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Titel: Erdogans Werk und von der Leyens Beitrag

Datum: 11. Juli 2023 um 10:30 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Europäische Union
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„Öffnet erst den Weg für den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union und dann öffnen wir den Weg für Schweden [in die NATO]“, so tönte es noch am Wochenende vollmundig aus Ankara. Keine 24 Stunden später machte Erdogan Schwedens Weg in die NATO frei, ohne dass sich ein Weg für die Türkei in die EU geöffnet hätte. Schmierentheater. Es ist auch Erdogan klar, dass die Türkei keine realistische EU-Beitrittsperspektive hat. Seltsamerweise gelten die Regeln, die der Türkei den Weg in die EU versperren, offenbar für ein anderes Land nicht. So vergeht kaum ein Tag, an dem die EU-Kommission der Ukraine nicht die Hoffnung auf einen baldigen Beitritt machen würde. Laut EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen bestehe „kein Zweifel“ daran, dass die Ukraine schon bald der EU beitreten wird. Wer die Beitrittskriterien selbst zu einer Farce macht, muss sich nicht darüber wundern, wenn sie von anderen zur Verhandlungsmasse in einem Schmierentheater gemacht werden. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Es gibt zwei Weisen, die EU zu charakterisieren. Da ist zum einen die idealisierte Weise, die sich in Sonntagsreden und in deren Selbstbeschreibung gerne in blumigen Phrasen wiederfindet. Demnach ist die EU eine Wertegemeinschaft, deren Ziele die Förderung des Friedens, der Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und vieles andere sind. Wenn man bei einer Grundsatzrede von Ursula von der Leyen für jeden dieser Begriffe fünf Euro in das Phrasenschwein werfen würde, könnte man damit einen rumänischen Wanderarbeiter bei Tönnies sicher ein Jahr lang bezahlen.

Zum anderen gibt es noch die zynisch realistische Weise, auf die man die EU beschreiben könnten – als neoliberales Konstrukt, das es kunstvoll versteht, demokratische Prozesse zum Nachteil der Allgemeinheit auszuhebeln, und das sich am Nasenring von den USA durch die geopolitische Manege ziehen lässt. Auf welche Weise Sie die EU charakterisieren, steht Ihnen selbstverständlich frei.

Egal, ob man die EU nun idealisierend oder zynisch-realistisch charakterisiert – eines steht fest: Weder die Türkei noch die Ukraine dürften eine Beitrittsperspektive haben, wenn man die EU-Verträge auch nur im Ansatz ernst nimmt. Beide Länder haben massive Demokratiedefizite, offene militärische Konflikte innerhalb ihrer Staatsgrenzen und massive Probleme mit Korruption auf allen Ebenen. Die Ukraine schneidet übrigens auf dem Korruptionswahrnehmungsindex mit Platz 116 noch schlechter ab als die Türkei, die auf Platz 101 liegt, und ist das zweitkorrupteste Land Europas – nur Russland ist noch korrupter. Sogar das Kosovo, dem aufgrund seiner korrupten Strukturen der EU-Beitrittskandidatenstatus zu Recht verwehrt wird, liegt mit seinem 84. Platz noch deutlich vor der Ukraine.

Sowohl die Türkei als auch die Ukraine weisen zudem volkswirtschaftliche Zahlen auf, die einen Beitritt zum gemeinsamen Binnenmarkt vollkommen abwegig erscheinen lassen. Dies gilt übrigens für die Ukraine noch mehr als für die Türkei. Die kam 2022 immerhin noch auf ein BIP pro Kopf in Höhe von 10.700 US-Dollar – knapp 50 Prozent weniger als Rumänien, das mit 14.850 US-Dollar das ärmste EU-Land ist. Die Ukraine kam 2021, also vor der Invasion, auf 4.830 US-Dollar und damit nicht einmal auf ein Drittel des rumänischen Wertes. Die Ukraine liegt wirtschaftlich ungefähr auf dem Niveau Guatemalas. Könnten Sie sich vorstellen, dass Deutschland, Frankreich oder Dänemark sinnvoll mit Guatemala einen gemeinsamen Binnenmarkt mit Personenverkehrsfreiheit, Warenverkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit bilden? Wohl kaum.

Dass die Ukraine im letzten Juni tatsächlich den offiziellen EU-Beitrittskandidatenstatus erhielt, ist daher auch völlig unerklärlich, wenn man die EU auf die idealistische Weise charakterisiert. In dieser idealisierten EU hätte die Ukraine aufgrund der massiven offensichtlichen Defizite auf allen nur erdenklichen Ebenen nicht die geringste Chance, jemals der EU beitreten zu können. Betrachtet man es zynisch-realistisch, sieht die Perspektive freilich anders aus. Sobald der offene Krieg mit Russland beendet ist, stellt die Ukraine mit ihren 36 Millionen Einwohnern ein neoliberales Beuteland wie aus dem Bilderbuch dar – und dies direkt vor den Grenzen der EU. Die Produktionskosten in Polen und Ungarn sind mittlerweile zu hoch? Prima! Die Ukraine liegt mit ihrem Durchschnittseinkommen von 291 US-Dollar pro Monat im internationalen Vergleich irgendwo zwischen Indonesien und Vietnam – das ist übrigens weniger als die Hälfte des türkischen Wertes. Rumänische und bulgarische LKW-Fahrer und Fleischzerleger bekommen dann also Konkurrenz – da freut sich auch der Einzelhandel, der dann wieder leckere Schnitzel für drei Euro das Kilo anbieten kann.

Das ist zynisch? Selbstverständlich ist es das. Die gesamte Diskussion über einen möglichen EU-Beitritt der Ukraine ist zynisch. Hochgradig zynisch ist es sogar, dass die EU-Kommission sämtliche Gründe, die einen EU-Beitritt der Ukraine vollkommen absurd erscheinen lassen, einfach wegwischt und stattdessen aufs Gaspedal drückt, sodass eine Vollmitgliedschaft bereits für das Jahr 2025 nicht ausgeschlossen scheint. Nur zur Erinnerung: Die Türkei ist seit 1999 offizieller Beitrittskandidat und eine EU-Mitgliedschaft der Türkei gilt – zu Recht – zurzeit auch in der langfristigen Perspektive als illusorisch. Was dem Jupiter Selenskyj erlaubt ist, ist dem Ochsen Erdogan noch lange nicht erlaubt.

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Titelbild: © European Union


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