscheint mir meine Befürchtung (die weit über die Medienbestimmung und Lobbyistenarbeit hinaus geht) immer realistischer, und zwar aus folgenden Gründen:

  • Wenn die genannten SPD-Politiker in Wirklichkeit wissen- und willentlich CDU/FDP-Interessen vertreten, erscheint mir ihre völlig ablehnende Haltung den LINKEN gegenüber plötzlich mehr als plausibel, denn nichts könnte schädlicher aus CDU/FDP-Sicht sein als eine „Koalition des Gegengewichtes“ der SPD mit den LINKEN. Solange die SPD keine Tuchfühlung mit den LINKEN anstrebt, bleiben beide Parteien ohne relevantes Gewicht – zugunsten der Opposition. Hier wird dann auch klar, weshalb trotz der – in vielen Punkten absolut vernünftigen – Programminhalte der LINKEN (viele Punkte könnten ebenso gut aus Zeiten der SPD stammen, als es noch eine wirkliche SPD gab) keine Annäherung, sondern eine Verteufelung erfolgt.

    Sie schreiben im Kapitel 20, letzte Seite, „Denn eigentlich ist die Festlegung, dass es Koalitionen mit den Linken im Osten geben darf, im Westen und im Bund jedoch nicht, logisch nicht nachvollziehbar. Dass die SPD-Führung trotzdem an einer solch absurden Festlegung festhält und damit die eigene Partei schachmatt setzt, ist mit normalem Menschenverstand nicht zu begreifen.“. Unter der Prämisse, dass meine Befürchtung zutrifft, ist es nicht nur zu begreifen, sondern die logische und zwingende Folge. Die Mitbestimmung innerhalb der SPD trägt seit Schröder absolutistische Züge – und das ist kein Zufall, sondern Voraussetzung für das, was seit Jahren in dieser Partei geschieht. Ich gehe nicht davon aus, dass die „Oberste Kaste“ der SPD nur den Medien verpflichtet sind, sondern darüber hinaus direkt und unmittelbar „ausführende Organe“ der Opposition und Interessenverbänden.

  • Es würde auch die schäbige Art und Weise erklären, wie Beck abserviert wurde, nachdem er sich den LINKEN vorsichtig angenähert hatte (maßgebliche Abservierer: die Spitzen der „vermeintlichen“ SPD). Das war keine Anbiederung an die öffentliche Meinung mehr, das war eine gnadenlose Zertrümmerung, weil – so glaube ich – Beck eine ernsthafte Gefahr auf dem Weg, die linken Parteien zu zersplittern, darstellte.
  • Die Wortmeldung Clements bei der Hessenwahl und der dadurch verursachte innerparteiliche und öffentliche Schaden an der SPD war kalkuliert und erwünscht. Hessen war „gerettet“ (maßgeblich beteiligt: die Spitze der SPD).
  • Weshalb diese kindisch-trotzige Art des Festhaltens an der Agenda 2010, an den Privatisierungsorgien, an der fortgesetzten Zerstörung der Sozialversicherungssysteme, an der Liberalisierung des Finanzmarktes, an der Umverteilung von unten nach oben, obwohl sich längst eine Katastrophe am Horizont abzeichnet? Und was um Himmels willen hat all das überhaupt mit Sozialdemokratie zu tun?
  • Warum greift niemand aus der SPD-Spitze diese dubiose, medial erschaffene „Lichtgestalt“ von Guttenberg an? Warum wird das Thema „Linklaters“ nicht thematisiert?

Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen mit (vermutlich) wissentlicher Stümperei, (vermutlich) willentlichem Dilettantismus, falschen Versprechungen, (vermutlich) bewusst falschen politischen Entscheidungen – es dürfte kein Zufall sein, dass sämtliche Ministerien unter der Führung der SPD katastrophale Bilanzen vorweisen (Finanzministerium, Gesundheitsministerium, Verkehrsministerium, Umweltministerium) – und vermutlich ist es auch kein Zufall, dass ausgerechnet diese Ministerien so offensichtlich gegen den Willen des Volkes regieren – ein Lehrbeispiel dafür, wie in einer Demokratie eine Partei auf „moderne“ und unsichtbare Weise zerstört wird und gleichzeitig von den Verursachern die Hände in Unschuld gewaschen werden.

Nur so wird aus dieser verheerenden Politik ein passender Schuh. Diese Herren sind weder dumm, noch naiv, noch weltfremd…da bleibt als Ursache für deren zu verantwortende Politik nicht mehr viel übrig.

So überrascht es mich nun eigentlich auch nicht mehr wirklich, dass faktisch kein Wahlkampf stattfindet – höchstens ein Wahlkämpfchen mit einem katatonischen Kanzlerkandidaten. Wozu auch? Gewinnen will man nun nicht mehr, braucht man auch nicht mehr, sollte man auch nicht mehr.

Die Zeit ist reif und das Feld ist bereitet für die eigentlichen Herren, die sich nun daran machen können, den Rest zu erledigen.

Die Vorarbeit wurde im Namen der SPD und, so glaube ich (und da folge ich nur der strengen Logik, dass alles, was durch die SPD der letzten 10 Jahre gemacht und gesagt wurde, einen wirklichen Sinn macht), im Auftrag der CDU/FDP und der Industrie gründlich getan.

Mit anderen Worten: Mission accomplished, SPD-Führung.

Mit freundlichen Grüßen
Joachim Benecke

Anlage 2
Steinmeier verteidigt Regierungsanspruch der SPD in Thüringen
SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier hat den Regierungsanspruch seiner Partei in Thüringen bekräftigt. Dass Landeschef Matschie für die SPD als der drittstärksten Kraft im Land Anspruch auf den Posten des Ministerpräsidenten anmelde, sei vielleicht ungewöhnlich, aber glaubwürdig, sagte Steinmeier in mehreren Zeitungsinterviews. Schließlich habe Matschie vor der Wahl erklärt, die SPD werde den Kandidaten der Linkspartei, Ramelow, nicht zum Regierungschef wählen. Die stellvertretende SPD-Landesvorsitzende Gleicke forderte Regierungschef Althaus zum Rücktritt auf. Mit ihm an der Spitze sei eine Koalition von CDU und SPD nicht möglich, sagte sie dem “Handelsblatt”. Auch der CDU-Landtagsabgeordnete Grüner meinte in der “Thüringer Allgemeinen”, Althaus sollte zurücktreten, wenn dadurch eine schwarz-rote Regierung möglich werde.
Quelle: Deutschlandradio – Mittwoch, 02. September 2009 08:00 Uhr

Anlage 3:
Schreiner wirbt für Rot-Rot im Bund
Er gilt seit Jahrzehnten als Stimmgeber der Linken in der SPD und vehementer Gegner der Agenda-Politik unter Kanzler Schröder. Nun spricht sich Ottmar Schreiner für Links-Koalitionen auf Bundesebene aus – und bricht damit ein Tabu.
Quelle: FTD


Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/

Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=4169